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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik

verstorbnen Adalbert von Hanstein geschichtlich überaus wertvollen Werk "Das
Jüngste Deutschland" die Entstehung und die Anfänge der jüngsten Bewegung
verfolgen, so kann uns sogar eine leichte Wehmut befallen (trotz allen Un¬
arten solcher Zeit), daß nun gar so viel des Spiritus verflogen ist. Dafür
müssen wir aber immer wieder feststellen, daß. im Gegensatz freilich zum
Drama und zur Novelle, der Roman und die Lyrik heut eine Durchschnitts-
Höhe erreicht haben, auf der manches gute Buch schon die Beachtung nicht
mehr findet, deren es in ürmern Zeiten gewiß wäre; das Versepos scheide
ich aus -- es ist durch drei große Dichterpersönlichkeiten zu einer meister¬
haften Vollendung gediehen, steht aber mit ihnen auf einem einsamen Gipfel
für sich.

In der Lyrik ist der Vers im allgemeinen geschmackvoller, der Reim
reiner, der Ausdruck gewählter, oft freilich auch gezierter geworden als früher;
die Wirkung Storms und Liliencrons geht noch immer weiter, auf manche
Jüngere ist Dehmel von großem Einfluß, auf andre Stefan George, der aber
zu schwach ist, als daß er auf den mühsam gezimmerten Balken seiner Kunst
auch noch Fremde tragen könnte, und in der Ballade hat neuerdings Spitteler
wenigstens einen hochbegabten Nachfolger von eigenartigem Stil, den hier
mehrfach charakterisierten Tielo gefunden. Auch Fontanes Balladenart und
die Technik Münchhausens sind wirksam. Dabei aber ist nun unsre jüngere
Lyrik keineswegs nur ein Sammelbecken von Anregungen, sondern sie zählt
auch eine Reihe ganz selbständiger Charakterköpfe, die das Überkommene per¬
sönlich weiter verarbeiten und genug Eignes haben, daß sie als Persönlich¬
keiten erkennbar bestehn bleiben; das schönste Beispiel dieser Art ist Agnes
Miegel.

Diese Dichterin wirkte neben anderm auch dadurch so stark, daß sich in
ihr am deutlichsten unter allen neuern Dichtern Ostpreußens die herbe Gewalt
der eigenartigen Natur dieser Ostmark durch die Kunst ins Leben rang; ihre
Kunst ist große Kunst, die mit tausend Fäden an den Boden der Muttererde
geknüpft ist. Dem stärksten weiblichen Talent, das mir seitdem begegnet ist
-- freilich besteht immer noch ein sehr großer Abstand zwischen ihr und Agnes
Miegel --, der Holsteinerin Elisabeth Paulsen würde man kaum ihre engere
Heimat anmerken. Aber ihr Gedichtband "Juugfrauenbeichte" (I. Bensheimer,
Mannheim) ist jedenfalls die Probe einer sehr starken dichterischen Begabung.
Elisabeth Paulsen fehlt schon hier, im ersten Buch fast alles Dilettantische,
sie ist auf jeder Seite ihrer in einem innern Zusammenhang gewordnen und
gegebnen Dichtungen durchaus Künstlerin. Sehr merkwürdig ist ihre Technik:
sie hat wenige und sehr einfache Reime, aber einen natürlichen, fein ins Ohr
fallenden Rhythmus. Stark beeinflußt erscheint sie von Dehmel, hier und da
auch von Nietzsche. Banalitäten fehlen fast völlig, und alle Bilder sind wirklich
geschaut und dann von leichtschasfender Hand hingestellt. Und obwohl hier
nichts mit Hebeln und mit Schrauben abgewonnen ist, öffnet sich der Eingang


Neue Lyrik

verstorbnen Adalbert von Hanstein geschichtlich überaus wertvollen Werk „Das
Jüngste Deutschland" die Entstehung und die Anfänge der jüngsten Bewegung
verfolgen, so kann uns sogar eine leichte Wehmut befallen (trotz allen Un¬
arten solcher Zeit), daß nun gar so viel des Spiritus verflogen ist. Dafür
müssen wir aber immer wieder feststellen, daß. im Gegensatz freilich zum
Drama und zur Novelle, der Roman und die Lyrik heut eine Durchschnitts-
Höhe erreicht haben, auf der manches gute Buch schon die Beachtung nicht
mehr findet, deren es in ürmern Zeiten gewiß wäre; das Versepos scheide
ich aus — es ist durch drei große Dichterpersönlichkeiten zu einer meister¬
haften Vollendung gediehen, steht aber mit ihnen auf einem einsamen Gipfel
für sich.

In der Lyrik ist der Vers im allgemeinen geschmackvoller, der Reim
reiner, der Ausdruck gewählter, oft freilich auch gezierter geworden als früher;
die Wirkung Storms und Liliencrons geht noch immer weiter, auf manche
Jüngere ist Dehmel von großem Einfluß, auf andre Stefan George, der aber
zu schwach ist, als daß er auf den mühsam gezimmerten Balken seiner Kunst
auch noch Fremde tragen könnte, und in der Ballade hat neuerdings Spitteler
wenigstens einen hochbegabten Nachfolger von eigenartigem Stil, den hier
mehrfach charakterisierten Tielo gefunden. Auch Fontanes Balladenart und
die Technik Münchhausens sind wirksam. Dabei aber ist nun unsre jüngere
Lyrik keineswegs nur ein Sammelbecken von Anregungen, sondern sie zählt
auch eine Reihe ganz selbständiger Charakterköpfe, die das Überkommene per¬
sönlich weiter verarbeiten und genug Eignes haben, daß sie als Persönlich¬
keiten erkennbar bestehn bleiben; das schönste Beispiel dieser Art ist Agnes
Miegel.

Diese Dichterin wirkte neben anderm auch dadurch so stark, daß sich in
ihr am deutlichsten unter allen neuern Dichtern Ostpreußens die herbe Gewalt
der eigenartigen Natur dieser Ostmark durch die Kunst ins Leben rang; ihre
Kunst ist große Kunst, die mit tausend Fäden an den Boden der Muttererde
geknüpft ist. Dem stärksten weiblichen Talent, das mir seitdem begegnet ist
— freilich besteht immer noch ein sehr großer Abstand zwischen ihr und Agnes
Miegel —, der Holsteinerin Elisabeth Paulsen würde man kaum ihre engere
Heimat anmerken. Aber ihr Gedichtband „Juugfrauenbeichte" (I. Bensheimer,
Mannheim) ist jedenfalls die Probe einer sehr starken dichterischen Begabung.
Elisabeth Paulsen fehlt schon hier, im ersten Buch fast alles Dilettantische,
sie ist auf jeder Seite ihrer in einem innern Zusammenhang gewordnen und
gegebnen Dichtungen durchaus Künstlerin. Sehr merkwürdig ist ihre Technik:
sie hat wenige und sehr einfache Reime, aber einen natürlichen, fein ins Ohr
fallenden Rhythmus. Stark beeinflußt erscheint sie von Dehmel, hier und da
auch von Nietzsche. Banalitäten fehlen fast völlig, und alle Bilder sind wirklich
geschaut und dann von leichtschasfender Hand hingestellt. Und obwohl hier
nichts mit Hebeln und mit Schrauben abgewonnen ist, öffnet sich der Eingang


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[0488] Neue Lyrik verstorbnen Adalbert von Hanstein geschichtlich überaus wertvollen Werk „Das Jüngste Deutschland" die Entstehung und die Anfänge der jüngsten Bewegung verfolgen, so kann uns sogar eine leichte Wehmut befallen (trotz allen Un¬ arten solcher Zeit), daß nun gar so viel des Spiritus verflogen ist. Dafür müssen wir aber immer wieder feststellen, daß. im Gegensatz freilich zum Drama und zur Novelle, der Roman und die Lyrik heut eine Durchschnitts- Höhe erreicht haben, auf der manches gute Buch schon die Beachtung nicht mehr findet, deren es in ürmern Zeiten gewiß wäre; das Versepos scheide ich aus — es ist durch drei große Dichterpersönlichkeiten zu einer meister¬ haften Vollendung gediehen, steht aber mit ihnen auf einem einsamen Gipfel für sich. In der Lyrik ist der Vers im allgemeinen geschmackvoller, der Reim reiner, der Ausdruck gewählter, oft freilich auch gezierter geworden als früher; die Wirkung Storms und Liliencrons geht noch immer weiter, auf manche Jüngere ist Dehmel von großem Einfluß, auf andre Stefan George, der aber zu schwach ist, als daß er auf den mühsam gezimmerten Balken seiner Kunst auch noch Fremde tragen könnte, und in der Ballade hat neuerdings Spitteler wenigstens einen hochbegabten Nachfolger von eigenartigem Stil, den hier mehrfach charakterisierten Tielo gefunden. Auch Fontanes Balladenart und die Technik Münchhausens sind wirksam. Dabei aber ist nun unsre jüngere Lyrik keineswegs nur ein Sammelbecken von Anregungen, sondern sie zählt auch eine Reihe ganz selbständiger Charakterköpfe, die das Überkommene per¬ sönlich weiter verarbeiten und genug Eignes haben, daß sie als Persönlich¬ keiten erkennbar bestehn bleiben; das schönste Beispiel dieser Art ist Agnes Miegel. Diese Dichterin wirkte neben anderm auch dadurch so stark, daß sich in ihr am deutlichsten unter allen neuern Dichtern Ostpreußens die herbe Gewalt der eigenartigen Natur dieser Ostmark durch die Kunst ins Leben rang; ihre Kunst ist große Kunst, die mit tausend Fäden an den Boden der Muttererde geknüpft ist. Dem stärksten weiblichen Talent, das mir seitdem begegnet ist — freilich besteht immer noch ein sehr großer Abstand zwischen ihr und Agnes Miegel —, der Holsteinerin Elisabeth Paulsen würde man kaum ihre engere Heimat anmerken. Aber ihr Gedichtband „Juugfrauenbeichte" (I. Bensheimer, Mannheim) ist jedenfalls die Probe einer sehr starken dichterischen Begabung. Elisabeth Paulsen fehlt schon hier, im ersten Buch fast alles Dilettantische, sie ist auf jeder Seite ihrer in einem innern Zusammenhang gewordnen und gegebnen Dichtungen durchaus Künstlerin. Sehr merkwürdig ist ihre Technik: sie hat wenige und sehr einfache Reime, aber einen natürlichen, fein ins Ohr fallenden Rhythmus. Stark beeinflußt erscheint sie von Dehmel, hier und da auch von Nietzsche. Banalitäten fehlen fast völlig, und alle Bilder sind wirklich geschaut und dann von leichtschasfender Hand hingestellt. Und obwohl hier nichts mit Hebeln und mit Schrauben abgewonnen ist, öffnet sich der Eingang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/488>, abgerufen am 20.06.2024.