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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik

zu dieser Kunst nicht so leicht. Etwas schmerzlich Fremdartiges liegt über
vielen dieser Verse, hinter denen eine eigne, die Freiheit suchende, weibliche
Persönlichkeit steht. Und obwohl, wie der für mein Gefühl trotz seiner Wahr¬
haftigkeit nicht schöne Titel es sagt, hier eine volle Beichte abgelegt wird,
fehlt dem Buche durchaus jenes sensationelle Element, an das eine bestimmte
weibliche Schule uus hat gewöhnen wollen; es ist die Beichte einer Seele,
die sich, mit ihrem Meister Dehmel zu sprechen, "in alle Tiefen prüfen"
will, aber aus diesen Tiefen als eine wirkliche Künstlerin und ein echtes
Weib nur Edelgut hervorzuholen weiß. Symbolisch wirkt deshalb der Aus¬
klang des reichen Buches, er trägt wiederum ein Dehmelsches Motto:

Noch steigt die Flut

[Beginn Spaltensatz]
Die Wogen strömen herrlich daher,
Voll Sonnenflut,
Weil auf dem Wasser
Der Himmel ruht.
Die steigende Flut
Will der Sonne nach;
Und den Damm hinan
Springt der Wellenschlag. [Spaltenumbruch] Er zerreißt des Strandes
steinerne Brust
Und sät im Lande
Werdelust. Noch steigt die Flut --:
Und wenn sie füllt,
Danke ihr, befruchtet,
Eine Welt. [Ende Spaltensatz]

Wer die erzählenden Schöpfungen von Ricard" Huch liebt, ja einige von
ihnen für Meisterwerke neuerer deutscher Prosaepik hält, wird nicht ohne leise
Enttäuschung ihre Gedichte aus der Hand legen, die in diesem Jahre in
zweiter, vermehrter Auflage (bei 5). Haessel in Leipzig) zugleich mit einem
Bändchen "Neue Gedichte" (Inselverlag in Leipzig) erschienen sind. Der jungen
Lyrikerin mochten schiefe Bilder, selbst trivale Tropen hingehn, wie sie ins¬
besondre in den kleinen Liebcsreimen nur zu oft vorkommen; der reifen
Künstlerin gegenüber täten wir Unrecht, wenn wir nicht beharrlich auf solche
Mängel, die ihr Werk entstellen, hinwiesen. Wir haben dazu ein um so
größeres Recht, da wir auch in der Lyrik hier und da den echten Herzton
der Dichterin spüren, wie in dem bekannten Gedicht "Sehnsucht" oder in den
Prachtvollen Versen, worin der alte Salomo sein "Alles ist eitel" mit der
ganzen, etwas starren Plastik variiert, die der Verfasserin des "Ludolf Ursleu"
und der "Triumphgasse" eigen ist.

Ein befreundeter Lyriker schrieb mir einmal, es wäre der Fehler so vieler
Kritiker, daß sie beständig annähmen, der Dichter müsse sich in jedem Bande


Grenzboten II 1908 62
Neue Lyrik

zu dieser Kunst nicht so leicht. Etwas schmerzlich Fremdartiges liegt über
vielen dieser Verse, hinter denen eine eigne, die Freiheit suchende, weibliche
Persönlichkeit steht. Und obwohl, wie der für mein Gefühl trotz seiner Wahr¬
haftigkeit nicht schöne Titel es sagt, hier eine volle Beichte abgelegt wird,
fehlt dem Buche durchaus jenes sensationelle Element, an das eine bestimmte
weibliche Schule uus hat gewöhnen wollen; es ist die Beichte einer Seele,
die sich, mit ihrem Meister Dehmel zu sprechen, „in alle Tiefen prüfen"
will, aber aus diesen Tiefen als eine wirkliche Künstlerin und ein echtes
Weib nur Edelgut hervorzuholen weiß. Symbolisch wirkt deshalb der Aus¬
klang des reichen Buches, er trägt wiederum ein Dehmelsches Motto:

Noch steigt die Flut

[Beginn Spaltensatz]
Die Wogen strömen herrlich daher,
Voll Sonnenflut,
Weil auf dem Wasser
Der Himmel ruht.
Die steigende Flut
Will der Sonne nach;
Und den Damm hinan
Springt der Wellenschlag. [Spaltenumbruch] Er zerreißt des Strandes
steinerne Brust
Und sät im Lande
Werdelust. Noch steigt die Flut —:
Und wenn sie füllt,
Danke ihr, befruchtet,
Eine Welt. [Ende Spaltensatz]

Wer die erzählenden Schöpfungen von Ricard« Huch liebt, ja einige von
ihnen für Meisterwerke neuerer deutscher Prosaepik hält, wird nicht ohne leise
Enttäuschung ihre Gedichte aus der Hand legen, die in diesem Jahre in
zweiter, vermehrter Auflage (bei 5). Haessel in Leipzig) zugleich mit einem
Bändchen „Neue Gedichte" (Inselverlag in Leipzig) erschienen sind. Der jungen
Lyrikerin mochten schiefe Bilder, selbst trivale Tropen hingehn, wie sie ins¬
besondre in den kleinen Liebcsreimen nur zu oft vorkommen; der reifen
Künstlerin gegenüber täten wir Unrecht, wenn wir nicht beharrlich auf solche
Mängel, die ihr Werk entstellen, hinwiesen. Wir haben dazu ein um so
größeres Recht, da wir auch in der Lyrik hier und da den echten Herzton
der Dichterin spüren, wie in dem bekannten Gedicht „Sehnsucht" oder in den
Prachtvollen Versen, worin der alte Salomo sein „Alles ist eitel" mit der
ganzen, etwas starren Plastik variiert, die der Verfasserin des „Ludolf Ursleu"
und der „Triumphgasse" eigen ist.

Ein befreundeter Lyriker schrieb mir einmal, es wäre der Fehler so vieler
Kritiker, daß sie beständig annähmen, der Dichter müsse sich in jedem Bande


Grenzboten II 1908 62
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[0489] Neue Lyrik zu dieser Kunst nicht so leicht. Etwas schmerzlich Fremdartiges liegt über vielen dieser Verse, hinter denen eine eigne, die Freiheit suchende, weibliche Persönlichkeit steht. Und obwohl, wie der für mein Gefühl trotz seiner Wahr¬ haftigkeit nicht schöne Titel es sagt, hier eine volle Beichte abgelegt wird, fehlt dem Buche durchaus jenes sensationelle Element, an das eine bestimmte weibliche Schule uus hat gewöhnen wollen; es ist die Beichte einer Seele, die sich, mit ihrem Meister Dehmel zu sprechen, „in alle Tiefen prüfen" will, aber aus diesen Tiefen als eine wirkliche Künstlerin und ein echtes Weib nur Edelgut hervorzuholen weiß. Symbolisch wirkt deshalb der Aus¬ klang des reichen Buches, er trägt wiederum ein Dehmelsches Motto: Noch steigt die Flut Die Wogen strömen herrlich daher, Voll Sonnenflut, Weil auf dem Wasser Der Himmel ruht. Die steigende Flut Will der Sonne nach; Und den Damm hinan Springt der Wellenschlag. Er zerreißt des Strandes steinerne Brust Und sät im Lande Werdelust. Noch steigt die Flut —: Und wenn sie füllt, Danke ihr, befruchtet, Eine Welt. Wer die erzählenden Schöpfungen von Ricard« Huch liebt, ja einige von ihnen für Meisterwerke neuerer deutscher Prosaepik hält, wird nicht ohne leise Enttäuschung ihre Gedichte aus der Hand legen, die in diesem Jahre in zweiter, vermehrter Auflage (bei 5). Haessel in Leipzig) zugleich mit einem Bändchen „Neue Gedichte" (Inselverlag in Leipzig) erschienen sind. Der jungen Lyrikerin mochten schiefe Bilder, selbst trivale Tropen hingehn, wie sie ins¬ besondre in den kleinen Liebcsreimen nur zu oft vorkommen; der reifen Künstlerin gegenüber täten wir Unrecht, wenn wir nicht beharrlich auf solche Mängel, die ihr Werk entstellen, hinwiesen. Wir haben dazu ein um so größeres Recht, da wir auch in der Lyrik hier und da den echten Herzton der Dichterin spüren, wie in dem bekannten Gedicht „Sehnsucht" oder in den Prachtvollen Versen, worin der alte Salomo sein „Alles ist eitel" mit der ganzen, etwas starren Plastik variiert, die der Verfasserin des „Ludolf Ursleu" und der „Triumphgasse" eigen ist. Ein befreundeter Lyriker schrieb mir einmal, es wäre der Fehler so vieler Kritiker, daß sie beständig annähmen, der Dichter müsse sich in jedem Bande Grenzboten II 1908 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/489>, abgerufen am 20.06.2024.