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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Studien über die Romantik

Rationalismus (oder Enzyklopädismus) und Romantik und verkennt er die Be¬
rechtigung einiger der von ihm verworfnen Bestrebungen. Daß eine Reaktion
gegen die vom Kalvinismus und vom Jansenismus verbreitete düstere Vor¬
stellung von der Verderbnis der Menschennatur notwendig gewesen ist, erkennt
er an; wenn er aber meint, die katholische Kirche halte mit ihrem Erbsünd-
dogma die richtige Mitte inne. so ist zwar einzuräumen, daß sich einzelne ihrer
Lehrer, wie der von Seilliere gelobte Franz von Sales. dieser Müßigung befleißigt
haben, zugleich aber daran zu erinnern, daß gerade das Papsttum es gewesen
ist. das durch die Dogmatisierung des Hexenabcrglaubens mehrmals drei Gene¬
rationen der europäischen Menschheit recht eigentlich dem Teufel überliefert hat,
und daß die Romantiker" im Bunde mit den Rationalisten die "Christen" aus
verrückten Fanatikern wieder zu Menschen gemacht und damit der wirklich vor¬
handen natürlichen Güte der Menschennatur zu erneuten. Dasein verholfen
haben. Und wenn es Seilliere als ..ästhetischen Mystizismus" verurteilt, daß
sich im modernen Deutschland viele Stimmen gegen die Dressur in der Kinder¬
erziehung (z. B. gegen die zierlichen Knickse der kleinen Madchen u.it d.e artigen
Verbeugungen der kleinen Jungen) wenden und wiederum wie Rousseau und
Basedow Rückkehr zur Natur fordern, so erinnert uns das daran, daß Rousseau,
mögen seine Charakterfehler und seine Irrtümer so groß sem. wie sie wollen
mit seinem Emil der Jugend und der ganzen MeMhett eme ungeheure Wohltat
erwiesen hat. Daß er die kleinen Mädchen von Schuurnueder und Reifrock die
kleinen Jungen vom Zopf, die Kinder beider Gesthlechter vom Pu er erlös hat,
ist schau an sich etwas Großes, und es ist och nur das Syr.do ^ Über¬
gangs zu den vernünftigen Erziehungs- und Unternchtsgriindsatzen um Methoden,
die seitdem allmählich zur Herrschaft gelangt s.ut Einen ganz falschen Zi.-
sammenhang zwischen den geistigen Bewegungen des achtzehnten ^ahrhundett^
konstruiert Seilliere wenn er von den "Orgien des praktischen Romantismus"
spricht, "die dem Revolutiouszeitalter den Stempel aufgedrückt" hätten. Nicht
Praktischer Romantismus. sondern praktischer Rat.oual.venus ist le Terreur ge¬
wesen- Wirkung der Einbildung, es lasse s.es em vollkommner Staat, eme voll-
kommne Gesellschaft im Kopfe konstruieren und - wenn man in.r den Mut
hab, alle Widerstrebenden zu köpfen - in der WMichkei herstellen. Dieselbe
rationalistische Einbildung liegt allem Utopismu. zugrm.de Wenn Rousseau
für diesen Gang der Dinge verantwortlich gemacht werden soll so muß mau
nicht seinen "Romantismus", seinen Glan en an d.e Gute de^ Meuschenua ur,
sondern seinen Rationalismus heranziehn, semen Begriff von Staat und Gesell¬
schaft als Willkürgebilden, die durch einen Ko.llrakt hergestellt^ wurden;
durch Satzung, nicht sagten die alten Soph.so. .in Gegensatz zu den
wahren Philosophen, die erkannten, daß Familie und Staat sah°Pf"ngm der
Natur oder Gottes seien. Hier wäre auch r.ehe.ger als es Se.it.ere we zu
zeigen, was die "Mystik des Unbewußten", w.e sie sich e. Har um... sinde.
mit diesen. Gegensatze zu schaffen hat und n.ehe zu schaffen hat. D.ches


Studien über die Romantik

Rationalismus (oder Enzyklopädismus) und Romantik und verkennt er die Be¬
rechtigung einiger der von ihm verworfnen Bestrebungen. Daß eine Reaktion
gegen die vom Kalvinismus und vom Jansenismus verbreitete düstere Vor¬
stellung von der Verderbnis der Menschennatur notwendig gewesen ist, erkennt
er an; wenn er aber meint, die katholische Kirche halte mit ihrem Erbsünd-
dogma die richtige Mitte inne. so ist zwar einzuräumen, daß sich einzelne ihrer
Lehrer, wie der von Seilliere gelobte Franz von Sales. dieser Müßigung befleißigt
haben, zugleich aber daran zu erinnern, daß gerade das Papsttum es gewesen
ist. das durch die Dogmatisierung des Hexenabcrglaubens mehrmals drei Gene¬
rationen der europäischen Menschheit recht eigentlich dem Teufel überliefert hat,
und daß die Romantiker" im Bunde mit den Rationalisten die „Christen" aus
verrückten Fanatikern wieder zu Menschen gemacht und damit der wirklich vor¬
handen natürlichen Güte der Menschennatur zu erneuten. Dasein verholfen
haben. Und wenn es Seilliere als ..ästhetischen Mystizismus" verurteilt, daß
sich im modernen Deutschland viele Stimmen gegen die Dressur in der Kinder¬
erziehung (z. B. gegen die zierlichen Knickse der kleinen Madchen u.it d.e artigen
Verbeugungen der kleinen Jungen) wenden und wiederum wie Rousseau und
Basedow Rückkehr zur Natur fordern, so erinnert uns das daran, daß Rousseau,
mögen seine Charakterfehler und seine Irrtümer so groß sem. wie sie wollen
mit seinem Emil der Jugend und der ganzen MeMhett eme ungeheure Wohltat
erwiesen hat. Daß er die kleinen Mädchen von Schuurnueder und Reifrock die
kleinen Jungen vom Zopf, die Kinder beider Gesthlechter vom Pu er erlös hat,
ist schau an sich etwas Großes, und es ist och nur das Syr.do ^ Über¬
gangs zu den vernünftigen Erziehungs- und Unternchtsgriindsatzen um Methoden,
die seitdem allmählich zur Herrschaft gelangt s.ut Einen ganz falschen Zi.-
sammenhang zwischen den geistigen Bewegungen des achtzehnten ^ahrhundett^
konstruiert Seilliere wenn er von den „Orgien des praktischen Romantismus"
spricht, „die dem Revolutiouszeitalter den Stempel aufgedrückt" hätten. Nicht
Praktischer Romantismus. sondern praktischer Rat.oual.venus ist le Terreur ge¬
wesen- Wirkung der Einbildung, es lasse s.es em vollkommner Staat, eme voll-
kommne Gesellschaft im Kopfe konstruieren und - wenn man in.r den Mut
hab, alle Widerstrebenden zu köpfen - in der WMichkei herstellen. Dieselbe
rationalistische Einbildung liegt allem Utopismu. zugrm.de Wenn Rousseau
für diesen Gang der Dinge verantwortlich gemacht werden soll so muß mau
nicht seinen „Romantismus", seinen Glan en an d.e Gute de^ Meuschenua ur,
sondern seinen Rationalismus heranziehn, semen Begriff von Staat und Gesell¬
schaft als Willkürgebilden, die durch einen Ko.llrakt hergestellt^ wurden;
durch Satzung, nicht sagten die alten Soph.so. .in Gegensatz zu den
wahren Philosophen, die erkannten, daß Familie und Staat sah°Pf»ngm der
Natur oder Gottes seien. Hier wäre auch r.ehe.ger als es Se.it.ere we zu
zeigen, was die „Mystik des Unbewußten", w.e sie sich e. Har um... sinde.
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[0527] Studien über die Romantik Rationalismus (oder Enzyklopädismus) und Romantik und verkennt er die Be¬ rechtigung einiger der von ihm verworfnen Bestrebungen. Daß eine Reaktion gegen die vom Kalvinismus und vom Jansenismus verbreitete düstere Vor¬ stellung von der Verderbnis der Menschennatur notwendig gewesen ist, erkennt er an; wenn er aber meint, die katholische Kirche halte mit ihrem Erbsünd- dogma die richtige Mitte inne. so ist zwar einzuräumen, daß sich einzelne ihrer Lehrer, wie der von Seilliere gelobte Franz von Sales. dieser Müßigung befleißigt haben, zugleich aber daran zu erinnern, daß gerade das Papsttum es gewesen ist. das durch die Dogmatisierung des Hexenabcrglaubens mehrmals drei Gene¬ rationen der europäischen Menschheit recht eigentlich dem Teufel überliefert hat, und daß die Romantiker" im Bunde mit den Rationalisten die „Christen" aus verrückten Fanatikern wieder zu Menschen gemacht und damit der wirklich vor¬ handen natürlichen Güte der Menschennatur zu erneuten. Dasein verholfen haben. Und wenn es Seilliere als ..ästhetischen Mystizismus" verurteilt, daß sich im modernen Deutschland viele Stimmen gegen die Dressur in der Kinder¬ erziehung (z. B. gegen die zierlichen Knickse der kleinen Madchen u.it d.e artigen Verbeugungen der kleinen Jungen) wenden und wiederum wie Rousseau und Basedow Rückkehr zur Natur fordern, so erinnert uns das daran, daß Rousseau, mögen seine Charakterfehler und seine Irrtümer so groß sem. wie sie wollen mit seinem Emil der Jugend und der ganzen MeMhett eme ungeheure Wohltat erwiesen hat. Daß er die kleinen Mädchen von Schuurnueder und Reifrock die kleinen Jungen vom Zopf, die Kinder beider Gesthlechter vom Pu er erlös hat, ist schau an sich etwas Großes, und es ist och nur das Syr.do ^ Über¬ gangs zu den vernünftigen Erziehungs- und Unternchtsgriindsatzen um Methoden, die seitdem allmählich zur Herrschaft gelangt s.ut Einen ganz falschen Zi.- sammenhang zwischen den geistigen Bewegungen des achtzehnten ^ahrhundett^ konstruiert Seilliere wenn er von den „Orgien des praktischen Romantismus" spricht, „die dem Revolutiouszeitalter den Stempel aufgedrückt" hätten. Nicht Praktischer Romantismus. sondern praktischer Rat.oual.venus ist le Terreur ge¬ wesen- Wirkung der Einbildung, es lasse s.es em vollkommner Staat, eme voll- kommne Gesellschaft im Kopfe konstruieren und - wenn man in.r den Mut hab, alle Widerstrebenden zu köpfen - in der WMichkei herstellen. Dieselbe rationalistische Einbildung liegt allem Utopismu. zugrm.de Wenn Rousseau für diesen Gang der Dinge verantwortlich gemacht werden soll so muß mau nicht seinen „Romantismus", seinen Glan en an d.e Gute de^ Meuschenua ur, sondern seinen Rationalismus heranziehn, semen Begriff von Staat und Gesell¬ schaft als Willkürgebilden, die durch einen Ko.llrakt hergestellt^ wurden; durch Satzung, nicht sagten die alten Soph.so. .in Gegensatz zu den wahren Philosophen, die erkannten, daß Familie und Staat sah°Pf»ngm der Natur oder Gottes seien. Hier wäre auch r.ehe.ger als es Se.it.ere we zu zeigen, was die „Mystik des Unbewußten", w.e sie sich e. Har um... sinde. mit diesen. Gegensatze zu schaffen hat und n.ehe zu schaffen hat. D.ches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/527>, abgerufen am 27.06.2024.