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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die sozialdemokratische Bewegung in England

Verschiedenartiger Schattierung: in die Loeiitl-tsinoorÄtiv I^äerAtion, die In-
clövsniZsnt Il^tour ?art^ und die ?Mg.n Looist^. Am radikalsten verfährt
die Federation, deren Führer Blatchford, Bernard shap, Ramsay Macdonald,
Phil. Snowden und Wells und deren Organ die Blätter Lila-iov, ^ustive
und Ilkldour sind: sie verwirft persönliches Eigentum und individuellen
Erwerb; sie will alle Staatsangehörigen zu gemeinsamer Arbeit verpflichten
und zu gleichen Teilen am Gewinn teilnehmen lassen. Das Programm der
I,g,d0ur I>kU't^ lautet ähnlich, fordert aber noch außerdem: Alterspensionen vom
funfzigsten Lebensjahre an, Versorgung von Witwen und Waisen, freien Unter¬
richt mit freiem Lebensunterhalt für alle Schüler, mit Einschluß der Universitäts¬
studien, Abschaffung der indirekten Steuern und des Erbrechts. Gemäßigter
in ihren Forderungen sind die Fabianer. Sie wollen zwar auch den
Kollektivismus, aber nicht einen unbeschränkten und zwangsweisen; sie ver¬
langen, daß der von den Stadtgemeinden ausgeübte Monopolismus in bezug
auf Gasfabrikation, Wasserleitung usw. auf alle industriellen Unternehmungen,
die dem Gemeinwohl förderlich sind, ausgedehnt werde. Dieser munizipale
Sozialismus soll die individualistische merkantile Konkurrenz -- ein Dorn im
Auge aller Sozialdemokraten -- aus der Welt schaffen.

Es gibt also jetzt in dem Lande der praktischen Vernunft eine Menge
Leute, die ebenso windige Luftschlösser aufbauen, ebenso die Festigkeit der
tatsächlichen Verhältnisse und die unvertilgbaren egoistischen Triebe der Menschen¬
natur verkennen wie die deutschen Sozialdemokraten vor etwa dreißig Jahren.
Demnach befindet sich der englische Sozialismus noch in den von den kon¬
tinentalen Genossen längst ausgetretnen Kinderschuhen. Im übrigen gleicht
er ihnen aufs Haar: er strebt ebenfalls mit allen möglichen Mitteln nach
bestimmenden Einfluß in der Volksvertretung, er sucht ebenfalls die mili¬
tärische Disziplin zu untergraben und verzichtet sogar in noch höherm Grade
als der deutsche auf nationales Ansehen. Bemerkte doch Lord Milner in
einer öffentlichen Rede ausdrücklich, die englischen Sozialdemokraten bekunden
ihre kosmopolitische Gesinnung, die sie als Unparteilichkeit ausgeben, dadurch,
daß sie bei internationalen Streitigkeiten jederzeit auf die Seite der Feinde
von England treten.

Dagegen ist das Verhalten der englischen Regierung und der staats¬
erhaltenden Parteien weit verschieden von dem Benehmen beider in Deutsch¬
land. Die Regierung greift gegenwärtig in keiner Weise ein, sodaß Lord
Aldwyn so weit ging, die Minister zu beschuldigen, sie leisteten durch ihre
Passivität absichtlich der revolutionären Bewegung Vorschub. Tatsächlich
überläßt die Regierung der bürgerlichen Gesellschaft allein den Kampf. Diese,
im vollen Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit, hat sich sofort aufgerafft in
den Hauptparteien des Landes, in den Whigs und Tories, und den Feldzug
begonnen. Beide sind einig in dem offnen Zugeständnis der Notlage der
Arbeiter und in dem Willen, sie möglichst zu lindern, aber zugleich auch in


Die sozialdemokratische Bewegung in England

Verschiedenartiger Schattierung: in die Loeiitl-tsinoorÄtiv I^äerAtion, die In-
clövsniZsnt Il^tour ?art^ und die ?Mg.n Looist^. Am radikalsten verfährt
die Federation, deren Führer Blatchford, Bernard shap, Ramsay Macdonald,
Phil. Snowden und Wells und deren Organ die Blätter Lila-iov, ^ustive
und Ilkldour sind: sie verwirft persönliches Eigentum und individuellen
Erwerb; sie will alle Staatsangehörigen zu gemeinsamer Arbeit verpflichten
und zu gleichen Teilen am Gewinn teilnehmen lassen. Das Programm der
I,g,d0ur I>kU't^ lautet ähnlich, fordert aber noch außerdem: Alterspensionen vom
funfzigsten Lebensjahre an, Versorgung von Witwen und Waisen, freien Unter¬
richt mit freiem Lebensunterhalt für alle Schüler, mit Einschluß der Universitäts¬
studien, Abschaffung der indirekten Steuern und des Erbrechts. Gemäßigter
in ihren Forderungen sind die Fabianer. Sie wollen zwar auch den
Kollektivismus, aber nicht einen unbeschränkten und zwangsweisen; sie ver¬
langen, daß der von den Stadtgemeinden ausgeübte Monopolismus in bezug
auf Gasfabrikation, Wasserleitung usw. auf alle industriellen Unternehmungen,
die dem Gemeinwohl förderlich sind, ausgedehnt werde. Dieser munizipale
Sozialismus soll die individualistische merkantile Konkurrenz — ein Dorn im
Auge aller Sozialdemokraten — aus der Welt schaffen.

Es gibt also jetzt in dem Lande der praktischen Vernunft eine Menge
Leute, die ebenso windige Luftschlösser aufbauen, ebenso die Festigkeit der
tatsächlichen Verhältnisse und die unvertilgbaren egoistischen Triebe der Menschen¬
natur verkennen wie die deutschen Sozialdemokraten vor etwa dreißig Jahren.
Demnach befindet sich der englische Sozialismus noch in den von den kon¬
tinentalen Genossen längst ausgetretnen Kinderschuhen. Im übrigen gleicht
er ihnen aufs Haar: er strebt ebenfalls mit allen möglichen Mitteln nach
bestimmenden Einfluß in der Volksvertretung, er sucht ebenfalls die mili¬
tärische Disziplin zu untergraben und verzichtet sogar in noch höherm Grade
als der deutsche auf nationales Ansehen. Bemerkte doch Lord Milner in
einer öffentlichen Rede ausdrücklich, die englischen Sozialdemokraten bekunden
ihre kosmopolitische Gesinnung, die sie als Unparteilichkeit ausgeben, dadurch,
daß sie bei internationalen Streitigkeiten jederzeit auf die Seite der Feinde
von England treten.

Dagegen ist das Verhalten der englischen Regierung und der staats¬
erhaltenden Parteien weit verschieden von dem Benehmen beider in Deutsch¬
land. Die Regierung greift gegenwärtig in keiner Weise ein, sodaß Lord
Aldwyn so weit ging, die Minister zu beschuldigen, sie leisteten durch ihre
Passivität absichtlich der revolutionären Bewegung Vorschub. Tatsächlich
überläßt die Regierung der bürgerlichen Gesellschaft allein den Kampf. Diese,
im vollen Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit, hat sich sofort aufgerafft in
den Hauptparteien des Landes, in den Whigs und Tories, und den Feldzug
begonnen. Beide sind einig in dem offnen Zugeständnis der Notlage der
Arbeiter und in dem Willen, sie möglichst zu lindern, aber zugleich auch in


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[0558] Die sozialdemokratische Bewegung in England Verschiedenartiger Schattierung: in die Loeiitl-tsinoorÄtiv I^äerAtion, die In- clövsniZsnt Il^tour ?art^ und die ?Mg.n Looist^. Am radikalsten verfährt die Federation, deren Führer Blatchford, Bernard shap, Ramsay Macdonald, Phil. Snowden und Wells und deren Organ die Blätter Lila-iov, ^ustive und Ilkldour sind: sie verwirft persönliches Eigentum und individuellen Erwerb; sie will alle Staatsangehörigen zu gemeinsamer Arbeit verpflichten und zu gleichen Teilen am Gewinn teilnehmen lassen. Das Programm der I,g,d0ur I>kU't^ lautet ähnlich, fordert aber noch außerdem: Alterspensionen vom funfzigsten Lebensjahre an, Versorgung von Witwen und Waisen, freien Unter¬ richt mit freiem Lebensunterhalt für alle Schüler, mit Einschluß der Universitäts¬ studien, Abschaffung der indirekten Steuern und des Erbrechts. Gemäßigter in ihren Forderungen sind die Fabianer. Sie wollen zwar auch den Kollektivismus, aber nicht einen unbeschränkten und zwangsweisen; sie ver¬ langen, daß der von den Stadtgemeinden ausgeübte Monopolismus in bezug auf Gasfabrikation, Wasserleitung usw. auf alle industriellen Unternehmungen, die dem Gemeinwohl förderlich sind, ausgedehnt werde. Dieser munizipale Sozialismus soll die individualistische merkantile Konkurrenz — ein Dorn im Auge aller Sozialdemokraten — aus der Welt schaffen. Es gibt also jetzt in dem Lande der praktischen Vernunft eine Menge Leute, die ebenso windige Luftschlösser aufbauen, ebenso die Festigkeit der tatsächlichen Verhältnisse und die unvertilgbaren egoistischen Triebe der Menschen¬ natur verkennen wie die deutschen Sozialdemokraten vor etwa dreißig Jahren. Demnach befindet sich der englische Sozialismus noch in den von den kon¬ tinentalen Genossen längst ausgetretnen Kinderschuhen. Im übrigen gleicht er ihnen aufs Haar: er strebt ebenfalls mit allen möglichen Mitteln nach bestimmenden Einfluß in der Volksvertretung, er sucht ebenfalls die mili¬ tärische Disziplin zu untergraben und verzichtet sogar in noch höherm Grade als der deutsche auf nationales Ansehen. Bemerkte doch Lord Milner in einer öffentlichen Rede ausdrücklich, die englischen Sozialdemokraten bekunden ihre kosmopolitische Gesinnung, die sie als Unparteilichkeit ausgeben, dadurch, daß sie bei internationalen Streitigkeiten jederzeit auf die Seite der Feinde von England treten. Dagegen ist das Verhalten der englischen Regierung und der staats¬ erhaltenden Parteien weit verschieden von dem Benehmen beider in Deutsch¬ land. Die Regierung greift gegenwärtig in keiner Weise ein, sodaß Lord Aldwyn so weit ging, die Minister zu beschuldigen, sie leisteten durch ihre Passivität absichtlich der revolutionären Bewegung Vorschub. Tatsächlich überläßt die Regierung der bürgerlichen Gesellschaft allein den Kampf. Diese, im vollen Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit, hat sich sofort aufgerafft in den Hauptparteien des Landes, in den Whigs und Tories, und den Feldzug begonnen. Beide sind einig in dem offnen Zugeständnis der Notlage der Arbeiter und in dem Willen, sie möglichst zu lindern, aber zugleich auch in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/558>, abgerufen am 24.07.2024.