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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die Kulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur

hundert noch völlig im argen, so war sie in Japan schon bis ins Volk gedrungen:
"das Volk begann für das Volk zu schreiben".

Faßt man diese grundlegenden Unterschiede fest ins Auge, so wird man
sich von hier aus schon einen Begriff von dem Charakter der russischen und
der japanischen Literatur machen können, in ihrem allgemeinen psychischen Ha¬
bitus wie in den einzelnen Gattungen.

Die russische Literatur nimmt sich neben der japanischen aus wie die Ilias
neben der Odyssee. Dort ist alles von Kampfesstimmung erfüllt und von
Kampfeswogen, von Ruhelosigkeit und Unstetigkeit; es ist der Kampf eines
Volkes, das noch kein festes Kultur- und Lebensideal gefunden hat, dessen
geistiges Leben in keinem festen Punkte ruht, das wie eine Magnetnadel bald
zu dem einen, bald zu dem andern Pol zittert, bald gegen Nußland, bald
gegen Europa kämpft, das seine Vergangenheit verleugnen möchte und doch von
ihr nicht los kann und so in einen Zwiespalt mit sich selbst gerät.

Hier aber herrscht eine friedliche, genußfrohe, mit sich selbst zufriedne, mehr
beschauliche als tatenlustige Stimmung; die Stimmung eines Volkes, das sich in
einem selbstgebauten Hause wohl fühlt und keine Neigung empfindet, dieses
Haus zu zerstören, aber auch keine, sich in diesem Hause ein- und abzuschließen;
eines Volkes, das die Harmonie des Daseins zu schätzen weiß, das auch in
dem freiwilligen Umbildungsprozeß, dem es sich unterzogen hat, keine Knltur-
dissonanzen aufkommen läßt, das vielmehr, in seiner eignen alten Kultur fest
ruhend, nun die fremde zu sich heranzieht und sich assimiliert.

Diesen Unterschied bemerkt man schon in dem Versuch, die Entwicklung
beider Literaturen zu gruppieren: die neunzehn Kapitel, in die Bruckner die
russische Literatur zu bringen suchte, lassen sich schwer unter größere, gemein¬
same Gedanken zusammenfassen; die russische Literatur löst sich in Persönlich¬
keiten auf, von denen jede ihren eignen Weg geht; Puschkin, Gogol, Tolstoj,
Dostojewskij bilden bei ihm eigne Kapitel.

Ganz anders in der japanischen Literatur: diese bildet eine große, unge-
brochne Entwicklungslinie von der ältesten Zeit (bis 792) über das Mittelalter
(792 bis 1601) zu der neuern Zeit (1601 bis 1868). Nur die neueste Zeit,
die des europäischen Einflusses, bezeichnet einen gewissen Bruch mit der Tra¬
dition, ohne aber darum, soweit aus der etwas zu knappen Darstellung auf fünf¬
zehn Seiten erkennbar ist, in eine Feindschaft gegen die eigne Vergangenheit
umzuschlagen. Der friedliche Übergang scheint auch hier gewahrt worden zu
sein, wenn es auch an kleinern Konflikten und Spannungen nicht fehlen kann.

Freilich wird man sagen, daß sich wahre Größe erst unter widerwärtigen
Verhältnissen entfaltet. Soweit man darunter Seelengröße versteht, hat die
russische Literatur diesen Beweis geliefert, rein ästhetisch wird man auch an
ihren bedeutendsten Werken vieles auszusetzen haben. Die japanische Literatur
als ein Kind des Glückes und des Friedens kann freilich nicht an innerer
Gewalt mit der russischen wetteifern; sie zeigt vielmehr nur zu oft die Züge


Die Kulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur

hundert noch völlig im argen, so war sie in Japan schon bis ins Volk gedrungen:
„das Volk begann für das Volk zu schreiben".

Faßt man diese grundlegenden Unterschiede fest ins Auge, so wird man
sich von hier aus schon einen Begriff von dem Charakter der russischen und
der japanischen Literatur machen können, in ihrem allgemeinen psychischen Ha¬
bitus wie in den einzelnen Gattungen.

Die russische Literatur nimmt sich neben der japanischen aus wie die Ilias
neben der Odyssee. Dort ist alles von Kampfesstimmung erfüllt und von
Kampfeswogen, von Ruhelosigkeit und Unstetigkeit; es ist der Kampf eines
Volkes, das noch kein festes Kultur- und Lebensideal gefunden hat, dessen
geistiges Leben in keinem festen Punkte ruht, das wie eine Magnetnadel bald
zu dem einen, bald zu dem andern Pol zittert, bald gegen Nußland, bald
gegen Europa kämpft, das seine Vergangenheit verleugnen möchte und doch von
ihr nicht los kann und so in einen Zwiespalt mit sich selbst gerät.

Hier aber herrscht eine friedliche, genußfrohe, mit sich selbst zufriedne, mehr
beschauliche als tatenlustige Stimmung; die Stimmung eines Volkes, das sich in
einem selbstgebauten Hause wohl fühlt und keine Neigung empfindet, dieses
Haus zu zerstören, aber auch keine, sich in diesem Hause ein- und abzuschließen;
eines Volkes, das die Harmonie des Daseins zu schätzen weiß, das auch in
dem freiwilligen Umbildungsprozeß, dem es sich unterzogen hat, keine Knltur-
dissonanzen aufkommen läßt, das vielmehr, in seiner eignen alten Kultur fest
ruhend, nun die fremde zu sich heranzieht und sich assimiliert.

Diesen Unterschied bemerkt man schon in dem Versuch, die Entwicklung
beider Literaturen zu gruppieren: die neunzehn Kapitel, in die Bruckner die
russische Literatur zu bringen suchte, lassen sich schwer unter größere, gemein¬
same Gedanken zusammenfassen; die russische Literatur löst sich in Persönlich¬
keiten auf, von denen jede ihren eignen Weg geht; Puschkin, Gogol, Tolstoj,
Dostojewskij bilden bei ihm eigne Kapitel.

Ganz anders in der japanischen Literatur: diese bildet eine große, unge-
brochne Entwicklungslinie von der ältesten Zeit (bis 792) über das Mittelalter
(792 bis 1601) zu der neuern Zeit (1601 bis 1868). Nur die neueste Zeit,
die des europäischen Einflusses, bezeichnet einen gewissen Bruch mit der Tra¬
dition, ohne aber darum, soweit aus der etwas zu knappen Darstellung auf fünf¬
zehn Seiten erkennbar ist, in eine Feindschaft gegen die eigne Vergangenheit
umzuschlagen. Der friedliche Übergang scheint auch hier gewahrt worden zu
sein, wenn es auch an kleinern Konflikten und Spannungen nicht fehlen kann.

Freilich wird man sagen, daß sich wahre Größe erst unter widerwärtigen
Verhältnissen entfaltet. Soweit man darunter Seelengröße versteht, hat die
russische Literatur diesen Beweis geliefert, rein ästhetisch wird man auch an
ihren bedeutendsten Werken vieles auszusetzen haben. Die japanische Literatur
als ein Kind des Glückes und des Friedens kann freilich nicht an innerer
Gewalt mit der russischen wetteifern; sie zeigt vielmehr nur zu oft die Züge


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[0426] Die Kulturgrundlagen der russischen und der japanischen Literatur hundert noch völlig im argen, so war sie in Japan schon bis ins Volk gedrungen: „das Volk begann für das Volk zu schreiben". Faßt man diese grundlegenden Unterschiede fest ins Auge, so wird man sich von hier aus schon einen Begriff von dem Charakter der russischen und der japanischen Literatur machen können, in ihrem allgemeinen psychischen Ha¬ bitus wie in den einzelnen Gattungen. Die russische Literatur nimmt sich neben der japanischen aus wie die Ilias neben der Odyssee. Dort ist alles von Kampfesstimmung erfüllt und von Kampfeswogen, von Ruhelosigkeit und Unstetigkeit; es ist der Kampf eines Volkes, das noch kein festes Kultur- und Lebensideal gefunden hat, dessen geistiges Leben in keinem festen Punkte ruht, das wie eine Magnetnadel bald zu dem einen, bald zu dem andern Pol zittert, bald gegen Nußland, bald gegen Europa kämpft, das seine Vergangenheit verleugnen möchte und doch von ihr nicht los kann und so in einen Zwiespalt mit sich selbst gerät. Hier aber herrscht eine friedliche, genußfrohe, mit sich selbst zufriedne, mehr beschauliche als tatenlustige Stimmung; die Stimmung eines Volkes, das sich in einem selbstgebauten Hause wohl fühlt und keine Neigung empfindet, dieses Haus zu zerstören, aber auch keine, sich in diesem Hause ein- und abzuschließen; eines Volkes, das die Harmonie des Daseins zu schätzen weiß, das auch in dem freiwilligen Umbildungsprozeß, dem es sich unterzogen hat, keine Knltur- dissonanzen aufkommen läßt, das vielmehr, in seiner eignen alten Kultur fest ruhend, nun die fremde zu sich heranzieht und sich assimiliert. Diesen Unterschied bemerkt man schon in dem Versuch, die Entwicklung beider Literaturen zu gruppieren: die neunzehn Kapitel, in die Bruckner die russische Literatur zu bringen suchte, lassen sich schwer unter größere, gemein¬ same Gedanken zusammenfassen; die russische Literatur löst sich in Persönlich¬ keiten auf, von denen jede ihren eignen Weg geht; Puschkin, Gogol, Tolstoj, Dostojewskij bilden bei ihm eigne Kapitel. Ganz anders in der japanischen Literatur: diese bildet eine große, unge- brochne Entwicklungslinie von der ältesten Zeit (bis 792) über das Mittelalter (792 bis 1601) zu der neuern Zeit (1601 bis 1868). Nur die neueste Zeit, die des europäischen Einflusses, bezeichnet einen gewissen Bruch mit der Tra¬ dition, ohne aber darum, soweit aus der etwas zu knappen Darstellung auf fünf¬ zehn Seiten erkennbar ist, in eine Feindschaft gegen die eigne Vergangenheit umzuschlagen. Der friedliche Übergang scheint auch hier gewahrt worden zu sein, wenn es auch an kleinern Konflikten und Spannungen nicht fehlen kann. Freilich wird man sagen, daß sich wahre Größe erst unter widerwärtigen Verhältnissen entfaltet. Soweit man darunter Seelengröße versteht, hat die russische Literatur diesen Beweis geliefert, rein ästhetisch wird man auch an ihren bedeutendsten Werken vieles auszusetzen haben. Die japanische Literatur als ein Kind des Glückes und des Friedens kann freilich nicht an innerer Gewalt mit der russischen wetteifern; sie zeigt vielmehr nur zu oft die Züge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/426>, abgerufen am 27.06.2024.