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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die sozialdemokratische Bewegung in England

und im Vertrauen auf den isolierenden Schutz des Kanals mit einem gewissen
schadenfrohen Behagen das Umsichgreifen "der verrannten Theorien" betrachtet
und schrieb dies der eingebornen Neigung der festländischen Nationen für
ideale, unpraktische Schwärmereien zu. Da plötzlich vernimmt man in Eng¬
land selbst die wildesten Brandreden: sie ertönen in den sozialdemokratischen
Klubs und von den improvisierten Rednerbnhnen an den Straßenecken von
London. Massenhaft strömt hier das Publikum zusammen, Leute aus allen
Ständen. Zu Gewalttaten wird harcmgiert, die Armee und namentlich die
Offiziere werden verspottet, die Kapitalisten verdammt; auf die Philanthropen
wird geschimpft; die gingen nur darauf aus, mit religiösen Sprüchen die
Armen und Elenden zu chloroformieren und mit ihren Wohltätigkeitsanstalten
die Arbeiter zu Sklaven zu degradieren. Ein Jrländer im Hydepark ruft
aus: "Wo immer die englische Flagge weht, da herrscht Armut. Elend und
Sklaverei. Die Aristokraten sind der Fluch des Landes -- an den Galgen
mit ihnen!" Die überall anwesenden Konstabler stören nicht im geringsten;
sie dürfen nicht einschreiten, solange das Volk nicht dem Ruf zur offnen Revolte
folgt. Das Volk aber geht, nachdem es seine Neugier befriedigt hat, ohne viel
Lärm wieder seiner Wege. Je nach der Zuhörerschaft schlagen die Agitatoren
auch einen andern Ton an; sie Hetzen nicht, sie wollen aber mit bessern, Wissen
überzeugen. Das sind sehr gewandte und intelligente Redner; sie prunken mit
statistischen Tabellen, beantworten mit Geschick und Witz dazwischen geworfne
Fragen. Sie verstehn es, namentlich die Jugend der gebildeten Mittelklasse
für die sozialdemokratischen Umstnrzpläne zu begeistern.

Wie kommt es, so muß man sich fragen, daß solche revolutionäre
Tendenzen gerade jetzt in England zum stürmischen Ausbruch gelangen? Kein
außerordentliches Ereignis ist daran schuld, sondern allein der Umstand, daß
das seit Jahrzehnten anschwellende Elend der Arbeiterbevölkerung schließlich
das Maß des Erträglichen überschritten hat: die Löhne sind niedrig, sogar
bei gefährlicher oder gesundheitschädlicher Arbeit, die Wohnungsnot ist ent¬
setzlich, und zeitweise herrscht ein solcher Mangel an Verdienst, daß zehn
Millionen Menschen an der Grenze des Verhungerns sind. Aus der offiziellen,
Mitte Oktober erschienenen Schrift ^bsrrant ok I^tour LtMstiv c>k Urs
Unitsä Liligclom ist zu ersehen, daß seit 1900 die Löhne gesunken, die
Wohnungsmieten dagegen gestiegen sind, und daß sich die Auswandrung ver¬
doppelt hat.

Dazu kommt als schreiendster Kontrast: der goldstrotzende Reichtum und
das üppigste Wohlleben der obern Zehntausend! Kein Wunder ist es da. daß
die Deklamationen der Demagogen willige Gläubige finden, "ut daß sich
die Zahl der Sozialdemokraten täglich vermehrt. Was diese wollen, mit
welchen Mitteln sie die Lage des Volkes umzugestalten hoffen und versprechen,
das steht nicht in klaren Umrissen fest. Sie bilden keine einheitliche Korporation
mit einem einheitlichen Programm. Sie spalten sich in drei Gruppen von


Die sozialdemokratische Bewegung in England

und im Vertrauen auf den isolierenden Schutz des Kanals mit einem gewissen
schadenfrohen Behagen das Umsichgreifen „der verrannten Theorien" betrachtet
und schrieb dies der eingebornen Neigung der festländischen Nationen für
ideale, unpraktische Schwärmereien zu. Da plötzlich vernimmt man in Eng¬
land selbst die wildesten Brandreden: sie ertönen in den sozialdemokratischen
Klubs und von den improvisierten Rednerbnhnen an den Straßenecken von
London. Massenhaft strömt hier das Publikum zusammen, Leute aus allen
Ständen. Zu Gewalttaten wird harcmgiert, die Armee und namentlich die
Offiziere werden verspottet, die Kapitalisten verdammt; auf die Philanthropen
wird geschimpft; die gingen nur darauf aus, mit religiösen Sprüchen die
Armen und Elenden zu chloroformieren und mit ihren Wohltätigkeitsanstalten
die Arbeiter zu Sklaven zu degradieren. Ein Jrländer im Hydepark ruft
aus: „Wo immer die englische Flagge weht, da herrscht Armut. Elend und
Sklaverei. Die Aristokraten sind der Fluch des Landes — an den Galgen
mit ihnen!" Die überall anwesenden Konstabler stören nicht im geringsten;
sie dürfen nicht einschreiten, solange das Volk nicht dem Ruf zur offnen Revolte
folgt. Das Volk aber geht, nachdem es seine Neugier befriedigt hat, ohne viel
Lärm wieder seiner Wege. Je nach der Zuhörerschaft schlagen die Agitatoren
auch einen andern Ton an; sie Hetzen nicht, sie wollen aber mit bessern, Wissen
überzeugen. Das sind sehr gewandte und intelligente Redner; sie prunken mit
statistischen Tabellen, beantworten mit Geschick und Witz dazwischen geworfne
Fragen. Sie verstehn es, namentlich die Jugend der gebildeten Mittelklasse
für die sozialdemokratischen Umstnrzpläne zu begeistern.

Wie kommt es, so muß man sich fragen, daß solche revolutionäre
Tendenzen gerade jetzt in England zum stürmischen Ausbruch gelangen? Kein
außerordentliches Ereignis ist daran schuld, sondern allein der Umstand, daß
das seit Jahrzehnten anschwellende Elend der Arbeiterbevölkerung schließlich
das Maß des Erträglichen überschritten hat: die Löhne sind niedrig, sogar
bei gefährlicher oder gesundheitschädlicher Arbeit, die Wohnungsnot ist ent¬
setzlich, und zeitweise herrscht ein solcher Mangel an Verdienst, daß zehn
Millionen Menschen an der Grenze des Verhungerns sind. Aus der offiziellen,
Mitte Oktober erschienenen Schrift ^bsrrant ok I^tour LtMstiv c>k Urs
Unitsä Liligclom ist zu ersehen, daß seit 1900 die Löhne gesunken, die
Wohnungsmieten dagegen gestiegen sind, und daß sich die Auswandrung ver¬
doppelt hat.

Dazu kommt als schreiendster Kontrast: der goldstrotzende Reichtum und
das üppigste Wohlleben der obern Zehntausend! Kein Wunder ist es da. daß
die Deklamationen der Demagogen willige Gläubige finden, »ut daß sich
die Zahl der Sozialdemokraten täglich vermehrt. Was diese wollen, mit
welchen Mitteln sie die Lage des Volkes umzugestalten hoffen und versprechen,
das steht nicht in klaren Umrissen fest. Sie bilden keine einheitliche Korporation
mit einem einheitlichen Programm. Sie spalten sich in drei Gruppen von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/557>, abgerufen am 22.06.2024.