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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Das Tagebuch des Grafen Blumenthal von 1.370/71.

die tatsächlichen Erfolge geben die beiden Bücher des Generals von Müller*),
auch das sehr lesenswerte Buch des Professors Busch**). Jeder, der diese
Werke fachwissenschaftlich zu würdigen weiß, wird sich, wenn er sie mit den
Angaben des Tagebuchs vergleicht, in der Tat der Überzeugung nicht ver¬
schließen können, daß diese nur "von den vielen ungenügend unterrichteten
Lesern für zutreffend angenommen werden" können. Leider gilt das aber nicht
nur von ungenügend unterrichteten Lesern, sondern auch geistig hochstehende
Männer sind allmählich in den Bann der Blumenthalschen Darstellung geraten,
wenn sie***) die Beschießung eine verfehlte Maßregel oder gar einen völligen
Mißerfolg nennen. So schreibt General von Blume auch in seinem neuesten
Werke: Kaiser Wilhelm I. und Roon, daß der Angriff auf Paris "zum Stehn
gekommen" sei, was mit einem Mißerfolge gleichbedeutend wäre. Diese Be¬
hauptungen stehn aber mit den Tatsachen im Widerspruch; der Irrtum rührt
daher, daß diese Herren nur den Südangriff vor Augen haben, über den ja
auch das Tagebuch nur handelt, und ihn mit dem Artillerieangriff identifizieren.
Dieser setzte sich aber aus drei Teilen zusammen, dem Nord-, Süd- und Ost¬
angriff; der Ostangriff blieb Episode, die beiden andern aber bildeten ein
Ganzes, waren von vornherein als solches vorgeschlagen und können auch nur
so gewürdigt werden.

Nun ist es richtig, daß gegen Mitte Januar der Moment eintrat, wo
der erste Auftrag der Belagerungsartillerie (siehe Beschießungsbefehl vom
29. Dezember) beim Südangriff erfüllt war, und nun der zweite Auftrag,
der Bau weiter vorgeschobner Batterien, hätte befohlen werden müssen. Es
war alles dafür vorbereitet, und nach den bisherigen Resultaten war am Er¬
folge nicht zu zweifeln. Der Befehl wurde aber vom König nicht für den Süden
gegeben, sondern für den Norden, weil sich inzwischen herausgestellt hatte, daß
dort die französischen Werke viel weniger stark ausgerüstet waren, also mit
weniger Mitteln und mit geringern Opfern angegriffen werden konnten wie
im Süden. Solche Verschiebungen der Hauptangriffsfront sind wiederholt,
zum Beispiel auch bei Belfort, vorgekommen.

Infolge davon wurde nun im Süden nur ein hinhaltendes Feuergefecht
geführt, im Norden aber der Angriff kraftvoll weiter fortgesetzt, sodaß am
21. Januar vom Könige die Eröffnung des förmlichen Angriffs auf die Nord-





*) v, Müller, Band IV und Ergänzungsheft zu der Beschießung von Paris.
Dr. Busch, Das große Hauptquartier und die Bekämpfung von Paris. Die Denk¬
würdigkeiten des Prinzen Hohenlohe: Aus meinem Leben, Band IV, haben die erhofften Auf¬
klärungen nicht gebracht. Es ist allseitig erkannt worden, daß Band IV erst nach langem
Zwischenraum, ohne schriftliche Notizen, nur nach dem Gedächtnis niedergeschrieben worden
ist. Er enthält deshalb so viele offenbare Irrtümer, sodaß er als Geschichtsquelle nicht an¬
zusehen ist.
"*) Siehe z, B, Preußische Jahrbücher Februar 1903, oder von Blume im Militär¬
wochenblatt von Januar 1902.
Das Tagebuch des Grafen Blumenthal von 1.370/71.

die tatsächlichen Erfolge geben die beiden Bücher des Generals von Müller*),
auch das sehr lesenswerte Buch des Professors Busch**). Jeder, der diese
Werke fachwissenschaftlich zu würdigen weiß, wird sich, wenn er sie mit den
Angaben des Tagebuchs vergleicht, in der Tat der Überzeugung nicht ver¬
schließen können, daß diese nur „von den vielen ungenügend unterrichteten
Lesern für zutreffend angenommen werden" können. Leider gilt das aber nicht
nur von ungenügend unterrichteten Lesern, sondern auch geistig hochstehende
Männer sind allmählich in den Bann der Blumenthalschen Darstellung geraten,
wenn sie***) die Beschießung eine verfehlte Maßregel oder gar einen völligen
Mißerfolg nennen. So schreibt General von Blume auch in seinem neuesten
Werke: Kaiser Wilhelm I. und Roon, daß der Angriff auf Paris „zum Stehn
gekommen" sei, was mit einem Mißerfolge gleichbedeutend wäre. Diese Be¬
hauptungen stehn aber mit den Tatsachen im Widerspruch; der Irrtum rührt
daher, daß diese Herren nur den Südangriff vor Augen haben, über den ja
auch das Tagebuch nur handelt, und ihn mit dem Artillerieangriff identifizieren.
Dieser setzte sich aber aus drei Teilen zusammen, dem Nord-, Süd- und Ost¬
angriff; der Ostangriff blieb Episode, die beiden andern aber bildeten ein
Ganzes, waren von vornherein als solches vorgeschlagen und können auch nur
so gewürdigt werden.

Nun ist es richtig, daß gegen Mitte Januar der Moment eintrat, wo
der erste Auftrag der Belagerungsartillerie (siehe Beschießungsbefehl vom
29. Dezember) beim Südangriff erfüllt war, und nun der zweite Auftrag,
der Bau weiter vorgeschobner Batterien, hätte befohlen werden müssen. Es
war alles dafür vorbereitet, und nach den bisherigen Resultaten war am Er¬
folge nicht zu zweifeln. Der Befehl wurde aber vom König nicht für den Süden
gegeben, sondern für den Norden, weil sich inzwischen herausgestellt hatte, daß
dort die französischen Werke viel weniger stark ausgerüstet waren, also mit
weniger Mitteln und mit geringern Opfern angegriffen werden konnten wie
im Süden. Solche Verschiebungen der Hauptangriffsfront sind wiederholt,
zum Beispiel auch bei Belfort, vorgekommen.

Infolge davon wurde nun im Süden nur ein hinhaltendes Feuergefecht
geführt, im Norden aber der Angriff kraftvoll weiter fortgesetzt, sodaß am
21. Januar vom Könige die Eröffnung des förmlichen Angriffs auf die Nord-





*) v, Müller, Band IV und Ergänzungsheft zu der Beschießung von Paris.
Dr. Busch, Das große Hauptquartier und die Bekämpfung von Paris. Die Denk¬
würdigkeiten des Prinzen Hohenlohe: Aus meinem Leben, Band IV, haben die erhofften Auf¬
klärungen nicht gebracht. Es ist allseitig erkannt worden, daß Band IV erst nach langem
Zwischenraum, ohne schriftliche Notizen, nur nach dem Gedächtnis niedergeschrieben worden
ist. Er enthält deshalb so viele offenbare Irrtümer, sodaß er als Geschichtsquelle nicht an¬
zusehen ist.
"*) Siehe z, B, Preußische Jahrbücher Februar 1903, oder von Blume im Militär¬
wochenblatt von Januar 1902.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/323>, abgerufen am 04.07.2024.