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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik

mit Haut und Haaren geben, anstatt daß sie herausfühlten, wie ein solcher
Reigen von Gedichten nur in geschlossenen Akkorden die Weise eines Lebens¬
kreises ertönen lassen könne. Gerade auch von dieser Anschauung her ist mir der
schmale Band der Neuen Gedichte von Ricarda Huch lieber als der umfangreichere
alte, worin ohne jede künstlerische Gruppierung ein zu buntes Durcheinander

herrscht.


Der Becher klingt; mein Herz ist der Becher;
Trink Liebe, trinke dich satt!

Dieser Auftakt eröffnet das Buch und wird rein durchgehalten, so rein,
daß einige Verstiegenhciten, die auch hier nicht fehlen, den Eindruck des Ganzen
kaum beeinträchtigen können.

Es tut mir leid, aber ich kann mir das Wort Verstiegenheit auch nicht
ersparen gegenüber den "Neuen Gedichten" von Rainer Maria Rilke (Insel-
Verlag); es tut mir deshalb leid, weil ich Rilke für einen der begabtesten
jüngern Lyriker halte, die wir heute haben. Wer Verse gemacht hat, wie sie
zum Beispiel der Band "Mir zur Feier" (1900) enthält, hat so viel zu sagen,
daß er es nicht nötig hätte, Bilder zu brauchen wie dies:


Und legte seine Stirne voller Staub
Tief in das Staubigsein der heißen Hände.

Das ist nicht Reichtum, sondern aufgezierte Sucht nach unnötig aparten
Ausdruck. Wie wenig gerade Rilke so gesuchten Ausdruck nötig hat, auch
wenn er Ungewöhnliches schildern will, beweist ein so wundervoll in sich ge¬
sättigtes Gedicht wie "Die Erblindende".

Sie saß so wie die anderen beim Tee.
Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse
Ein wenig anders als die andern fasse.
Sie lächelte einmal. Es tat fast weh.
Und als man schließlich sich erhob und sprach
Und langsam und wie es der Zufall brachte
Durch viele Zimmer ging (man sprach und lachte),
Da sah ich sie. Sie ging den andern nach,
Verhalten, so wie eine, welche gleich
Wird singen müssen und vor vielen Leuten;
Auf ihren hellen Augen, die sich freuten,
War Licht von außen wie auf einem Teich.
Sie folgte langsam, und sie brauchte lang,
Als wäre etwas noch nicht überstiegen;
Und doch: als ob, nach einem Übergang,
Sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen.

Neue Lyrik

mit Haut und Haaren geben, anstatt daß sie herausfühlten, wie ein solcher
Reigen von Gedichten nur in geschlossenen Akkorden die Weise eines Lebens¬
kreises ertönen lassen könne. Gerade auch von dieser Anschauung her ist mir der
schmale Band der Neuen Gedichte von Ricarda Huch lieber als der umfangreichere
alte, worin ohne jede künstlerische Gruppierung ein zu buntes Durcheinander

herrscht.


Der Becher klingt; mein Herz ist der Becher;
Trink Liebe, trinke dich satt!

Dieser Auftakt eröffnet das Buch und wird rein durchgehalten, so rein,
daß einige Verstiegenhciten, die auch hier nicht fehlen, den Eindruck des Ganzen
kaum beeinträchtigen können.

Es tut mir leid, aber ich kann mir das Wort Verstiegenheit auch nicht
ersparen gegenüber den „Neuen Gedichten" von Rainer Maria Rilke (Insel-
Verlag); es tut mir deshalb leid, weil ich Rilke für einen der begabtesten
jüngern Lyriker halte, die wir heute haben. Wer Verse gemacht hat, wie sie
zum Beispiel der Band „Mir zur Feier" (1900) enthält, hat so viel zu sagen,
daß er es nicht nötig hätte, Bilder zu brauchen wie dies:


Und legte seine Stirne voller Staub
Tief in das Staubigsein der heißen Hände.

Das ist nicht Reichtum, sondern aufgezierte Sucht nach unnötig aparten
Ausdruck. Wie wenig gerade Rilke so gesuchten Ausdruck nötig hat, auch
wenn er Ungewöhnliches schildern will, beweist ein so wundervoll in sich ge¬
sättigtes Gedicht wie „Die Erblindende".

Sie saß so wie die anderen beim Tee.
Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse
Ein wenig anders als die andern fasse.
Sie lächelte einmal. Es tat fast weh.
Und als man schließlich sich erhob und sprach
Und langsam und wie es der Zufall brachte
Durch viele Zimmer ging (man sprach und lachte),
Da sah ich sie. Sie ging den andern nach,
Verhalten, so wie eine, welche gleich
Wird singen müssen und vor vielen Leuten;
Auf ihren hellen Augen, die sich freuten,
War Licht von außen wie auf einem Teich.
Sie folgte langsam, und sie brauchte lang,
Als wäre etwas noch nicht überstiegen;
Und doch: als ob, nach einem Übergang,
Sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen.

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[0490] Neue Lyrik mit Haut und Haaren geben, anstatt daß sie herausfühlten, wie ein solcher Reigen von Gedichten nur in geschlossenen Akkorden die Weise eines Lebens¬ kreises ertönen lassen könne. Gerade auch von dieser Anschauung her ist mir der schmale Band der Neuen Gedichte von Ricarda Huch lieber als der umfangreichere alte, worin ohne jede künstlerische Gruppierung ein zu buntes Durcheinander herrscht. Der Becher klingt; mein Herz ist der Becher; Trink Liebe, trinke dich satt! Dieser Auftakt eröffnet das Buch und wird rein durchgehalten, so rein, daß einige Verstiegenhciten, die auch hier nicht fehlen, den Eindruck des Ganzen kaum beeinträchtigen können. Es tut mir leid, aber ich kann mir das Wort Verstiegenheit auch nicht ersparen gegenüber den „Neuen Gedichten" von Rainer Maria Rilke (Insel- Verlag); es tut mir deshalb leid, weil ich Rilke für einen der begabtesten jüngern Lyriker halte, die wir heute haben. Wer Verse gemacht hat, wie sie zum Beispiel der Band „Mir zur Feier" (1900) enthält, hat so viel zu sagen, daß er es nicht nötig hätte, Bilder zu brauchen wie dies: Und legte seine Stirne voller Staub Tief in das Staubigsein der heißen Hände. Das ist nicht Reichtum, sondern aufgezierte Sucht nach unnötig aparten Ausdruck. Wie wenig gerade Rilke so gesuchten Ausdruck nötig hat, auch wenn er Ungewöhnliches schildern will, beweist ein so wundervoll in sich ge¬ sättigtes Gedicht wie „Die Erblindende". Sie saß so wie die anderen beim Tee. Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse Ein wenig anders als die andern fasse. Sie lächelte einmal. Es tat fast weh. Und als man schließlich sich erhob und sprach Und langsam und wie es der Zufall brachte Durch viele Zimmer ging (man sprach und lachte), Da sah ich sie. Sie ging den andern nach, Verhalten, so wie eine, welche gleich Wird singen müssen und vor vielen Leuten; Auf ihren hellen Augen, die sich freuten, War Licht von außen wie auf einem Teich. Sie folgte langsam, und sie brauchte lang, Als wäre etwas noch nicht überstiegen; Und doch: als ob, nach einem Übergang, Sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/490>, abgerufen am 20.06.2024.