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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Johann vom Kreuz

die unsrer als Prüderie vielfach verspotteten heutigen Sitte zugrunde liegt. Zu
deren Erzeugung haben das Puritanertum mit seiner Angst vor der Sünde und
der Reinlichkeitslnxus der vornehmen Engländer zusammengewirkt. Auf dem
Kontinent sind nun die Sitten bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
in entlegnen Gegenden bis tief ins neunzehnte hinein ungeniert, mitunter
unflätig geblieben. Der Unterschied besteht nur darin, daß der heutige Gebildete
das Natürliche verbirgt, ohne es zu verabscheuen, der katholische Asket dagegen
sowie der Puritaner es loszuwerden sucht. Aber nicht bloß negativ wirkt
der feine ästhetische Sinn; er erzeugt ästhetische Bedürfnisse. Dieses Bedürfnis,
der Drang, Schönes zu sehn, ist so stark, daß er Visionen hervorruft. Teresa
schreibt an einen ihrer Beichtväter, Gott habe ihre Schwäche geschont und ihr,
um sie nicht zu töten, seine volle Herrlichkeit nicht auf einmal sondern nach
und nach enthüllt. "Hochwürden werden meinen, es könne doch keine Kraft
dazu gehören, schöne Hände und ein schönes Antlitz zu beschauen. Aber die
verklärten Leiber sind so schön, ihr übernatürlicher Glanz strahlt so blendend,
daß bei ihrem Anblick die Seele außer sich gerät. Zuerst überfiel mich heiliges
Entsetzen und große Aufregung; allein die Überzeugung von der Gewißheit
und Wahrheit der himmlischen Vision sowie ihre gute Wirkung auf mich
verwandelten sehr bald die Unruhe in ruhige Zuversicht.... Aber kann nicht die
Einbildungskraft solche Visionen erzeugen? Das ist die unmöglichste aller
Unmöglichkeiten. Einen solchen Flug hat unsre Einbildungskraft nicht. Geht
doch schon die Schönheit und die Weiße einer Hand des Herrn über ihr Vor¬
stellungsvermögen." Schöpferin solcher Visionen ist die Sehnsucht nach der
Erlösung von den der irdischen Schönheit anhaftenden UnVollkommenheiten und
von allem mit dem leiblichen Leben verbundnen Widerlicher, von dem "Erdenrest,
zu tragen peinlich (und wär er von Asbest, er ist nicht reinlich)"; die Sehnsucht
nach den "heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen". Für den kritischen
Kantianer Schiller waren diese Formen eben reine Formen; Phantasiebilder, die
die Kunst zu verkörpern strebt, um sich unter Verzichtleistung auf "des Genusses
wandelbare Freuden" durch den schönen Schein über das elende Sein zu er¬
heben oder -- hinwegzutäuschen. (Der Schönheit stille Schattenlande nennt er
das Reich der Gestalten, Formen, Ideale in seinem philosophischen Lehrgedicht,
das er ursprünglich "Das Reich der Schatten" überschrieben hatte.) Den platonisch
gearteten Mystikern waren sie Realitäten.

Solche Realitäten inne zu werden, dazu gehört eine abnorme Steigerung
der Nerventätigkeit, also, wenn man alles Abnorme trank nennen will, Krank¬
heit, wie denn die meisten Visionäre wirklich krank gewesen sind. Die heutigen
Nervenärzte nennen die Krankheit dieser Personen Hysterie. Willy Hellpach
schreibt in seinem Büchlein "Die geistigen Epidemien": "Wenn der Jesuiten-
Pater Hahn in einem merkwürdigen, übrigens dem Index verfallnen Buche den
Versuch gemacht hat, zu beweisen, daß die Visionen der heiligen Teresa über¬
irdische Offenbarungen gewesen sein müßten, weil sie die Inspirationen zu ihrem


Johann vom Kreuz

die unsrer als Prüderie vielfach verspotteten heutigen Sitte zugrunde liegt. Zu
deren Erzeugung haben das Puritanertum mit seiner Angst vor der Sünde und
der Reinlichkeitslnxus der vornehmen Engländer zusammengewirkt. Auf dem
Kontinent sind nun die Sitten bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
in entlegnen Gegenden bis tief ins neunzehnte hinein ungeniert, mitunter
unflätig geblieben. Der Unterschied besteht nur darin, daß der heutige Gebildete
das Natürliche verbirgt, ohne es zu verabscheuen, der katholische Asket dagegen
sowie der Puritaner es loszuwerden sucht. Aber nicht bloß negativ wirkt
der feine ästhetische Sinn; er erzeugt ästhetische Bedürfnisse. Dieses Bedürfnis,
der Drang, Schönes zu sehn, ist so stark, daß er Visionen hervorruft. Teresa
schreibt an einen ihrer Beichtväter, Gott habe ihre Schwäche geschont und ihr,
um sie nicht zu töten, seine volle Herrlichkeit nicht auf einmal sondern nach
und nach enthüllt. „Hochwürden werden meinen, es könne doch keine Kraft
dazu gehören, schöne Hände und ein schönes Antlitz zu beschauen. Aber die
verklärten Leiber sind so schön, ihr übernatürlicher Glanz strahlt so blendend,
daß bei ihrem Anblick die Seele außer sich gerät. Zuerst überfiel mich heiliges
Entsetzen und große Aufregung; allein die Überzeugung von der Gewißheit
und Wahrheit der himmlischen Vision sowie ihre gute Wirkung auf mich
verwandelten sehr bald die Unruhe in ruhige Zuversicht.... Aber kann nicht die
Einbildungskraft solche Visionen erzeugen? Das ist die unmöglichste aller
Unmöglichkeiten. Einen solchen Flug hat unsre Einbildungskraft nicht. Geht
doch schon die Schönheit und die Weiße einer Hand des Herrn über ihr Vor¬
stellungsvermögen." Schöpferin solcher Visionen ist die Sehnsucht nach der
Erlösung von den der irdischen Schönheit anhaftenden UnVollkommenheiten und
von allem mit dem leiblichen Leben verbundnen Widerlicher, von dem „Erdenrest,
zu tragen peinlich (und wär er von Asbest, er ist nicht reinlich)"; die Sehnsucht
nach den „heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen". Für den kritischen
Kantianer Schiller waren diese Formen eben reine Formen; Phantasiebilder, die
die Kunst zu verkörpern strebt, um sich unter Verzichtleistung auf „des Genusses
wandelbare Freuden" durch den schönen Schein über das elende Sein zu er¬
heben oder — hinwegzutäuschen. (Der Schönheit stille Schattenlande nennt er
das Reich der Gestalten, Formen, Ideale in seinem philosophischen Lehrgedicht,
das er ursprünglich „Das Reich der Schatten" überschrieben hatte.) Den platonisch
gearteten Mystikern waren sie Realitäten.

Solche Realitäten inne zu werden, dazu gehört eine abnorme Steigerung
der Nerventätigkeit, also, wenn man alles Abnorme trank nennen will, Krank¬
heit, wie denn die meisten Visionäre wirklich krank gewesen sind. Die heutigen
Nervenärzte nennen die Krankheit dieser Personen Hysterie. Willy Hellpach
schreibt in seinem Büchlein „Die geistigen Epidemien": „Wenn der Jesuiten-
Pater Hahn in einem merkwürdigen, übrigens dem Index verfallnen Buche den
Versuch gemacht hat, zu beweisen, daß die Visionen der heiligen Teresa über¬
irdische Offenbarungen gewesen sein müßten, weil sie die Inspirationen zu ihrem


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[0483] Johann vom Kreuz die unsrer als Prüderie vielfach verspotteten heutigen Sitte zugrunde liegt. Zu deren Erzeugung haben das Puritanertum mit seiner Angst vor der Sünde und der Reinlichkeitslnxus der vornehmen Engländer zusammengewirkt. Auf dem Kontinent sind nun die Sitten bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in entlegnen Gegenden bis tief ins neunzehnte hinein ungeniert, mitunter unflätig geblieben. Der Unterschied besteht nur darin, daß der heutige Gebildete das Natürliche verbirgt, ohne es zu verabscheuen, der katholische Asket dagegen sowie der Puritaner es loszuwerden sucht. Aber nicht bloß negativ wirkt der feine ästhetische Sinn; er erzeugt ästhetische Bedürfnisse. Dieses Bedürfnis, der Drang, Schönes zu sehn, ist so stark, daß er Visionen hervorruft. Teresa schreibt an einen ihrer Beichtväter, Gott habe ihre Schwäche geschont und ihr, um sie nicht zu töten, seine volle Herrlichkeit nicht auf einmal sondern nach und nach enthüllt. „Hochwürden werden meinen, es könne doch keine Kraft dazu gehören, schöne Hände und ein schönes Antlitz zu beschauen. Aber die verklärten Leiber sind so schön, ihr übernatürlicher Glanz strahlt so blendend, daß bei ihrem Anblick die Seele außer sich gerät. Zuerst überfiel mich heiliges Entsetzen und große Aufregung; allein die Überzeugung von der Gewißheit und Wahrheit der himmlischen Vision sowie ihre gute Wirkung auf mich verwandelten sehr bald die Unruhe in ruhige Zuversicht.... Aber kann nicht die Einbildungskraft solche Visionen erzeugen? Das ist die unmöglichste aller Unmöglichkeiten. Einen solchen Flug hat unsre Einbildungskraft nicht. Geht doch schon die Schönheit und die Weiße einer Hand des Herrn über ihr Vor¬ stellungsvermögen." Schöpferin solcher Visionen ist die Sehnsucht nach der Erlösung von den der irdischen Schönheit anhaftenden UnVollkommenheiten und von allem mit dem leiblichen Leben verbundnen Widerlicher, von dem „Erdenrest, zu tragen peinlich (und wär er von Asbest, er ist nicht reinlich)"; die Sehnsucht nach den „heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen". Für den kritischen Kantianer Schiller waren diese Formen eben reine Formen; Phantasiebilder, die die Kunst zu verkörpern strebt, um sich unter Verzichtleistung auf „des Genusses wandelbare Freuden" durch den schönen Schein über das elende Sein zu er¬ heben oder — hinwegzutäuschen. (Der Schönheit stille Schattenlande nennt er das Reich der Gestalten, Formen, Ideale in seinem philosophischen Lehrgedicht, das er ursprünglich „Das Reich der Schatten" überschrieben hatte.) Den platonisch gearteten Mystikern waren sie Realitäten. Solche Realitäten inne zu werden, dazu gehört eine abnorme Steigerung der Nerventätigkeit, also, wenn man alles Abnorme trank nennen will, Krank¬ heit, wie denn die meisten Visionäre wirklich krank gewesen sind. Die heutigen Nervenärzte nennen die Krankheit dieser Personen Hysterie. Willy Hellpach schreibt in seinem Büchlein „Die geistigen Epidemien": „Wenn der Jesuiten- Pater Hahn in einem merkwürdigen, übrigens dem Index verfallnen Buche den Versuch gemacht hat, zu beweisen, daß die Visionen der heiligen Teresa über¬ irdische Offenbarungen gewesen sein müßten, weil sie die Inspirationen zu ihrem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/483>, abgerufen am 20.06.2024.