Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.Der preußische Staat und die polnische Frage gewöhnlichem Weitblick in Angriff nahm. Es war eine glückliche Idee, die Friedrich Wilhelm der Vierte hat dann bekanntlich schon in seinem ersten Nach 1363, der Zeit des abermals mißglückter polnischen Aufstands, trat Grenzboten I 1308 9
Der preußische Staat und die polnische Frage gewöhnlichem Weitblick in Angriff nahm. Es war eine glückliche Idee, die Friedrich Wilhelm der Vierte hat dann bekanntlich schon in seinem ersten Nach 1363, der Zeit des abermals mißglückter polnischen Aufstands, trat Grenzboten I 1308 9
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311150"/> <fw type="header" place="top"> Der preußische Staat und die polnische Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_271" prev="#ID_270"> gewöhnlichem Weitblick in Angriff nahm. Es war eine glückliche Idee, die<lb/> dem Polentum große Bedrängnis schuf und zum erstenmale wirksam ihre<lb/> Kreise störte, und so wird auch die Nachwelt diesem tapfern und verdienten<lb/> Staatsmanne den wärmsten Dank schulden müssen. Aber es gibt eine Seite<lb/> der Polenfrage, die auch Flottwell unterschätzt hat. Auch er sah die Haupt¬<lb/> gefahr in dem wirtschaftlich verlotterten, unruhigen und ehrgeizigen Adel, den<lb/> er im Interesse der Wohlfahrt der ihm anvertrauten Provinz auf gesetzlichem<lb/> Wege möglichst beseitigen wollte. Das sich im stillen vorbereitende Erstarken der<lb/> polnischen Nationalität, einer nationalen Gesamtheit, die trotz tiefem Fall noch<lb/> nicht gestorben war und ebenso aus dem Gerechtigkeitssinne der preußischen<lb/> Verwaltung wie aus ihrer eignen geschichtlichen Vergangenheit neue Kraft zog,<lb/> sah auch Flottwell nicht, sonst hätte dieser bedeutende und weitschauende Vor¬<lb/> kämpfer des Deutschtums niemals der Mitschöpfer und Protektor des Marcin-<lb/> kowskivereins werden können. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man be¬<lb/> hauptet, daß der Kern der preußischen Polenfrage auch in dieser Zeit von der<lb/> preußischen Staatsregierung nicht recht erfaßt worden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_272"> Friedrich Wilhelm der Vierte hat dann bekanntlich schon in seinem ersten<lb/> Negierungsjcchr, den Einflüsterungen kurzsichtiger Politiker und offenbarer<lb/> Polenfreunde folgend. Flottwell abberufen und jene unheilvolle Politik der<lb/> Versöhnungsversuche, der Schwankungen und Fehlgriffe begonnen, die im<lb/> Sturmjahre 1848 sogar zu Rebellion und Blutvergießen führte. Der könig¬<lb/> liche Romantiker hat auch später den bittern Ernst dieses nationalen Kampfes<lb/> nie zu erkennen vermocht. Als Freund historischer Besonderheiten hatte er<lb/> für diese heißblütigen, unruhigen Frondeurs im Grunde seines Herzens mancherlei<lb/> übrig, da er das Volk für treu hielt und in seinem Selbstbewußtsein als Trüger<lb/> der preußischen Staatssouverüuitüt mit ihnen leicht fertig zu werden glaubte.</p><lb/> <p xml:id="ID_273" next="#ID_274"> Nach 1363, der Zeit des abermals mißglückter polnischen Aufstands, trat<lb/> die polnische Frage wieder mehr in den Hintergrund. Die Polen bedurften<lb/> nach dem Zusammenbrechen ihrer frühern Leitung neuer Vorbereitungen, und<lb/> Preußen stand vor der Lösung der Frage der deutschen Einheit. Erst der<lb/> Kulturkampf lenkte die Aufmerksamkeit Bismarcks wieder auf die polnische<lb/> Frage. Die Frucht der Erfahrungen dieser Zeit ist das Ansiedlungsgesetz<lb/> von 1886. Bismarck knüpfte unmittelbar an die Ideen Flottwells an. Es<lb/> tut der Bewunderung des großen Staatsmanns keinen Eintrag, wenn wir heute<lb/> erkennen müssen, daß er die Lage und die Kräfte des Polentums falsch ein¬<lb/> geschätzt hat. In ihm lebte noch das Bild früherer Jahrzehnte: der leicht¬<lb/> sinnige, verrottete polnische Szlachcic als einzig unruhiges Element über und<lb/> neben einer treuen, dem preußischen Staate dankbaren und gehorsamen pol¬<lb/> nischen Volksmasse. Bezeichnender als dieser für Bismarck verzeihliche Irrtum<lb/> ist die Tatsache, daß unter den hochgestellten, verantwortlichen preußischen Be¬<lb/> amten niemand war, der ihn korrigieren konnte. Die ganze Frage war der<lb/> preußischen Verwaltung ein höhnisches Dorf. Bismarck selbst aber kam trotz</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1308 9</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0069]
Der preußische Staat und die polnische Frage
gewöhnlichem Weitblick in Angriff nahm. Es war eine glückliche Idee, die
dem Polentum große Bedrängnis schuf und zum erstenmale wirksam ihre
Kreise störte, und so wird auch die Nachwelt diesem tapfern und verdienten
Staatsmanne den wärmsten Dank schulden müssen. Aber es gibt eine Seite
der Polenfrage, die auch Flottwell unterschätzt hat. Auch er sah die Haupt¬
gefahr in dem wirtschaftlich verlotterten, unruhigen und ehrgeizigen Adel, den
er im Interesse der Wohlfahrt der ihm anvertrauten Provinz auf gesetzlichem
Wege möglichst beseitigen wollte. Das sich im stillen vorbereitende Erstarken der
polnischen Nationalität, einer nationalen Gesamtheit, die trotz tiefem Fall noch
nicht gestorben war und ebenso aus dem Gerechtigkeitssinne der preußischen
Verwaltung wie aus ihrer eignen geschichtlichen Vergangenheit neue Kraft zog,
sah auch Flottwell nicht, sonst hätte dieser bedeutende und weitschauende Vor¬
kämpfer des Deutschtums niemals der Mitschöpfer und Protektor des Marcin-
kowskivereins werden können. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man be¬
hauptet, daß der Kern der preußischen Polenfrage auch in dieser Zeit von der
preußischen Staatsregierung nicht recht erfaßt worden ist.
Friedrich Wilhelm der Vierte hat dann bekanntlich schon in seinem ersten
Negierungsjcchr, den Einflüsterungen kurzsichtiger Politiker und offenbarer
Polenfreunde folgend. Flottwell abberufen und jene unheilvolle Politik der
Versöhnungsversuche, der Schwankungen und Fehlgriffe begonnen, die im
Sturmjahre 1848 sogar zu Rebellion und Blutvergießen führte. Der könig¬
liche Romantiker hat auch später den bittern Ernst dieses nationalen Kampfes
nie zu erkennen vermocht. Als Freund historischer Besonderheiten hatte er
für diese heißblütigen, unruhigen Frondeurs im Grunde seines Herzens mancherlei
übrig, da er das Volk für treu hielt und in seinem Selbstbewußtsein als Trüger
der preußischen Staatssouverüuitüt mit ihnen leicht fertig zu werden glaubte.
Nach 1363, der Zeit des abermals mißglückter polnischen Aufstands, trat
die polnische Frage wieder mehr in den Hintergrund. Die Polen bedurften
nach dem Zusammenbrechen ihrer frühern Leitung neuer Vorbereitungen, und
Preußen stand vor der Lösung der Frage der deutschen Einheit. Erst der
Kulturkampf lenkte die Aufmerksamkeit Bismarcks wieder auf die polnische
Frage. Die Frucht der Erfahrungen dieser Zeit ist das Ansiedlungsgesetz
von 1886. Bismarck knüpfte unmittelbar an die Ideen Flottwells an. Es
tut der Bewunderung des großen Staatsmanns keinen Eintrag, wenn wir heute
erkennen müssen, daß er die Lage und die Kräfte des Polentums falsch ein¬
geschätzt hat. In ihm lebte noch das Bild früherer Jahrzehnte: der leicht¬
sinnige, verrottete polnische Szlachcic als einzig unruhiges Element über und
neben einer treuen, dem preußischen Staate dankbaren und gehorsamen pol¬
nischen Volksmasse. Bezeichnender als dieser für Bismarck verzeihliche Irrtum
ist die Tatsache, daß unter den hochgestellten, verantwortlichen preußischen Be¬
amten niemand war, der ihn korrigieren konnte. Die ganze Frage war der
preußischen Verwaltung ein höhnisches Dorf. Bismarck selbst aber kam trotz
Grenzboten I 1308 9
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |