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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die Rulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur
Zwölftes Jahrhundert
[Beginn Spaltensatz] Der ganze Himmelsraum
Ist wie von Nebelduft erfüllt,
Vom Duft der Pflaumenblütenpracht,
Drum will der Wolkenschleier
Nimmer weichen
Vom Mond der Frühlingsnacht. [Spaltenumbruch] Hoch über dem Gebirge
Ziehn schreiend wilde Gänse
Und tragen auf dem Fittich
Die Wolken, die der Herbstwind
Mit seinem Hauche kräuselt. [Ende Spaltensatz]
Sechzehntes bis achtzehntes Jahrhundert (Epigramme)
[Beginn Spaltensatz] Hört' ich sein Schreien nicht? --
Fürwahr, ich hielt den Reiher
Für einen Streifen Schnee. Es scheint, als wär' er
Ein starrer Klumpen Kälte,
Der nächtliche Mond. Die Astern blühen --
Kommt, Schmetterlinge,
Spielet auf
Buntblumiger Palette! [Spaltenumbruch] Die abgefallne Blüte, dacht' ich,
Kehrt wieder zurück zum Zweige --
Doch war's ein Schmetterling! Ein stiller, öder Teich --
Da plötzlich rauscht's im Wasser:
Es sprang ein Frosch hinein. Beim Niederflattern,
Wie leicht muß ihr zumut sein,
Der Blume des Modus! [Ende Spaltensatz]

Die Hauptstürke der russischen Erzählungskunst bildet die realistische und
die satirische Erzählung, die der japanischen die historische und die humoristische.
Darin spiegelt sich wider die verschiedne Stellung beider Völker in politischer,
kultureller und psychologischer Hinsicht. Der russische Erzähler stellt sich außer¬
halb der Gesellschaft, die er schildert, der japanische stellt sich mitten in sie
hinein. Jener hat immer irgendeine Tendenz, eine soziale, moralische oder der
Kultur, dieser will nur durch die Schilderung wirken, erheiternd und unter¬
haltend; nur selten wird er lehrhaft, mystisch überhaupt nicht. Es ist übrigens
eine höchst auffallende Tatsache: während die hervorragendsten russischen Roman¬
dichter wie Gogol und Tolstoj im spätern Alter einen: ungesunden Moralis¬
mus und Mystizismus, ja Asketismus verfallen (s. Bruckner S. 248 und
357f.), finden wir bei den buddhistischen Japanern eine solche Neigung nicht,
sie sind vielmehr in viel höherm Grade "Kinder der Welt", als man von Orien¬
talen erwarten sollte. Wir greifen zur Charakteristik je einen Hauptvertreter
der historisch-romantischen, der komischen und der realistischen Richtung heraus,
und zwar für die erste Bakin (1767 bis 1848). für die zweite Jkku (1765 bis
1831) und für die dritte Shunsui (1789 bis 1842).

Bakin. dessen Popularität bis in die achtziger Jahre vorhielt, wirkte weniger
durch künstlerische und psychologische als durch technische und sentimentale
Effekte und lyrische Anwandlungen. Er hat sich durchaus dem herrschenden
Durchschnittsgeschmack angepaßt; seine Helden sind konfuzianische Idealmenschen,
die mit moralischem Pathos auftreten und tugendhaft handeln. In seinen
Romanen wimmelt es von Phantastischen Ereignissen, die gestrüppartig durch¬
einander wuchern; es sind nach unserm Begriff mehr Märchen als Erzählungen
und weit ausgesponnen -- sein beliebtester Roman umfaßt 106 Bände --,


Die Rulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur
Zwölftes Jahrhundert
[Beginn Spaltensatz] Der ganze Himmelsraum
Ist wie von Nebelduft erfüllt,
Vom Duft der Pflaumenblütenpracht,
Drum will der Wolkenschleier
Nimmer weichen
Vom Mond der Frühlingsnacht. [Spaltenumbruch] Hoch über dem Gebirge
Ziehn schreiend wilde Gänse
Und tragen auf dem Fittich
Die Wolken, die der Herbstwind
Mit seinem Hauche kräuselt. [Ende Spaltensatz]
Sechzehntes bis achtzehntes Jahrhundert (Epigramme)
[Beginn Spaltensatz] Hört' ich sein Schreien nicht? —
Fürwahr, ich hielt den Reiher
Für einen Streifen Schnee. Es scheint, als wär' er
Ein starrer Klumpen Kälte,
Der nächtliche Mond. Die Astern blühen —
Kommt, Schmetterlinge,
Spielet auf
Buntblumiger Palette! [Spaltenumbruch] Die abgefallne Blüte, dacht' ich,
Kehrt wieder zurück zum Zweige —
Doch war's ein Schmetterling! Ein stiller, öder Teich —
Da plötzlich rauscht's im Wasser:
Es sprang ein Frosch hinein. Beim Niederflattern,
Wie leicht muß ihr zumut sein,
Der Blume des Modus! [Ende Spaltensatz]

Die Hauptstürke der russischen Erzählungskunst bildet die realistische und
die satirische Erzählung, die der japanischen die historische und die humoristische.
Darin spiegelt sich wider die verschiedne Stellung beider Völker in politischer,
kultureller und psychologischer Hinsicht. Der russische Erzähler stellt sich außer¬
halb der Gesellschaft, die er schildert, der japanische stellt sich mitten in sie
hinein. Jener hat immer irgendeine Tendenz, eine soziale, moralische oder der
Kultur, dieser will nur durch die Schilderung wirken, erheiternd und unter¬
haltend; nur selten wird er lehrhaft, mystisch überhaupt nicht. Es ist übrigens
eine höchst auffallende Tatsache: während die hervorragendsten russischen Roman¬
dichter wie Gogol und Tolstoj im spätern Alter einen: ungesunden Moralis¬
mus und Mystizismus, ja Asketismus verfallen (s. Bruckner S. 248 und
357f.), finden wir bei den buddhistischen Japanern eine solche Neigung nicht,
sie sind vielmehr in viel höherm Grade „Kinder der Welt", als man von Orien¬
talen erwarten sollte. Wir greifen zur Charakteristik je einen Hauptvertreter
der historisch-romantischen, der komischen und der realistischen Richtung heraus,
und zwar für die erste Bakin (1767 bis 1848). für die zweite Jkku (1765 bis
1831) und für die dritte Shunsui (1789 bis 1842).

Bakin. dessen Popularität bis in die achtziger Jahre vorhielt, wirkte weniger
durch künstlerische und psychologische als durch technische und sentimentale
Effekte und lyrische Anwandlungen. Er hat sich durchaus dem herrschenden
Durchschnittsgeschmack angepaßt; seine Helden sind konfuzianische Idealmenschen,
die mit moralischem Pathos auftreten und tugendhaft handeln. In seinen
Romanen wimmelt es von Phantastischen Ereignissen, die gestrüppartig durch¬
einander wuchern; es sind nach unserm Begriff mehr Märchen als Erzählungen
und weit ausgesponnen — sein beliebtester Roman umfaßt 106 Bände —,


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[0428] Die Rulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur Zwölftes Jahrhundert Der ganze Himmelsraum Ist wie von Nebelduft erfüllt, Vom Duft der Pflaumenblütenpracht, Drum will der Wolkenschleier Nimmer weichen Vom Mond der Frühlingsnacht. Hoch über dem Gebirge Ziehn schreiend wilde Gänse Und tragen auf dem Fittich Die Wolken, die der Herbstwind Mit seinem Hauche kräuselt. Sechzehntes bis achtzehntes Jahrhundert (Epigramme) Hört' ich sein Schreien nicht? — Fürwahr, ich hielt den Reiher Für einen Streifen Schnee. Es scheint, als wär' er Ein starrer Klumpen Kälte, Der nächtliche Mond. Die Astern blühen — Kommt, Schmetterlinge, Spielet auf Buntblumiger Palette! Die abgefallne Blüte, dacht' ich, Kehrt wieder zurück zum Zweige — Doch war's ein Schmetterling! Ein stiller, öder Teich — Da plötzlich rauscht's im Wasser: Es sprang ein Frosch hinein. Beim Niederflattern, Wie leicht muß ihr zumut sein, Der Blume des Modus! Die Hauptstürke der russischen Erzählungskunst bildet die realistische und die satirische Erzählung, die der japanischen die historische und die humoristische. Darin spiegelt sich wider die verschiedne Stellung beider Völker in politischer, kultureller und psychologischer Hinsicht. Der russische Erzähler stellt sich außer¬ halb der Gesellschaft, die er schildert, der japanische stellt sich mitten in sie hinein. Jener hat immer irgendeine Tendenz, eine soziale, moralische oder der Kultur, dieser will nur durch die Schilderung wirken, erheiternd und unter¬ haltend; nur selten wird er lehrhaft, mystisch überhaupt nicht. Es ist übrigens eine höchst auffallende Tatsache: während die hervorragendsten russischen Roman¬ dichter wie Gogol und Tolstoj im spätern Alter einen: ungesunden Moralis¬ mus und Mystizismus, ja Asketismus verfallen (s. Bruckner S. 248 und 357f.), finden wir bei den buddhistischen Japanern eine solche Neigung nicht, sie sind vielmehr in viel höherm Grade „Kinder der Welt", als man von Orien¬ talen erwarten sollte. Wir greifen zur Charakteristik je einen Hauptvertreter der historisch-romantischen, der komischen und der realistischen Richtung heraus, und zwar für die erste Bakin (1767 bis 1848). für die zweite Jkku (1765 bis 1831) und für die dritte Shunsui (1789 bis 1842). Bakin. dessen Popularität bis in die achtziger Jahre vorhielt, wirkte weniger durch künstlerische und psychologische als durch technische und sentimentale Effekte und lyrische Anwandlungen. Er hat sich durchaus dem herrschenden Durchschnittsgeschmack angepaßt; seine Helden sind konfuzianische Idealmenschen, die mit moralischem Pathos auftreten und tugendhaft handeln. In seinen Romanen wimmelt es von Phantastischen Ereignissen, die gestrüppartig durch¬ einander wuchern; es sind nach unserm Begriff mehr Märchen als Erzählungen und weit ausgesponnen — sein beliebtester Roman umfaßt 106 Bände —,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/428>, abgerufen am 24.07.2024.