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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Lr und Sie

tyrannischen Liebhabern. Allem blieb sein Gemüt offen, was echt und groß ist.
Der Parzival war das letzte Erlebnis, das ihn mit Begeisterung durchglühte.
Die Erinnerung an die Bayreuther Stunden trug bis in den Todestag hinein
sein Gemüt auf Adlersfittichen.

Die tiefste Erquickung aber hatte er dann, wenn er die Empfindungsfülle
liebend ergießen konnte, wenn das Erbarmen aus seiner Seele quoll, wenn seine
überwältigende Freundlichkeit ein verzagtes Gemüt mit Zuversicht erfüllte, wenn
an feiner stählenden Willenskraft ein willensschwacher Mensch sich aufrichtete.
Es zog ihn zu den Ohnmächtigen, Armen, Kleinen unwiderstehlich hin, und
edelste Humanität war die Seele seiner ärztlichen Kunst.

Das Heiligtum seiner eignen Seele aber war sein Haus. Inmitten von
Weib und Kind war er unsäglich beglückt, hat er unsäglich beglückt.

Oswald Vierordt wußte, daß fein Herz gefährdet war, und er war auf
ein frühes, plötzliches Ende gefaßt. Er hat die Sorge allein und heldenhaft
getragen. Sonst in allen Dingen äußern Lebens sein eigner Diener, duldete er,
daß man sich für ihn bücke: dies war das einzige Anzeichen, das er den Seinigen
gab. Seine Arbeit deshalb einzuschränken, sein Leben deshalb zu verlangsamen,
kam ihm nicht in den Sinn, so wenig als jener Läufer von Marathon, den
ihm ein dankbarer Mensch ans den Flügel gestellt hat, daran dachte, den Lauf
zu hemmen, weil ihm der Atem versagte.

Als Oswald Vierordt das Herz brach -- just in dem Augenblick, wo die
Kollegen im Saale nebenan ihn durch Zuruf zum Präsidenten ihrer Versamm¬
lung beriefen --, da mag daheim im stillen Arbeitszimmer des Sterbenden der
erzene Lorbeer in der Hand des athenischen Jünglings geleuchtet haben und
durch die geöffneten Lippen der Laut geflogen sein, den auszurufen sich der
Bote zu Tode gelaufen hat: Sieg!




Gr und Hie
Rudolf Uleinpaul von

! meer diesem Titel wird gewöhnlich der Roman eines Liebespaars
verstanden; zum Beispiel die Geschichte des Dichters Alfred
de Musset und der George Sand. Ich meine weiter nichts als
die deutschen Anredefürwörter Er und Sie, die an Stelle des ein¬
fachen Du getreten sind, das Erzen und das Siezen.

Das Er hat sich in Deutschland schon wieder überlebt. Friedrich der Große
nannte bekanntlich noch jeden Menschen Er; aber schon der alte Heim verbat sich
das von der Prinzessin Ferdinand von Preußen, als sie ihn zum Leibarzt haben
wollte. Es sei nicht mehr zeitgemäß; er nenne nicht einmal seinen Stiefelputzer Er.


Grenzboten I 1908 12
Lr und Sie

tyrannischen Liebhabern. Allem blieb sein Gemüt offen, was echt und groß ist.
Der Parzival war das letzte Erlebnis, das ihn mit Begeisterung durchglühte.
Die Erinnerung an die Bayreuther Stunden trug bis in den Todestag hinein
sein Gemüt auf Adlersfittichen.

Die tiefste Erquickung aber hatte er dann, wenn er die Empfindungsfülle
liebend ergießen konnte, wenn das Erbarmen aus seiner Seele quoll, wenn seine
überwältigende Freundlichkeit ein verzagtes Gemüt mit Zuversicht erfüllte, wenn
an feiner stählenden Willenskraft ein willensschwacher Mensch sich aufrichtete.
Es zog ihn zu den Ohnmächtigen, Armen, Kleinen unwiderstehlich hin, und
edelste Humanität war die Seele seiner ärztlichen Kunst.

Das Heiligtum seiner eignen Seele aber war sein Haus. Inmitten von
Weib und Kind war er unsäglich beglückt, hat er unsäglich beglückt.

Oswald Vierordt wußte, daß fein Herz gefährdet war, und er war auf
ein frühes, plötzliches Ende gefaßt. Er hat die Sorge allein und heldenhaft
getragen. Sonst in allen Dingen äußern Lebens sein eigner Diener, duldete er,
daß man sich für ihn bücke: dies war das einzige Anzeichen, das er den Seinigen
gab. Seine Arbeit deshalb einzuschränken, sein Leben deshalb zu verlangsamen,
kam ihm nicht in den Sinn, so wenig als jener Läufer von Marathon, den
ihm ein dankbarer Mensch ans den Flügel gestellt hat, daran dachte, den Lauf
zu hemmen, weil ihm der Atem versagte.

Als Oswald Vierordt das Herz brach — just in dem Augenblick, wo die
Kollegen im Saale nebenan ihn durch Zuruf zum Präsidenten ihrer Versamm¬
lung beriefen —, da mag daheim im stillen Arbeitszimmer des Sterbenden der
erzene Lorbeer in der Hand des athenischen Jünglings geleuchtet haben und
durch die geöffneten Lippen der Laut geflogen sein, den auszurufen sich der
Bote zu Tode gelaufen hat: Sieg!




Gr und Hie
Rudolf Uleinpaul von

! meer diesem Titel wird gewöhnlich der Roman eines Liebespaars
verstanden; zum Beispiel die Geschichte des Dichters Alfred
de Musset und der George Sand. Ich meine weiter nichts als
die deutschen Anredefürwörter Er und Sie, die an Stelle des ein¬
fachen Du getreten sind, das Erzen und das Siezen.

Das Er hat sich in Deutschland schon wieder überlebt. Friedrich der Große
nannte bekanntlich noch jeden Menschen Er; aber schon der alte Heim verbat sich
das von der Prinzessin Ferdinand von Preußen, als sie ihn zum Leibarzt haben
wollte. Es sei nicht mehr zeitgemäß; er nenne nicht einmal seinen Stiefelputzer Er.


Grenzboten I 1908 12
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[0093] Lr und Sie tyrannischen Liebhabern. Allem blieb sein Gemüt offen, was echt und groß ist. Der Parzival war das letzte Erlebnis, das ihn mit Begeisterung durchglühte. Die Erinnerung an die Bayreuther Stunden trug bis in den Todestag hinein sein Gemüt auf Adlersfittichen. Die tiefste Erquickung aber hatte er dann, wenn er die Empfindungsfülle liebend ergießen konnte, wenn das Erbarmen aus seiner Seele quoll, wenn seine überwältigende Freundlichkeit ein verzagtes Gemüt mit Zuversicht erfüllte, wenn an feiner stählenden Willenskraft ein willensschwacher Mensch sich aufrichtete. Es zog ihn zu den Ohnmächtigen, Armen, Kleinen unwiderstehlich hin, und edelste Humanität war die Seele seiner ärztlichen Kunst. Das Heiligtum seiner eignen Seele aber war sein Haus. Inmitten von Weib und Kind war er unsäglich beglückt, hat er unsäglich beglückt. Oswald Vierordt wußte, daß fein Herz gefährdet war, und er war auf ein frühes, plötzliches Ende gefaßt. Er hat die Sorge allein und heldenhaft getragen. Sonst in allen Dingen äußern Lebens sein eigner Diener, duldete er, daß man sich für ihn bücke: dies war das einzige Anzeichen, das er den Seinigen gab. Seine Arbeit deshalb einzuschränken, sein Leben deshalb zu verlangsamen, kam ihm nicht in den Sinn, so wenig als jener Läufer von Marathon, den ihm ein dankbarer Mensch ans den Flügel gestellt hat, daran dachte, den Lauf zu hemmen, weil ihm der Atem versagte. Als Oswald Vierordt das Herz brach — just in dem Augenblick, wo die Kollegen im Saale nebenan ihn durch Zuruf zum Präsidenten ihrer Versamm¬ lung beriefen —, da mag daheim im stillen Arbeitszimmer des Sterbenden der erzene Lorbeer in der Hand des athenischen Jünglings geleuchtet haben und durch die geöffneten Lippen der Laut geflogen sein, den auszurufen sich der Bote zu Tode gelaufen hat: Sieg! Gr und Hie Rudolf Uleinpaul von ! meer diesem Titel wird gewöhnlich der Roman eines Liebespaars verstanden; zum Beispiel die Geschichte des Dichters Alfred de Musset und der George Sand. Ich meine weiter nichts als die deutschen Anredefürwörter Er und Sie, die an Stelle des ein¬ fachen Du getreten sind, das Erzen und das Siezen. Das Er hat sich in Deutschland schon wieder überlebt. Friedrich der Große nannte bekanntlich noch jeden Menschen Er; aber schon der alte Heim verbat sich das von der Prinzessin Ferdinand von Preußen, als sie ihn zum Leibarzt haben wollte. Es sei nicht mehr zeitgemäß; er nenne nicht einmal seinen Stiefelputzer Er. Grenzboten I 1908 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/93>, abgerufen am 22.07.2024.