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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die sozialdemokratische Bewegung in England

arbeitet ein sogar in der Provinz Szetschuen herauskommendes Jugendblatt,
das viel über die abendländische Kultur bringt.

Der bei Chinesen bedeutend mehr als bei andern Völkern ausgesprochnc
Heimatsinn erklärt die in größern Städten bestehenden Vereinshäuser, in denen
sich die Leute, die aus derselben Provinz sind, zusammenfinden, um miteinander
im heimischen Dialekte zu reden, heimische Gebräuche zu üben, wohl auch Ge¬
schäfte abzuschließen. Die in China fast alles beherrschende Ahnenverehrung
sorgt auch zum Teil für den Zusammenhalt solcher Vereine, denn von der
Gesellschaft wird die Überführung der Verstorbnen in die Heimatproviuz sowie
die Beerdigung für Dahingegcmgne geregelt. Die Mitglieder dieser Vereine
finden bei ihren Zusammenkünften natürlich ihr Heimatsblatt, das im "Klub"
gehalten wird.

Neben den genannten hauptsächlichen und maßgebenden Zeitungen besteht
im Reich der Mitte, namentlich in Schanghai, der Zeitungsmetrvpole, eine
ganze Reihe besserer und schlechterer moralischer und unmoralischer Blätter und
Vlättchen. Es gibt Monatsschriften, landwirtschaftliche Blätter, ferner sogar
ein Blatt, das sich offiziell fremdenfreundlich nennt, dann eine diesem in die
Hand arbeitende chinesische christliche Jugendschrift, endlich Witz- und Theater¬
blätter und last not least ein recht gepfeffertes Blüttlein für die elegante
Herrenlebewelt, das wohl kaum ein "gesitteter Chinese seiner Schwiegermutter"
zeigen wird. Es hat in der Übersetzung den schönen Namen "Frühlingsstrom-
Blumen-Mondscheinblatt" und redet von "Lust und Liebe"!




Die sozialdemokratische Bewegung in England
Brix Förster von

c?LS^! le deutschen Anglophilen, seien es Männer der Wissenschaft oder
praktischer Berufe, haben bisher an der Behauptung festgehalten,
daß nur der Kontinent und vor allem das vom Bureaukratismus
durchseuchte und zu theoretisch-politischen Extravaganzen immer
! geneigte Deutschland der einzige Nährboden für sozialdemokratische
Ideen sei. Nun auf einmal, im Spätsommer vorigen Jahres zeigte es sich, daß
auch in dem nüchternen, vom freien Volkswillen allein regierten England eine
mächtige Bewegung entstanden ist, die ebenso nach unerreichbaren Zielen strebt
und die seit Jahrhunderten entwickelte und erstarkte Staats- und Wirtschafts¬
form umzustürzen droht. Das war eine gewaltige Überraschung für den reich¬
begüterten und an gesicherten lukrativen Erwerb gewohnten Teil der Be¬
völkerung. Wer sich in England der Mühe unterzog, die sozialistischen Gärungen
auf dem Kontinent zu verfolge", hatte bisher wegen der weiten Entfernung


Die sozialdemokratische Bewegung in England

arbeitet ein sogar in der Provinz Szetschuen herauskommendes Jugendblatt,
das viel über die abendländische Kultur bringt.

Der bei Chinesen bedeutend mehr als bei andern Völkern ausgesprochnc
Heimatsinn erklärt die in größern Städten bestehenden Vereinshäuser, in denen
sich die Leute, die aus derselben Provinz sind, zusammenfinden, um miteinander
im heimischen Dialekte zu reden, heimische Gebräuche zu üben, wohl auch Ge¬
schäfte abzuschließen. Die in China fast alles beherrschende Ahnenverehrung
sorgt auch zum Teil für den Zusammenhalt solcher Vereine, denn von der
Gesellschaft wird die Überführung der Verstorbnen in die Heimatproviuz sowie
die Beerdigung für Dahingegcmgne geregelt. Die Mitglieder dieser Vereine
finden bei ihren Zusammenkünften natürlich ihr Heimatsblatt, das im „Klub"
gehalten wird.

Neben den genannten hauptsächlichen und maßgebenden Zeitungen besteht
im Reich der Mitte, namentlich in Schanghai, der Zeitungsmetrvpole, eine
ganze Reihe besserer und schlechterer moralischer und unmoralischer Blätter und
Vlättchen. Es gibt Monatsschriften, landwirtschaftliche Blätter, ferner sogar
ein Blatt, das sich offiziell fremdenfreundlich nennt, dann eine diesem in die
Hand arbeitende chinesische christliche Jugendschrift, endlich Witz- und Theater¬
blätter und last not least ein recht gepfeffertes Blüttlein für die elegante
Herrenlebewelt, das wohl kaum ein „gesitteter Chinese seiner Schwiegermutter"
zeigen wird. Es hat in der Übersetzung den schönen Namen „Frühlingsstrom-
Blumen-Mondscheinblatt" und redet von „Lust und Liebe"!




Die sozialdemokratische Bewegung in England
Brix Förster von

c?LS^! le deutschen Anglophilen, seien es Männer der Wissenschaft oder
praktischer Berufe, haben bisher an der Behauptung festgehalten,
daß nur der Kontinent und vor allem das vom Bureaukratismus
durchseuchte und zu theoretisch-politischen Extravaganzen immer
! geneigte Deutschland der einzige Nährboden für sozialdemokratische
Ideen sei. Nun auf einmal, im Spätsommer vorigen Jahres zeigte es sich, daß
auch in dem nüchternen, vom freien Volkswillen allein regierten England eine
mächtige Bewegung entstanden ist, die ebenso nach unerreichbaren Zielen strebt
und die seit Jahrhunderten entwickelte und erstarkte Staats- und Wirtschafts¬
form umzustürzen droht. Das war eine gewaltige Überraschung für den reich¬
begüterten und an gesicherten lukrativen Erwerb gewohnten Teil der Be¬
völkerung. Wer sich in England der Mühe unterzog, die sozialistischen Gärungen
auf dem Kontinent zu verfolge», hatte bisher wegen der weiten Entfernung


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[0556] Die sozialdemokratische Bewegung in England arbeitet ein sogar in der Provinz Szetschuen herauskommendes Jugendblatt, das viel über die abendländische Kultur bringt. Der bei Chinesen bedeutend mehr als bei andern Völkern ausgesprochnc Heimatsinn erklärt die in größern Städten bestehenden Vereinshäuser, in denen sich die Leute, die aus derselben Provinz sind, zusammenfinden, um miteinander im heimischen Dialekte zu reden, heimische Gebräuche zu üben, wohl auch Ge¬ schäfte abzuschließen. Die in China fast alles beherrschende Ahnenverehrung sorgt auch zum Teil für den Zusammenhalt solcher Vereine, denn von der Gesellschaft wird die Überführung der Verstorbnen in die Heimatproviuz sowie die Beerdigung für Dahingegcmgne geregelt. Die Mitglieder dieser Vereine finden bei ihren Zusammenkünften natürlich ihr Heimatsblatt, das im „Klub" gehalten wird. Neben den genannten hauptsächlichen und maßgebenden Zeitungen besteht im Reich der Mitte, namentlich in Schanghai, der Zeitungsmetrvpole, eine ganze Reihe besserer und schlechterer moralischer und unmoralischer Blätter und Vlättchen. Es gibt Monatsschriften, landwirtschaftliche Blätter, ferner sogar ein Blatt, das sich offiziell fremdenfreundlich nennt, dann eine diesem in die Hand arbeitende chinesische christliche Jugendschrift, endlich Witz- und Theater¬ blätter und last not least ein recht gepfeffertes Blüttlein für die elegante Herrenlebewelt, das wohl kaum ein „gesitteter Chinese seiner Schwiegermutter" zeigen wird. Es hat in der Übersetzung den schönen Namen „Frühlingsstrom- Blumen-Mondscheinblatt" und redet von „Lust und Liebe"! Die sozialdemokratische Bewegung in England Brix Förster von c?LS^! le deutschen Anglophilen, seien es Männer der Wissenschaft oder praktischer Berufe, haben bisher an der Behauptung festgehalten, daß nur der Kontinent und vor allem das vom Bureaukratismus durchseuchte und zu theoretisch-politischen Extravaganzen immer ! geneigte Deutschland der einzige Nährboden für sozialdemokratische Ideen sei. Nun auf einmal, im Spätsommer vorigen Jahres zeigte es sich, daß auch in dem nüchternen, vom freien Volkswillen allein regierten England eine mächtige Bewegung entstanden ist, die ebenso nach unerreichbaren Zielen strebt und die seit Jahrhunderten entwickelte und erstarkte Staats- und Wirtschafts¬ form umzustürzen droht. Das war eine gewaltige Überraschung für den reich¬ begüterten und an gesicherten lukrativen Erwerb gewohnten Teil der Be¬ völkerung. Wer sich in England der Mühe unterzog, die sozialistischen Gärungen auf dem Kontinent zu verfolge», hatte bisher wegen der weiten Entfernung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/556>, abgerufen am 22.06.2024.