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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Lr und Sie

Ebenso braucht man das Sie im Singular nur noch ausnahmsweise, etwa einer
Bauersfrau oder einer Bediensteten gegenüber. Das Sie im Plural, verbunden
mit dem Verbum in der dritten Person des Plurals, ist heute noch Regel.

Wie kommt man dazu, einen Menschen in der dritten Person und noch
dazu im Plural anzureden? Warum nennen wir uns nicht Du?

Im Anfange duzten sich alle Menschen, wie dies das Natürlichste ist, und
wie das auch die Kinder tun. Das Du ist eben dazu da, den Menschen anzureden.
Wenn ihrer mehrere sind, so sagt man Ihr, wie der Herzogregent von Mecklenburg,
der im September 1900 die zu einer militärischen Übung einberufnen Lehrer ihrzte;
oder wie der Graf Mirbach, der Oberhofmeister der Kaiserin, der am 3. No¬
vember 1900 an die beim Bau des Augustastiftes beschäftigten Arbeiter eine
Ansprache hielt und sie dabei mit Ihr anredete. Patriarchalische Völker brauchen
diese ehrwürdigen Pronomina noch heute, zum Beispiel die Tiroler, die Wa-
lachen und die Polen. Die schwedischen Dalekarlier sind dafür bekannt, daß sie
selbst den König mit Du anreden -- wir nennen alle Menschen Du, nur Dich
nicht, versicherte so ein alter Talkerl Seine Majestät den König Oskar den
Ersten. Zum König sagen sie nämlich, wie weiland Horaz zum Kaiser
Augustus: Deine Majestät.

Die Tiroler kokettieren ein wenig mit ihrem Du, besonders außerhalb
Tirols; aber in den dortigen Dorfschulen wird selbst der Lehrer von den
Schülern Du genannt. Eines Tages wurde Inspektion durch den Bischof an¬
gesagt; damit die Kinder nicht etwa auch diesen duzten, prägte ihnen der Lehrer
ein, daß sie: Eure bischöfliche Gnaden zu sagen hätten. Als nun besagter Ober¬
hirte einen Buben fragte: Wie lautet das siebente Gebot? -- antwortete der
Kleine: Eure bischöfliche Gnaden sollen nicht stehlen! Das erinnert daran, wie
einmal der Kammerdiener des Königs Friedrich Wilhelm des Ersten, als er ihm
den Abendsegen vorlas, das Du durch Sie ersetzen wollte. Er las: Der Herr
segne Sie und behüte Sie! -- Hundsfott, lies richtig, schalt der König, vor
dem lieben Gott bin ich ein Hundsfott wie Du! Auch einzelne religiöse Sekten
haben das Du zur Übung christlicher Einfachheit und Brüderlichkeit beibehalten
oder vielmehr wieder eingeführt. So namentlich die Quäker, die auch vor keinem
Menschen den Hut abnehmen. Sie tun das, obgleich in England das Wörtchen
?d.<in zu den seltensten Ausnahmen gehört.

Aber Europens übertünchte Höflichkeit brachte nachgerade dieses unter¬
schiedslose, anbiedernde Duzen in Verruf. Mit der Zeit wird es so, daß sich
nur noch gesellschaftlich Gleichstehende, sozusagen die Pairs untereinander mit
Du anreden. Alle Monarchen duzen sich gegenseitig; Kaiser Wilhelm redete
nicht nur den König Milan vor seiner Abdankung, sondern auch den Fürsten
Hohenlohe in Briefen und Telegrammen mit Du an. Er duzt neuerdings auch
den Reichskanzler Fürsten Bülow, und wenn er sich im Kreise seiner Korps¬
brüder, der Bonner Borussen befindet, duzt er diese. Im österreichisch-ungarischen
Heere besteht die Sitte, daß Offiziere, die ungefähr denselben Rang bekleiden,
einander gleich bei der ersten Begegnung, auch wenn sie sich nicht kennen, mit


Lr und Sie

Ebenso braucht man das Sie im Singular nur noch ausnahmsweise, etwa einer
Bauersfrau oder einer Bediensteten gegenüber. Das Sie im Plural, verbunden
mit dem Verbum in der dritten Person des Plurals, ist heute noch Regel.

Wie kommt man dazu, einen Menschen in der dritten Person und noch
dazu im Plural anzureden? Warum nennen wir uns nicht Du?

Im Anfange duzten sich alle Menschen, wie dies das Natürlichste ist, und
wie das auch die Kinder tun. Das Du ist eben dazu da, den Menschen anzureden.
Wenn ihrer mehrere sind, so sagt man Ihr, wie der Herzogregent von Mecklenburg,
der im September 1900 die zu einer militärischen Übung einberufnen Lehrer ihrzte;
oder wie der Graf Mirbach, der Oberhofmeister der Kaiserin, der am 3. No¬
vember 1900 an die beim Bau des Augustastiftes beschäftigten Arbeiter eine
Ansprache hielt und sie dabei mit Ihr anredete. Patriarchalische Völker brauchen
diese ehrwürdigen Pronomina noch heute, zum Beispiel die Tiroler, die Wa-
lachen und die Polen. Die schwedischen Dalekarlier sind dafür bekannt, daß sie
selbst den König mit Du anreden — wir nennen alle Menschen Du, nur Dich
nicht, versicherte so ein alter Talkerl Seine Majestät den König Oskar den
Ersten. Zum König sagen sie nämlich, wie weiland Horaz zum Kaiser
Augustus: Deine Majestät.

Die Tiroler kokettieren ein wenig mit ihrem Du, besonders außerhalb
Tirols; aber in den dortigen Dorfschulen wird selbst der Lehrer von den
Schülern Du genannt. Eines Tages wurde Inspektion durch den Bischof an¬
gesagt; damit die Kinder nicht etwa auch diesen duzten, prägte ihnen der Lehrer
ein, daß sie: Eure bischöfliche Gnaden zu sagen hätten. Als nun besagter Ober¬
hirte einen Buben fragte: Wie lautet das siebente Gebot? — antwortete der
Kleine: Eure bischöfliche Gnaden sollen nicht stehlen! Das erinnert daran, wie
einmal der Kammerdiener des Königs Friedrich Wilhelm des Ersten, als er ihm
den Abendsegen vorlas, das Du durch Sie ersetzen wollte. Er las: Der Herr
segne Sie und behüte Sie! — Hundsfott, lies richtig, schalt der König, vor
dem lieben Gott bin ich ein Hundsfott wie Du! Auch einzelne religiöse Sekten
haben das Du zur Übung christlicher Einfachheit und Brüderlichkeit beibehalten
oder vielmehr wieder eingeführt. So namentlich die Quäker, die auch vor keinem
Menschen den Hut abnehmen. Sie tun das, obgleich in England das Wörtchen
?d.<in zu den seltensten Ausnahmen gehört.

Aber Europens übertünchte Höflichkeit brachte nachgerade dieses unter¬
schiedslose, anbiedernde Duzen in Verruf. Mit der Zeit wird es so, daß sich
nur noch gesellschaftlich Gleichstehende, sozusagen die Pairs untereinander mit
Du anreden. Alle Monarchen duzen sich gegenseitig; Kaiser Wilhelm redete
nicht nur den König Milan vor seiner Abdankung, sondern auch den Fürsten
Hohenlohe in Briefen und Telegrammen mit Du an. Er duzt neuerdings auch
den Reichskanzler Fürsten Bülow, und wenn er sich im Kreise seiner Korps¬
brüder, der Bonner Borussen befindet, duzt er diese. Im österreichisch-ungarischen
Heere besteht die Sitte, daß Offiziere, die ungefähr denselben Rang bekleiden,
einander gleich bei der ersten Begegnung, auch wenn sie sich nicht kennen, mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/94>, abgerufen am 22.07.2024.