Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Studien über die Romantik

sich für allmächtig. Man huldigte der Sophistenansicht, daß alle gesellschaft¬
lichen Einrichtungen und Zustande willkürliche Schöpfungen entweder einmütiger
Bürgerschaften oder überlegner Einzelgeister oder Aristokratien seien, und hielt
insbesondre die Religionen, aus denen alles Übernatürliche hinweginterprctiert
wurde, für klug berechnete Erfindungen selbstsüchtiger Priesterschaften. Auch die
Philosophie kam dieser Richtung zu Hilfe: sie war selbst mathematisch gerichtet.
Die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts und der ersten Hälfte des
achtzehnten waren Mathematiker, Mechaniker. Astronomen. Sie hatten es mit
durchsichtigen Gebilden, mit streng berechenbaren Größen zu tun und förderten
durch die Schulung, die sie der vornehmen Jugend angedeihen ließen, die Neigung,
Staat und Gesellschaft als Maschinen aufzufassen, die sich künstlich konstruieren,
von einem Punkte aus bewegen und regulieren ließen. Die Keime einer or¬
ganischen Auffassung der Welt und der Menschheit, die in Leibnizens Schriften
lagen, blieben vorläufig unentwickelt. Es ist klar, daß diese Denkweise, je mehr
sie sich durchzusetzen versuchte, an der Natur der Dinge und der Menschen un¬
überwindliche Hindernisse finden mußte. Die Massen leisteten passiven Wider¬
stand, die Gemüter bäumten sich auf. in der Französischen Revolution führte
sich der Nationalismus selbst ^ avsuräum. Mittlerweile waren Denker und
Forscher längst in einer der rationalistischen Richtung entgegengesetzten tätig ge¬
wesen. Herder hatte erkannt, daß die Sitten und Einrichtungen der Völker
nicht ersonnen und gemacht werden, sondern gleich den Naturdingen werden und
wachsen unter geographischen und klimatische.: Einflüsse". Und er fand wenn
man sich die Sitten und die Schöpfungen der verschonen Völker und Zelten
genauer beschaue, so seien sie schön und liebenswert, während der rationalistische
Geist alles von seiner verstandesmäßig konstruierten Norm abweichende für
häßlich, fratzenhaft, barbarisch erklärte, namentlich im ganzen europäischen Mittel¬
alter, das er nach den noch vorhandnen Resten von Aberglauben beurteilte, nur
einen wertlosen Wust fratzenhaften Unsinns sah. In Herders und seiner Geistes¬
verwandten Einsicht lag ein doppelter Gewinn; der historische Sinn war erwacht
und erleuchtete die mit wachsendem Eifer tätige historische Forschung! das
klassische Altertum erschien nicht mehr als die allein berechtigte Mustergestalt
echten Menschendaseins! man überzeugte sich, daß auch im Mittelalter die
Menschen in Kunst und Gewerbe, in sozialen Ordnungen und im wissenschaft¬
lichen Denken Achtungswertes geleistet hätten, daß das Mittelalter eine Zeit
ganz normaler Entwicklung gewesen sei. Man fand die gotischen Bauten schön,
schön auch die alten Dichtungen, die Volkslieder und Volkssagen, ja sogar die
Legenden von den "lieben Heiligen". Der andre Fortschritt bestand in der
Wendung von der mechanischen zur organischen Auffassung der Natur und des
Menschenlebens. Die Naturforscher wandten sich der Chemie zu. die eine er¬
staunliche Verwandlnngsfühigkeit der Stoffe offenbarte und damit bewies (diesen
Beweis vervollständigt die heutige Raumforschung), daß die Alchimisten der
Wahrheit auf der Spur gewesen waren, und zugleich der Erforschung des


Grenzboten II 1908 ^
Studien über die Romantik

sich für allmächtig. Man huldigte der Sophistenansicht, daß alle gesellschaft¬
lichen Einrichtungen und Zustande willkürliche Schöpfungen entweder einmütiger
Bürgerschaften oder überlegner Einzelgeister oder Aristokratien seien, und hielt
insbesondre die Religionen, aus denen alles Übernatürliche hinweginterprctiert
wurde, für klug berechnete Erfindungen selbstsüchtiger Priesterschaften. Auch die
Philosophie kam dieser Richtung zu Hilfe: sie war selbst mathematisch gerichtet.
Die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts und der ersten Hälfte des
achtzehnten waren Mathematiker, Mechaniker. Astronomen. Sie hatten es mit
durchsichtigen Gebilden, mit streng berechenbaren Größen zu tun und förderten
durch die Schulung, die sie der vornehmen Jugend angedeihen ließen, die Neigung,
Staat und Gesellschaft als Maschinen aufzufassen, die sich künstlich konstruieren,
von einem Punkte aus bewegen und regulieren ließen. Die Keime einer or¬
ganischen Auffassung der Welt und der Menschheit, die in Leibnizens Schriften
lagen, blieben vorläufig unentwickelt. Es ist klar, daß diese Denkweise, je mehr
sie sich durchzusetzen versuchte, an der Natur der Dinge und der Menschen un¬
überwindliche Hindernisse finden mußte. Die Massen leisteten passiven Wider¬
stand, die Gemüter bäumten sich auf. in der Französischen Revolution führte
sich der Nationalismus selbst ^ avsuräum. Mittlerweile waren Denker und
Forscher längst in einer der rationalistischen Richtung entgegengesetzten tätig ge¬
wesen. Herder hatte erkannt, daß die Sitten und Einrichtungen der Völker
nicht ersonnen und gemacht werden, sondern gleich den Naturdingen werden und
wachsen unter geographischen und klimatische.: Einflüsse». Und er fand wenn
man sich die Sitten und die Schöpfungen der verschonen Völker und Zelten
genauer beschaue, so seien sie schön und liebenswert, während der rationalistische
Geist alles von seiner verstandesmäßig konstruierten Norm abweichende für
häßlich, fratzenhaft, barbarisch erklärte, namentlich im ganzen europäischen Mittel¬
alter, das er nach den noch vorhandnen Resten von Aberglauben beurteilte, nur
einen wertlosen Wust fratzenhaften Unsinns sah. In Herders und seiner Geistes¬
verwandten Einsicht lag ein doppelter Gewinn; der historische Sinn war erwacht
und erleuchtete die mit wachsendem Eifer tätige historische Forschung! das
klassische Altertum erschien nicht mehr als die allein berechtigte Mustergestalt
echten Menschendaseins! man überzeugte sich, daß auch im Mittelalter die
Menschen in Kunst und Gewerbe, in sozialen Ordnungen und im wissenschaft¬
lichen Denken Achtungswertes geleistet hätten, daß das Mittelalter eine Zeit
ganz normaler Entwicklung gewesen sei. Man fand die gotischen Bauten schön,
schön auch die alten Dichtungen, die Volkslieder und Volkssagen, ja sogar die
Legenden von den „lieben Heiligen". Der andre Fortschritt bestand in der
Wendung von der mechanischen zur organischen Auffassung der Natur und des
Menschenlebens. Die Naturforscher wandten sich der Chemie zu. die eine er¬
staunliche Verwandlnngsfühigkeit der Stoffe offenbarte und damit bewies (diesen
Beweis vervollständigt die heutige Raumforschung), daß die Alchimisten der
Wahrheit auf der Spur gewesen waren, und zugleich der Erforschung des


Grenzboten II 1908 ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0529" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312214"/>
          <fw type="header" place="top"> Studien über die Romantik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2072" prev="#ID_2071" next="#ID_2073"> sich für allmächtig. Man huldigte der Sophistenansicht, daß alle gesellschaft¬<lb/>
lichen Einrichtungen und Zustande willkürliche Schöpfungen entweder einmütiger<lb/>
Bürgerschaften oder überlegner Einzelgeister oder Aristokratien seien, und hielt<lb/>
insbesondre die Religionen, aus denen alles Übernatürliche hinweginterprctiert<lb/>
wurde, für klug berechnete Erfindungen selbstsüchtiger Priesterschaften. Auch die<lb/>
Philosophie kam dieser Richtung zu Hilfe: sie war selbst mathematisch gerichtet.<lb/>
Die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts und der ersten Hälfte des<lb/>
achtzehnten waren Mathematiker, Mechaniker. Astronomen. Sie hatten es mit<lb/>
durchsichtigen Gebilden, mit streng berechenbaren Größen zu tun und förderten<lb/>
durch die Schulung, die sie der vornehmen Jugend angedeihen ließen, die Neigung,<lb/>
Staat und Gesellschaft als Maschinen aufzufassen, die sich künstlich konstruieren,<lb/>
von einem Punkte aus bewegen und regulieren ließen. Die Keime einer or¬<lb/>
ganischen Auffassung der Welt und der Menschheit, die in Leibnizens Schriften<lb/>
lagen, blieben vorläufig unentwickelt. Es ist klar, daß diese Denkweise, je mehr<lb/>
sie sich durchzusetzen versuchte, an der Natur der Dinge und der Menschen un¬<lb/>
überwindliche Hindernisse finden mußte. Die Massen leisteten passiven Wider¬<lb/>
stand, die Gemüter bäumten sich auf. in der Französischen Revolution führte<lb/>
sich der Nationalismus selbst ^ avsuräum. Mittlerweile waren Denker und<lb/>
Forscher längst in einer der rationalistischen Richtung entgegengesetzten tätig ge¬<lb/>
wesen. Herder hatte erkannt, daß die Sitten und Einrichtungen der Völker<lb/>
nicht ersonnen und gemacht werden, sondern gleich den Naturdingen werden und<lb/>
wachsen unter geographischen und klimatische.: Einflüsse». Und er fand wenn<lb/>
man sich die Sitten und die Schöpfungen der verschonen Völker und Zelten<lb/>
genauer beschaue, so seien sie schön und liebenswert, während der rationalistische<lb/>
Geist alles von seiner verstandesmäßig konstruierten Norm abweichende für<lb/>
häßlich, fratzenhaft, barbarisch erklärte, namentlich im ganzen europäischen Mittel¬<lb/>
alter, das er nach den noch vorhandnen Resten von Aberglauben beurteilte, nur<lb/>
einen wertlosen Wust fratzenhaften Unsinns sah. In Herders und seiner Geistes¬<lb/>
verwandten Einsicht lag ein doppelter Gewinn; der historische Sinn war erwacht<lb/>
und erleuchtete die mit wachsendem Eifer tätige historische Forschung! das<lb/>
klassische Altertum erschien nicht mehr als die allein berechtigte Mustergestalt<lb/>
echten Menschendaseins! man überzeugte sich, daß auch im Mittelalter die<lb/>
Menschen in Kunst und Gewerbe, in sozialen Ordnungen und im wissenschaft¬<lb/>
lichen Denken Achtungswertes geleistet hätten, daß das Mittelalter eine Zeit<lb/>
ganz normaler Entwicklung gewesen sei. Man fand die gotischen Bauten schön,<lb/>
schön auch die alten Dichtungen, die Volkslieder und Volkssagen, ja sogar die<lb/>
Legenden von den &#x201E;lieben Heiligen". Der andre Fortschritt bestand in der<lb/>
Wendung von der mechanischen zur organischen Auffassung der Natur und des<lb/>
Menschenlebens. Die Naturforscher wandten sich der Chemie zu. die eine er¬<lb/>
staunliche Verwandlnngsfühigkeit der Stoffe offenbarte und damit bewies (diesen<lb/>
Beweis vervollständigt die heutige Raumforschung), daß die Alchimisten der<lb/>
Wahrheit auf der Spur gewesen waren, und zugleich der Erforschung des</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1908 ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0529] Studien über die Romantik sich für allmächtig. Man huldigte der Sophistenansicht, daß alle gesellschaft¬ lichen Einrichtungen und Zustande willkürliche Schöpfungen entweder einmütiger Bürgerschaften oder überlegner Einzelgeister oder Aristokratien seien, und hielt insbesondre die Religionen, aus denen alles Übernatürliche hinweginterprctiert wurde, für klug berechnete Erfindungen selbstsüchtiger Priesterschaften. Auch die Philosophie kam dieser Richtung zu Hilfe: sie war selbst mathematisch gerichtet. Die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts und der ersten Hälfte des achtzehnten waren Mathematiker, Mechaniker. Astronomen. Sie hatten es mit durchsichtigen Gebilden, mit streng berechenbaren Größen zu tun und förderten durch die Schulung, die sie der vornehmen Jugend angedeihen ließen, die Neigung, Staat und Gesellschaft als Maschinen aufzufassen, die sich künstlich konstruieren, von einem Punkte aus bewegen und regulieren ließen. Die Keime einer or¬ ganischen Auffassung der Welt und der Menschheit, die in Leibnizens Schriften lagen, blieben vorläufig unentwickelt. Es ist klar, daß diese Denkweise, je mehr sie sich durchzusetzen versuchte, an der Natur der Dinge und der Menschen un¬ überwindliche Hindernisse finden mußte. Die Massen leisteten passiven Wider¬ stand, die Gemüter bäumten sich auf. in der Französischen Revolution führte sich der Nationalismus selbst ^ avsuräum. Mittlerweile waren Denker und Forscher längst in einer der rationalistischen Richtung entgegengesetzten tätig ge¬ wesen. Herder hatte erkannt, daß die Sitten und Einrichtungen der Völker nicht ersonnen und gemacht werden, sondern gleich den Naturdingen werden und wachsen unter geographischen und klimatische.: Einflüsse». Und er fand wenn man sich die Sitten und die Schöpfungen der verschonen Völker und Zelten genauer beschaue, so seien sie schön und liebenswert, während der rationalistische Geist alles von seiner verstandesmäßig konstruierten Norm abweichende für häßlich, fratzenhaft, barbarisch erklärte, namentlich im ganzen europäischen Mittel¬ alter, das er nach den noch vorhandnen Resten von Aberglauben beurteilte, nur einen wertlosen Wust fratzenhaften Unsinns sah. In Herders und seiner Geistes¬ verwandten Einsicht lag ein doppelter Gewinn; der historische Sinn war erwacht und erleuchtete die mit wachsendem Eifer tätige historische Forschung! das klassische Altertum erschien nicht mehr als die allein berechtigte Mustergestalt echten Menschendaseins! man überzeugte sich, daß auch im Mittelalter die Menschen in Kunst und Gewerbe, in sozialen Ordnungen und im wissenschaft¬ lichen Denken Achtungswertes geleistet hätten, daß das Mittelalter eine Zeit ganz normaler Entwicklung gewesen sei. Man fand die gotischen Bauten schön, schön auch die alten Dichtungen, die Volkslieder und Volkssagen, ja sogar die Legenden von den „lieben Heiligen". Der andre Fortschritt bestand in der Wendung von der mechanischen zur organischen Auffassung der Natur und des Menschenlebens. Die Naturforscher wandten sich der Chemie zu. die eine er¬ staunliche Verwandlnngsfühigkeit der Stoffe offenbarte und damit bewies (diesen Beweis vervollständigt die heutige Raumforschung), daß die Alchimisten der Wahrheit auf der Spur gewesen waren, und zugleich der Erforschung des Grenzboten II 1908 ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/529
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/529>, abgerufen am 27.06.2024.