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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der preußische Staat und die polnische Frage

seiner unrichtigen Information über die Einzelheiten der Lage in seiner Ge¬
samtauffassung der Polenfrage der Wahrheit immer noch näher als alle andern;
wieder bewährte sich die Sicherheit seines staatsmännischen Blicks für die großen
historischen Zusammenhänge.

Auch die Ansiedlungskommission mußte also zuerst tastend ihren Weg
suchen, da die ihr gegebnen Direktiven mit der Wirklichkeit nicht überein¬
stimmten. Zugleich bereitete sich eine neue Organisation der Polen auf wirt¬
schaftlicher Grundlage vor. Einige Jahre später setzte die Caprivische Ver¬
söhnungspolitik ein und mit ihr zugleich eine wahrhaft fieberhafte Tätigkeit
der Polen, um die Gunst der Zeit auszunutzen. Man muß diese Periode in
der Provinz Posen erlebt haben -- wie es mir zufällig vergönnt gewesen ist --,
um es für möglich zu halten, daß alle diese in ihrem Ziele gar nicht zu ver¬
kennenden Anstrengungen der Polen für ihre Sache bei der Mehrheit der
Deutschen einer geradezu beispiellosen Indolenz und Ahnungslosigkeit begegneten.
Erst 1894 wuchs mehr unter dem Eindruck allgemeinpolitischer Verhältnisse
als aus der Einsicht in die Natur der polnischen Bestrebungen eine stärkere
Unzufriedenheit und Sorge empor, und jetzt war es der von Bismarck aus¬
gehende Impuls, der bei der Huldigungsfahrt der Posener nach Varzin die
Anregung zur Gründung des Ostmarkenvereins gab. Aber die Anfänge
dieser Vereinstätigkeit, die die Deutschen in den Ostmarken endlich zum Ver¬
ständnis ihrer Lage brachte, stießen in den ersten Jahren bei den Behörden
auf das stärkste Mißvergnügen. Der Oberpräsident von Posen führte einen
stillen Krieg gegen den Verein, der den alten heillosen Schlendrian des ruhigen
Stillhaltens der Deutschen bei allen Bemühungen der Polen, sich auf ihre
und des Staats Kosten auszubreiten, so unbequem störte. Aber zwei preußische
Staatsmänner an bedeutsamen, verantwortlichen Stellen halfen verständnisvoll
dem jungen Verein über die Klippen hinweg. Das waren Staatsminister
von Goßler, der Oberprüsident von Westpreußen, und Johannes von Miquel.
Es wird zu den dauernden Ruhmestiteln dieser Männer gehören, daß sie in
der preußischen Staatsregierung den ersten festen Grund zu einem vollen Ver¬
ständnis der polnischen Frage gelegt haben.

Der Rücktritt Miquels und die zunehmende Kränklichkeit Goßlers, der
im September 1902 starb, brachten noch einmal eine kleine Schwankung, in¬
zwischen aber hatte auch der neue Reichskanzler von Bülow eine feste Stellung
zu der Frage gewonnen. Schon im Januar 1902 hatte er vor dem Abge¬
ordnetenhause sein Programm entwickelt; es war das erstemal, daß ein
leitender Staatsmann Preußens die gesamte Aufgabe des Staats gegenüber
dem Polentum mit vollem Verständnis der wahren Natur der Frage darlegte.

Man kann sich diese Sachlage nicht scharf und deutlich genug klar machen.
Seit dem Jahre 1815, das heißt seit bald dreiundneunzig Jahren,
haben die Polen an nichts andres gedacht und für nichts andres gearbeitet
als für die Bewahrung ihres Volkstums im Sinne ihrer nationalen Geschichte,


Der preußische Staat und die polnische Frage

seiner unrichtigen Information über die Einzelheiten der Lage in seiner Ge¬
samtauffassung der Polenfrage der Wahrheit immer noch näher als alle andern;
wieder bewährte sich die Sicherheit seines staatsmännischen Blicks für die großen
historischen Zusammenhänge.

Auch die Ansiedlungskommission mußte also zuerst tastend ihren Weg
suchen, da die ihr gegebnen Direktiven mit der Wirklichkeit nicht überein¬
stimmten. Zugleich bereitete sich eine neue Organisation der Polen auf wirt¬
schaftlicher Grundlage vor. Einige Jahre später setzte die Caprivische Ver¬
söhnungspolitik ein und mit ihr zugleich eine wahrhaft fieberhafte Tätigkeit
der Polen, um die Gunst der Zeit auszunutzen. Man muß diese Periode in
der Provinz Posen erlebt haben — wie es mir zufällig vergönnt gewesen ist —,
um es für möglich zu halten, daß alle diese in ihrem Ziele gar nicht zu ver¬
kennenden Anstrengungen der Polen für ihre Sache bei der Mehrheit der
Deutschen einer geradezu beispiellosen Indolenz und Ahnungslosigkeit begegneten.
Erst 1894 wuchs mehr unter dem Eindruck allgemeinpolitischer Verhältnisse
als aus der Einsicht in die Natur der polnischen Bestrebungen eine stärkere
Unzufriedenheit und Sorge empor, und jetzt war es der von Bismarck aus¬
gehende Impuls, der bei der Huldigungsfahrt der Posener nach Varzin die
Anregung zur Gründung des Ostmarkenvereins gab. Aber die Anfänge
dieser Vereinstätigkeit, die die Deutschen in den Ostmarken endlich zum Ver¬
ständnis ihrer Lage brachte, stießen in den ersten Jahren bei den Behörden
auf das stärkste Mißvergnügen. Der Oberpräsident von Posen führte einen
stillen Krieg gegen den Verein, der den alten heillosen Schlendrian des ruhigen
Stillhaltens der Deutschen bei allen Bemühungen der Polen, sich auf ihre
und des Staats Kosten auszubreiten, so unbequem störte. Aber zwei preußische
Staatsmänner an bedeutsamen, verantwortlichen Stellen halfen verständnisvoll
dem jungen Verein über die Klippen hinweg. Das waren Staatsminister
von Goßler, der Oberprüsident von Westpreußen, und Johannes von Miquel.
Es wird zu den dauernden Ruhmestiteln dieser Männer gehören, daß sie in
der preußischen Staatsregierung den ersten festen Grund zu einem vollen Ver¬
ständnis der polnischen Frage gelegt haben.

Der Rücktritt Miquels und die zunehmende Kränklichkeit Goßlers, der
im September 1902 starb, brachten noch einmal eine kleine Schwankung, in¬
zwischen aber hatte auch der neue Reichskanzler von Bülow eine feste Stellung
zu der Frage gewonnen. Schon im Januar 1902 hatte er vor dem Abge¬
ordnetenhause sein Programm entwickelt; es war das erstemal, daß ein
leitender Staatsmann Preußens die gesamte Aufgabe des Staats gegenüber
dem Polentum mit vollem Verständnis der wahren Natur der Frage darlegte.

Man kann sich diese Sachlage nicht scharf und deutlich genug klar machen.
Seit dem Jahre 1815, das heißt seit bald dreiundneunzig Jahren,
haben die Polen an nichts andres gedacht und für nichts andres gearbeitet
als für die Bewahrung ihres Volkstums im Sinne ihrer nationalen Geschichte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/70>, abgerufen am 01.07.2024.