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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Studien über die Romantik

"Unbewußte", worin er die Gesamtheit der biologisch erworbnen gesunden Instinkte
sieht, unter die Herrschaft der bewußten Vernunft bringen und von dieser be¬
nutzen lassen, darin sieht er das letzte der drei Heilmittel der romantischen
Krankheit. Das zweite ist ihm die kirchliche Erziehung, die den Menschen gut
zu disziplinieren vermöge (wobei er hervorhebt, daß die Kirche schwärmerische
Ausschreitungen im Meinen und im Gefühlsleben, wie die der Nonnen von
Port Royal, zu bekämpfen pflege). Als erstes aber nennt er "das enzyklopädische".
Dieses sei das vom Staate abgestempelte offizielle. Die enzyklopädische Lehre,
mit der offenbar die Lehre der Enzyklopädisten gemeint ist, werde jetzt den
Gesetzen und Verordnungen gemäß dazu angewandt, "die Demokratie aufzu¬
klären und den moralischen Fortschritt der künftigen Staatsbürger in den höhern
Schulen vorzubereiten. Man hat mit Recht gesagt, Diderots Schatten schwebe
über unserm jetzigen französischen Erziehungswesen. Leider aber droht dies
Heilmittel, sowie es die Praktiker anwenden, die das Monopol darauf besitzen,
die Jugendkrankheit, die es heilen soll, zur dauernden zu machen." Schade,
daß er sich nicht deutlicher ausdrückt; seine Klagen darüber, daß auch die Enzy¬
klopädisten, trotz ihrer entschiednen Feindschaft gegen Rousseau, von dessen Geist
angekränkelt gewesen seien, deuten immerhin an, was er zu meinen scheint.
Ohne Zweifel macht es ihn unglücklich, zu sehen, wie die französischen Volks¬
schullehrer, weit entfernt davon, den Sozialismus energisch zu bekämpfen, selbst
in hellen Haufen ins sozialdemokratische Lager überlaufen.

Bei uns in Deutschland hat man niemals einem so uferlosen Begriffe des
Wortes Romantik gehuldigt; vielmehr haben es Literarhistoriker wie Otto von
Leixuer schon bedenklich gefunden, daß eine bekannte Gruppe von Dichtern und
Denkern als romantische Schule bezeichnet wird, da es doch sehr verschiedne
Richtungen, Strömungen und Bestrebungen seien, die sich in ihren literarischen
Schöpfungen offenbaren. Zwei dieser Strömungen, die historische und die
naturphilosophische, haben in Wechselwirkung miteinander ein tüchtiges Stück
Weltgeschichte gemacht; zu ihren Früchten gehören: die Stärkung der durchaus
irrationalen dynastischen und Nationalgefühle und -- der kräftige deutsche
Katholizismus unsrer Tage, wenn man es drastisch ausdrücken will: das Zen¬
trum. Die rationalistische Aufklärung war notwendig gewesen, den dogmatischen
Fanatismus und den Aberglauben in seiner scheußlichsten und verderblichsten
Form zu überwinden, und als Vorlnuserin des politischen und wirtschaftlichen
Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts hat sie die Staatsmänner der
absoluten Monarchie befähigt, veraltete Einrichtungen zu beseitigen und die Ver¬
waltung den sich immer rascher wandelnden Bedürfnissen besser anzupassen.
Aber der Nationalismus litt an Einseitigkeit. Die Geringschätzung der Herzens¬
bedürfnisse, der Volksarteu und Volksgcwohnheiten beleidigte die Massen. Und
man verstrickte sich in verhängnisvolle Irrtümer. Weil man vieles zu erklären
vermochte, glaubte man alles erklären zu können; weil der im Monarchen oder
im gebietenden Minister verkörperte vernünftige Wille mächtig waltete, hielt er


Studien über die Romantik

„Unbewußte", worin er die Gesamtheit der biologisch erworbnen gesunden Instinkte
sieht, unter die Herrschaft der bewußten Vernunft bringen und von dieser be¬
nutzen lassen, darin sieht er das letzte der drei Heilmittel der romantischen
Krankheit. Das zweite ist ihm die kirchliche Erziehung, die den Menschen gut
zu disziplinieren vermöge (wobei er hervorhebt, daß die Kirche schwärmerische
Ausschreitungen im Meinen und im Gefühlsleben, wie die der Nonnen von
Port Royal, zu bekämpfen pflege). Als erstes aber nennt er „das enzyklopädische".
Dieses sei das vom Staate abgestempelte offizielle. Die enzyklopädische Lehre,
mit der offenbar die Lehre der Enzyklopädisten gemeint ist, werde jetzt den
Gesetzen und Verordnungen gemäß dazu angewandt, „die Demokratie aufzu¬
klären und den moralischen Fortschritt der künftigen Staatsbürger in den höhern
Schulen vorzubereiten. Man hat mit Recht gesagt, Diderots Schatten schwebe
über unserm jetzigen französischen Erziehungswesen. Leider aber droht dies
Heilmittel, sowie es die Praktiker anwenden, die das Monopol darauf besitzen,
die Jugendkrankheit, die es heilen soll, zur dauernden zu machen." Schade,
daß er sich nicht deutlicher ausdrückt; seine Klagen darüber, daß auch die Enzy¬
klopädisten, trotz ihrer entschiednen Feindschaft gegen Rousseau, von dessen Geist
angekränkelt gewesen seien, deuten immerhin an, was er zu meinen scheint.
Ohne Zweifel macht es ihn unglücklich, zu sehen, wie die französischen Volks¬
schullehrer, weit entfernt davon, den Sozialismus energisch zu bekämpfen, selbst
in hellen Haufen ins sozialdemokratische Lager überlaufen.

Bei uns in Deutschland hat man niemals einem so uferlosen Begriffe des
Wortes Romantik gehuldigt; vielmehr haben es Literarhistoriker wie Otto von
Leixuer schon bedenklich gefunden, daß eine bekannte Gruppe von Dichtern und
Denkern als romantische Schule bezeichnet wird, da es doch sehr verschiedne
Richtungen, Strömungen und Bestrebungen seien, die sich in ihren literarischen
Schöpfungen offenbaren. Zwei dieser Strömungen, die historische und die
naturphilosophische, haben in Wechselwirkung miteinander ein tüchtiges Stück
Weltgeschichte gemacht; zu ihren Früchten gehören: die Stärkung der durchaus
irrationalen dynastischen und Nationalgefühle und — der kräftige deutsche
Katholizismus unsrer Tage, wenn man es drastisch ausdrücken will: das Zen¬
trum. Die rationalistische Aufklärung war notwendig gewesen, den dogmatischen
Fanatismus und den Aberglauben in seiner scheußlichsten und verderblichsten
Form zu überwinden, und als Vorlnuserin des politischen und wirtschaftlichen
Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts hat sie die Staatsmänner der
absoluten Monarchie befähigt, veraltete Einrichtungen zu beseitigen und die Ver¬
waltung den sich immer rascher wandelnden Bedürfnissen besser anzupassen.
Aber der Nationalismus litt an Einseitigkeit. Die Geringschätzung der Herzens¬
bedürfnisse, der Volksarteu und Volksgcwohnheiten beleidigte die Massen. Und
man verstrickte sich in verhängnisvolle Irrtümer. Weil man vieles zu erklären
vermochte, glaubte man alles erklären zu können; weil der im Monarchen oder
im gebietenden Minister verkörperte vernünftige Wille mächtig waltete, hielt er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/528>, abgerufen am 24.07.2024.