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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die Kulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur

des Epikuräers, der einen leichten Lebens- und derben Sinnengenuß liebt, dazu
einen burschikosen, hausbacknen Humor und eine beschaulich-sentimentale Freude
an der Natur. Die japanische Phantasie erschöpft sich also wesentlich in der
Darstellung der bunten Erscheinungswelt, sie ist vorwiegend objektiv gerichtet,
steht also hierin im Gegensatz zu der subjektiven, nach innen gewandten, darum
weniger künstlerischen, aber um so mehr philosophisch-skeptischen russischen Literatur.
Dekadenten hat die japanische Literatur bisher nicht aufzuweisen, und wenn sie
vielfach schlüpfrig ist, so liegt darin mehr der Ausdruck einer naiven Natur¬
freude als einer moralischen Morbidität.

Was also die japanische Literatur im Gegensatz zur russischen kennzeichnet,
ist eine frühe und starke Neigung zur Lyrik, eine Vorliebe für die humoristisch¬
realistische Erzählung und eine besonders hohe Entwicklung des Dramas.

"Zeiten und Menschen waren der Entwicklung einer lebensvollen, ja nur
lebensfähigen Lyrik nicht günstig gewesen. Bei dem Betonen des sozialen
Zweckes der Literatur, wie es seit und durch Bjelinskij Mode wurde, mußte
subjektive Kunst zurücktreten." (Bruckner S- 467.) Demgegenüber ist die ja¬
panische Literatur mit Lyrik gesättigt, und zwar mit einer Lyrik, die uns zeigt,
"daß schon die ältesten Japaner ein lebenslustiges, gesangesfreudiges, selbst¬
bewußtes und kriegerisches Volk waren, von dem wir sehr wohl begreifen, daß
es zwar später die Lehren des weltflüchtigen Buddhismus übernehmen konnte,
sich aber dadurch nicht dauernd um seine Tatkraft bringen ließ" (Florenz S. 12).
Die für die spätere Lyrik so charakteristische Liebe zu sinniger Naturbeobachtung,
"das ewige Schwärmen und Tändeln mit Blumen und Blüten, Vögeln, In¬
sekten, Wind und Mond", das Besingen von Astern, Pflaumen- und Kirsch¬
blüten findet sich erst seit dem achten Jahrhundert und beruht auf chinesischem
Einflüsse, den sie "mit merkwürdiger Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit"
auf sich wirken ließen, sodaß die ihnen ursprünglich fremde Gedanken- und
Gefühlswelt bald "ein wesentliches Element ihrer eignen Seele bildet". Die
Japaner haben denn anch bei ihrer Neigung für die Kleinkunst dieses malerische
Element in den beliebten Kurzgcdichten zu hoher Virtuosität entwickelt. Ich
setze einige Proben her.

Siebentes und achtes Jahrhundert
[Beginn Spaltensatz] Ach, wie könnt' ich allein
Schlafen die lange, lange Nacht,
Lang wie der wallende
Schweif der Kupferfasanen
Auf dem breitfüßigen Berge. [Spaltenumbruch] Dem Liebsten mein
Gedacht' ich sie zu zeigen,
Die Pflaumenblütcn.
Nun schneit's -- und ich vermag nicht
Blüten und Schnee zu scheiden. [Ende Spaltensatz]
Zehntes Jahrhundert
[Beginn Spaltensatz] [Spaltenumbruch]
's ist Abend, meine
Grobe Hütte aus Schilfrohr
Umweht der Herbstwind,
Und aus dem nahen Felde
Rauschen die Reishalmblätter.
[Ende Spaltensatz]
O wie so heiter
Das Mondlicht ist, das zwischen
Den Wolken durchscheint,
Die sich im Wehn des Herbstwinds
Am Firmament ausbreiten!


Die Kulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur

des Epikuräers, der einen leichten Lebens- und derben Sinnengenuß liebt, dazu
einen burschikosen, hausbacknen Humor und eine beschaulich-sentimentale Freude
an der Natur. Die japanische Phantasie erschöpft sich also wesentlich in der
Darstellung der bunten Erscheinungswelt, sie ist vorwiegend objektiv gerichtet,
steht also hierin im Gegensatz zu der subjektiven, nach innen gewandten, darum
weniger künstlerischen, aber um so mehr philosophisch-skeptischen russischen Literatur.
Dekadenten hat die japanische Literatur bisher nicht aufzuweisen, und wenn sie
vielfach schlüpfrig ist, so liegt darin mehr der Ausdruck einer naiven Natur¬
freude als einer moralischen Morbidität.

Was also die japanische Literatur im Gegensatz zur russischen kennzeichnet,
ist eine frühe und starke Neigung zur Lyrik, eine Vorliebe für die humoristisch¬
realistische Erzählung und eine besonders hohe Entwicklung des Dramas.

„Zeiten und Menschen waren der Entwicklung einer lebensvollen, ja nur
lebensfähigen Lyrik nicht günstig gewesen. Bei dem Betonen des sozialen
Zweckes der Literatur, wie es seit und durch Bjelinskij Mode wurde, mußte
subjektive Kunst zurücktreten." (Bruckner S- 467.) Demgegenüber ist die ja¬
panische Literatur mit Lyrik gesättigt, und zwar mit einer Lyrik, die uns zeigt,
„daß schon die ältesten Japaner ein lebenslustiges, gesangesfreudiges, selbst¬
bewußtes und kriegerisches Volk waren, von dem wir sehr wohl begreifen, daß
es zwar später die Lehren des weltflüchtigen Buddhismus übernehmen konnte,
sich aber dadurch nicht dauernd um seine Tatkraft bringen ließ" (Florenz S. 12).
Die für die spätere Lyrik so charakteristische Liebe zu sinniger Naturbeobachtung,
„das ewige Schwärmen und Tändeln mit Blumen und Blüten, Vögeln, In¬
sekten, Wind und Mond", das Besingen von Astern, Pflaumen- und Kirsch¬
blüten findet sich erst seit dem achten Jahrhundert und beruht auf chinesischem
Einflüsse, den sie „mit merkwürdiger Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit"
auf sich wirken ließen, sodaß die ihnen ursprünglich fremde Gedanken- und
Gefühlswelt bald „ein wesentliches Element ihrer eignen Seele bildet". Die
Japaner haben denn anch bei ihrer Neigung für die Kleinkunst dieses malerische
Element in den beliebten Kurzgcdichten zu hoher Virtuosität entwickelt. Ich
setze einige Proben her.

Siebentes und achtes Jahrhundert
[Beginn Spaltensatz] Ach, wie könnt' ich allein
Schlafen die lange, lange Nacht,
Lang wie der wallende
Schweif der Kupferfasanen
Auf dem breitfüßigen Berge. [Spaltenumbruch] Dem Liebsten mein
Gedacht' ich sie zu zeigen,
Die Pflaumenblütcn.
Nun schneit's — und ich vermag nicht
Blüten und Schnee zu scheiden. [Ende Spaltensatz]
Zehntes Jahrhundert
[Beginn Spaltensatz] [Spaltenumbruch]
's ist Abend, meine
Grobe Hütte aus Schilfrohr
Umweht der Herbstwind,
Und aus dem nahen Felde
Rauschen die Reishalmblätter.
[Ende Spaltensatz]
O wie so heiter
Das Mondlicht ist, das zwischen
Den Wolken durchscheint,
Die sich im Wehn des Herbstwinds
Am Firmament ausbreiten!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/427>, abgerufen am 24.07.2024.