Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ich kehrte wieder zu meiner Familie in Kazelias Haus zurück. Er warnte
mich, mich in der Straße sehen zu lassen. Ich war nämlich auf meiner Wandrung
durch die Stadt einem Manne begegnet, der mir sagte, daß er uns für 28 Rubel
pro Kopf bis nach London befördern würde. Kazelias war augenscheinlich bange,
ich möchte in ehrlichere Hände als die seinen fallen.

Wir fingen dann an, mit ihm über unsre Reise nach London zu sprechen,
denn es ist am Ende noch besser, mit einem Teufel zu unterhandeln, den man
schon kennt, als wie mit einem, den man noch nicht kennt. Er sagte: Es wird
fünfunddreißig Rubel für jeden von euch kosten. Darauf sagte ich: Man hat mir
angeboten, uns für achtundzwanzig Rubel hinzubefördern, aber ich will Ihnen
dreißig geben. -- Hol, hol! rief er darauf. An einem Juden ist jede gute Lehre
verloren! Es ist genau so wie an der Grenze: Sie wollten keine achtzig Rubel
bezahlen, und dann hat es Ihnen das Doppelte gekostet. Es wird Ihnen jetzt
ebenso gehn, Sie wollen es nicht anders. Man darf einem Juden keine Gefällig¬
keit erweisen.

Ich hielt also den Mund und nahm seine Bedingungen an. Aber ich fand,
daß mir fünfundzwanzig Rubel fehlten, um das Ziel unsrer Reise zu erreichen.
Da sagte Kazelias: Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ihnen die fünfundzwanzig
Rubel auf Ihr Gepäck an der Eisenbahn vorschießen, wenn Sie dann in London
sind, können Sie es mir später zurückzahlen. Er nahm mein Bündel und brachte
es an die Eisenbahn. Was er dort getan hat, weiß ich nicht. Er kam zurück und
sagte mir, daß er mir einen Dienst erwiesen habe. (Diesesmal kam es mir wirklich
vor, als ob es ein guter Dienst gewesen sei.) Dann nahm er Kuverts und legte in
jedes das Fahrgeld, das wir an den verschiednen Stationen unsrer Reise zu zahlen
hatten. So erreichten wir endlich den Zug und fuhren fort. An jeder Haupt¬
station bezahlte ich das Fahrgeld aus einem besondern Kuvert. Unsre Mitreisenden
boten den Kindern unterwegs etwas zu essen an, aber wir bewahrten unsern Stolz
und nahmen es nur dann an, wenn es koscher war. Wir reisten mit einer sehr
guten, mitleidigen Jüdin aus Lemberg, die ein Herz von Gold und die köstlichsten
Würstchen bei sich hatte.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches

(Der deutsche Fürstentag in Wien und ein Rückblick auf die Regierung Kaiser
Franz Josephs. Der Schluß des Reichstags und seine Ergebnisse; ein Wort zur
Reichsfinanzreform.)

Das Kaiserjubiläum in Wien am 7. Mai hat sich zu einer höchst eindrucks¬
voller Kundgebung gestaltet, an der die ganze Bevölkerung den wärmsten Anteil
nahm; es war vor allem eine Feier des deutsch-österreichischen Bündnisses. Als
treuen Bundesgenossen und als Muster fürstlicher Pflichterfüllung hat unser Kaiser
den greisen Jubilar begrüßt, und indem dieser selbst sich feierlich zu diesem Bündnis
bekannte, hat er, verzichtend auf jede Erwähnung dessen, was ihm vorausgegangen
ist, ausdrücklich das monarchische Prinzip betont, das den beiden verbündeten
Reichen ihre Festigkeit verbürge. Uns andern aber wird es verstattet sein, einen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ich kehrte wieder zu meiner Familie in Kazelias Haus zurück. Er warnte
mich, mich in der Straße sehen zu lassen. Ich war nämlich auf meiner Wandrung
durch die Stadt einem Manne begegnet, der mir sagte, daß er uns für 28 Rubel
pro Kopf bis nach London befördern würde. Kazelias war augenscheinlich bange,
ich möchte in ehrlichere Hände als die seinen fallen.

Wir fingen dann an, mit ihm über unsre Reise nach London zu sprechen,
denn es ist am Ende noch besser, mit einem Teufel zu unterhandeln, den man
schon kennt, als wie mit einem, den man noch nicht kennt. Er sagte: Es wird
fünfunddreißig Rubel für jeden von euch kosten. Darauf sagte ich: Man hat mir
angeboten, uns für achtundzwanzig Rubel hinzubefördern, aber ich will Ihnen
dreißig geben. — Hol, hol! rief er darauf. An einem Juden ist jede gute Lehre
verloren! Es ist genau so wie an der Grenze: Sie wollten keine achtzig Rubel
bezahlen, und dann hat es Ihnen das Doppelte gekostet. Es wird Ihnen jetzt
ebenso gehn, Sie wollen es nicht anders. Man darf einem Juden keine Gefällig¬
keit erweisen.

Ich hielt also den Mund und nahm seine Bedingungen an. Aber ich fand,
daß mir fünfundzwanzig Rubel fehlten, um das Ziel unsrer Reise zu erreichen.
Da sagte Kazelias: Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ihnen die fünfundzwanzig
Rubel auf Ihr Gepäck an der Eisenbahn vorschießen, wenn Sie dann in London
sind, können Sie es mir später zurückzahlen. Er nahm mein Bündel und brachte
es an die Eisenbahn. Was er dort getan hat, weiß ich nicht. Er kam zurück und
sagte mir, daß er mir einen Dienst erwiesen habe. (Diesesmal kam es mir wirklich
vor, als ob es ein guter Dienst gewesen sei.) Dann nahm er Kuverts und legte in
jedes das Fahrgeld, das wir an den verschiednen Stationen unsrer Reise zu zahlen
hatten. So erreichten wir endlich den Zug und fuhren fort. An jeder Haupt¬
station bezahlte ich das Fahrgeld aus einem besondern Kuvert. Unsre Mitreisenden
boten den Kindern unterwegs etwas zu essen an, aber wir bewahrten unsern Stolz
und nahmen es nur dann an, wenn es koscher war. Wir reisten mit einer sehr
guten, mitleidigen Jüdin aus Lemberg, die ein Herz von Gold und die köstlichsten
Würstchen bei sich hatte.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches

(Der deutsche Fürstentag in Wien und ein Rückblick auf die Regierung Kaiser
Franz Josephs. Der Schluß des Reichstags und seine Ergebnisse; ein Wort zur
Reichsfinanzreform.)

Das Kaiserjubiläum in Wien am 7. Mai hat sich zu einer höchst eindrucks¬
voller Kundgebung gestaltet, an der die ganze Bevölkerung den wärmsten Anteil
nahm; es war vor allem eine Feier des deutsch-österreichischen Bündnisses. Als
treuen Bundesgenossen und als Muster fürstlicher Pflichterfüllung hat unser Kaiser
den greisen Jubilar begrüßt, und indem dieser selbst sich feierlich zu diesem Bündnis
bekannte, hat er, verzichtend auf jede Erwähnung dessen, was ihm vorausgegangen
ist, ausdrücklich das monarchische Prinzip betont, das den beiden verbündeten
Reichen ihre Festigkeit verbürge. Uns andern aber wird es verstattet sein, einen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312035"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1455"> Ich kehrte wieder zu meiner Familie in Kazelias Haus zurück. Er warnte<lb/>
mich, mich in der Straße sehen zu lassen. Ich war nämlich auf meiner Wandrung<lb/>
durch die Stadt einem Manne begegnet, der mir sagte, daß er uns für 28 Rubel<lb/>
pro Kopf bis nach London befördern würde. Kazelias war augenscheinlich bange,<lb/>
ich möchte in ehrlichere Hände als die seinen fallen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1456"> Wir fingen dann an, mit ihm über unsre Reise nach London zu sprechen,<lb/>
denn es ist am Ende noch besser, mit einem Teufel zu unterhandeln, den man<lb/>
schon kennt, als wie mit einem, den man noch nicht kennt. Er sagte: Es wird<lb/>
fünfunddreißig Rubel für jeden von euch kosten. Darauf sagte ich: Man hat mir<lb/>
angeboten, uns für achtundzwanzig Rubel hinzubefördern, aber ich will Ihnen<lb/>
dreißig geben. &#x2014; Hol, hol! rief er darauf. An einem Juden ist jede gute Lehre<lb/>
verloren! Es ist genau so wie an der Grenze: Sie wollten keine achtzig Rubel<lb/>
bezahlen, und dann hat es Ihnen das Doppelte gekostet. Es wird Ihnen jetzt<lb/>
ebenso gehn, Sie wollen es nicht anders. Man darf einem Juden keine Gefällig¬<lb/>
keit erweisen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1457"> Ich hielt also den Mund und nahm seine Bedingungen an. Aber ich fand,<lb/>
daß mir fünfundzwanzig Rubel fehlten, um das Ziel unsrer Reise zu erreichen.<lb/>
Da sagte Kazelias: Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ihnen die fünfundzwanzig<lb/>
Rubel auf Ihr Gepäck an der Eisenbahn vorschießen, wenn Sie dann in London<lb/>
sind, können Sie es mir später zurückzahlen. Er nahm mein Bündel und brachte<lb/>
es an die Eisenbahn. Was er dort getan hat, weiß ich nicht. Er kam zurück und<lb/>
sagte mir, daß er mir einen Dienst erwiesen habe. (Diesesmal kam es mir wirklich<lb/>
vor, als ob es ein guter Dienst gewesen sei.) Dann nahm er Kuverts und legte in<lb/>
jedes das Fahrgeld, das wir an den verschiednen Stationen unsrer Reise zu zahlen<lb/>
hatten. So erreichten wir endlich den Zug und fuhren fort. An jeder Haupt¬<lb/>
station bezahlte ich das Fahrgeld aus einem besondern Kuvert. Unsre Mitreisenden<lb/>
boten den Kindern unterwegs etwas zu essen an, aber wir bewahrten unsern Stolz<lb/>
und nahmen es nur dann an, wenn es koscher war. Wir reisten mit einer sehr<lb/>
guten, mitleidigen Jüdin aus Lemberg, die ein Herz von Gold und die köstlichsten<lb/>
Würstchen bei sich hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1458"> (Fortsetzung folgt)</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <note type="argument"> (Der deutsche Fürstentag in Wien und ein Rückblick auf die Regierung Kaiser<lb/>
Franz Josephs. Der Schluß des Reichstags und seine Ergebnisse; ein Wort zur<lb/>
Reichsfinanzreform.)</note><lb/>
          <p xml:id="ID_1459"> Das Kaiserjubiläum in Wien am 7. Mai hat sich zu einer höchst eindrucks¬<lb/>
voller Kundgebung gestaltet, an der die ganze Bevölkerung den wärmsten Anteil<lb/>
nahm; es war vor allem eine Feier des deutsch-österreichischen Bündnisses. Als<lb/>
treuen Bundesgenossen und als Muster fürstlicher Pflichterfüllung hat unser Kaiser<lb/>
den greisen Jubilar begrüßt, und indem dieser selbst sich feierlich zu diesem Bündnis<lb/>
bekannte, hat er, verzichtend auf jede Erwähnung dessen, was ihm vorausgegangen<lb/>
ist, ausdrücklich das monarchische Prinzip betont, das den beiden verbündeten<lb/>
Reichen ihre Festigkeit verbürge.  Uns andern aber wird es verstattet sein, einen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ich kehrte wieder zu meiner Familie in Kazelias Haus zurück. Er warnte mich, mich in der Straße sehen zu lassen. Ich war nämlich auf meiner Wandrung durch die Stadt einem Manne begegnet, der mir sagte, daß er uns für 28 Rubel pro Kopf bis nach London befördern würde. Kazelias war augenscheinlich bange, ich möchte in ehrlichere Hände als die seinen fallen. Wir fingen dann an, mit ihm über unsre Reise nach London zu sprechen, denn es ist am Ende noch besser, mit einem Teufel zu unterhandeln, den man schon kennt, als wie mit einem, den man noch nicht kennt. Er sagte: Es wird fünfunddreißig Rubel für jeden von euch kosten. Darauf sagte ich: Man hat mir angeboten, uns für achtundzwanzig Rubel hinzubefördern, aber ich will Ihnen dreißig geben. — Hol, hol! rief er darauf. An einem Juden ist jede gute Lehre verloren! Es ist genau so wie an der Grenze: Sie wollten keine achtzig Rubel bezahlen, und dann hat es Ihnen das Doppelte gekostet. Es wird Ihnen jetzt ebenso gehn, Sie wollen es nicht anders. Man darf einem Juden keine Gefällig¬ keit erweisen. Ich hielt also den Mund und nahm seine Bedingungen an. Aber ich fand, daß mir fünfundzwanzig Rubel fehlten, um das Ziel unsrer Reise zu erreichen. Da sagte Kazelias: Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ihnen die fünfundzwanzig Rubel auf Ihr Gepäck an der Eisenbahn vorschießen, wenn Sie dann in London sind, können Sie es mir später zurückzahlen. Er nahm mein Bündel und brachte es an die Eisenbahn. Was er dort getan hat, weiß ich nicht. Er kam zurück und sagte mir, daß er mir einen Dienst erwiesen habe. (Diesesmal kam es mir wirklich vor, als ob es ein guter Dienst gewesen sei.) Dann nahm er Kuverts und legte in jedes das Fahrgeld, das wir an den verschiednen Stationen unsrer Reise zu zahlen hatten. So erreichten wir endlich den Zug und fuhren fort. An jeder Haupt¬ station bezahlte ich das Fahrgeld aus einem besondern Kuvert. Unsre Mitreisenden boten den Kindern unterwegs etwas zu essen an, aber wir bewahrten unsern Stolz und nahmen es nur dann an, wenn es koscher war. Wir reisten mit einer sehr guten, mitleidigen Jüdin aus Lemberg, die ein Herz von Gold und die köstlichsten Würstchen bei sich hatte. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches (Der deutsche Fürstentag in Wien und ein Rückblick auf die Regierung Kaiser Franz Josephs. Der Schluß des Reichstags und seine Ergebnisse; ein Wort zur Reichsfinanzreform.) Das Kaiserjubiläum in Wien am 7. Mai hat sich zu einer höchst eindrucks¬ voller Kundgebung gestaltet, an der die ganze Bevölkerung den wärmsten Anteil nahm; es war vor allem eine Feier des deutsch-österreichischen Bündnisses. Als treuen Bundesgenossen und als Muster fürstlicher Pflichterfüllung hat unser Kaiser den greisen Jubilar begrüßt, und indem dieser selbst sich feierlich zu diesem Bündnis bekannte, hat er, verzichtend auf jede Erwähnung dessen, was ihm vorausgegangen ist, ausdrücklich das monarchische Prinzip betont, das den beiden verbündeten Reichen ihre Festigkeit verbürge. Uns andern aber wird es verstattet sein, einen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/356>, abgerufen am 27.06.2024.