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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der preußische Staat und die polnische Frage

und für die künftige Wiedererstehung ihres Nationalstaats; sie sind stetig ihren
Weg gegangen, ohne auch nur die geringste innere Verpflichtung für das
staatliche Gemeinwesen zu empfinden, dem sie äußerlich angehören; sie haben
sich durch nichts beirren lassen. Im Jahre 1902, das heißt vor fünf
Jahren, hat die preußische Staatsregierung das erste wirklich umfassende
und auf voller Kenntnis der Lage beruhende Programm aufgestellt, das eine
dauernde Tätigkeit zur Lösung des schwierigen Problems verspricht. Ge¬
mildert wird dieses schroffe Mißverhältnis nur durch die Tätigkeit der An-
siedlungskommission, die dem Namen nach seit zwanzig Jahren arbeitet. Aber
auch hier müssen die Lehrjahre, das heißt mindestens zehn Jahre, in Abzug
gebracht werden.

Man vergegenwärtige sich das alles ganz genau und überlege sich, was
es heißt, daß der preußische Staat achtzig und mehr Jahre vergeudet hat,
während die Polen diese Zeit ausnützten, einen Staat im Staate mit allen
Mitteln, über die ein 17 Millionen zählendes, selbstbewußtes Volk mit neun-
hundertjühriger Geschichte verfügt, zu gründen. Und dann frage man sich
ehrlich, was unter solchen Umständen die Urteile wert sind, die schon jetzt aus
den kleinen Mißerfolgen und Schwierigkeiten, die natürlich unvermeidlich sind,
die Berechtigung entnehmen, dem preußischen Staat zur Umkehr in seiner Ost¬
markenpolitik zu raten.

Ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, wie hoch ich die Arbeit von
Professor Bernhard einschätze, aber ich kann mir auch den Hinweis nicht ver¬
sagen, daß die Vertiefung in die sichere, zielbewußte Arbeit der Polen ihn
einseitig gemacht und zu einem Pessimismus geführt hat, der eben jetzt un¬
heilvoll wirken muß. Auch mein verehrter Freund Cleiuow, dessen Urteil mir
in allen diesen Fragen sehr wertvoll ist, hat sich auf seinem ausländischen
Beobachtungsposten durch die Vorzüge des Bernhardschen Werks einigermaßen
blenden lassen. Er übersieht, daß so viel Neues, wie er annimmt, dieses
Werk den Eingeweihten denn doch nicht gebracht hat, und daß Bernhard sein
Material zum Teil auch von der Regierung selbst erhalten hat. Wir brauchen
also uicht zu warten, bis wir die Polenfrage noch gründlicher kennen. Ein
Feldherr kann mit seinen Operationen nicht warten, bis er beim Feinde die
Aufstellung jedes Mannes und jedes Geschützes kennt. Deshalb möchte ich
auf die Gefahr aufmerksam machen, die daraus entsteht, daß über einzelnen
Schwierigkeiten und Vedenklichkeiten, die, aus der Ferne gesehen, in ihren
Dimensionen überschützt werden, die historische Entwicklung und die dadurch
gegebne Lage in ihrer Gesamtheit verkannt wird.

Nun bleibt freilich eine schwerwiegende Frage: Zu welchem Ende soll das
führen? Man muß doch in jedem Kampf eine Vorstellung haben, wie einmal
der Friede geschlossen werden kann. Darüber zum Schluß noch einige Worte.
Der Friede ist für uns nur möglich auf der Grundlage, daß das gegenwärtige
Gebiet des preußischen Staats völlig außerhalb aller Bestrebungen bleibt, die


Der preußische Staat und die polnische Frage

und für die künftige Wiedererstehung ihres Nationalstaats; sie sind stetig ihren
Weg gegangen, ohne auch nur die geringste innere Verpflichtung für das
staatliche Gemeinwesen zu empfinden, dem sie äußerlich angehören; sie haben
sich durch nichts beirren lassen. Im Jahre 1902, das heißt vor fünf
Jahren, hat die preußische Staatsregierung das erste wirklich umfassende
und auf voller Kenntnis der Lage beruhende Programm aufgestellt, das eine
dauernde Tätigkeit zur Lösung des schwierigen Problems verspricht. Ge¬
mildert wird dieses schroffe Mißverhältnis nur durch die Tätigkeit der An-
siedlungskommission, die dem Namen nach seit zwanzig Jahren arbeitet. Aber
auch hier müssen die Lehrjahre, das heißt mindestens zehn Jahre, in Abzug
gebracht werden.

Man vergegenwärtige sich das alles ganz genau und überlege sich, was
es heißt, daß der preußische Staat achtzig und mehr Jahre vergeudet hat,
während die Polen diese Zeit ausnützten, einen Staat im Staate mit allen
Mitteln, über die ein 17 Millionen zählendes, selbstbewußtes Volk mit neun-
hundertjühriger Geschichte verfügt, zu gründen. Und dann frage man sich
ehrlich, was unter solchen Umständen die Urteile wert sind, die schon jetzt aus
den kleinen Mißerfolgen und Schwierigkeiten, die natürlich unvermeidlich sind,
die Berechtigung entnehmen, dem preußischen Staat zur Umkehr in seiner Ost¬
markenpolitik zu raten.

Ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, wie hoch ich die Arbeit von
Professor Bernhard einschätze, aber ich kann mir auch den Hinweis nicht ver¬
sagen, daß die Vertiefung in die sichere, zielbewußte Arbeit der Polen ihn
einseitig gemacht und zu einem Pessimismus geführt hat, der eben jetzt un¬
heilvoll wirken muß. Auch mein verehrter Freund Cleiuow, dessen Urteil mir
in allen diesen Fragen sehr wertvoll ist, hat sich auf seinem ausländischen
Beobachtungsposten durch die Vorzüge des Bernhardschen Werks einigermaßen
blenden lassen. Er übersieht, daß so viel Neues, wie er annimmt, dieses
Werk den Eingeweihten denn doch nicht gebracht hat, und daß Bernhard sein
Material zum Teil auch von der Regierung selbst erhalten hat. Wir brauchen
also uicht zu warten, bis wir die Polenfrage noch gründlicher kennen. Ein
Feldherr kann mit seinen Operationen nicht warten, bis er beim Feinde die
Aufstellung jedes Mannes und jedes Geschützes kennt. Deshalb möchte ich
auf die Gefahr aufmerksam machen, die daraus entsteht, daß über einzelnen
Schwierigkeiten und Vedenklichkeiten, die, aus der Ferne gesehen, in ihren
Dimensionen überschützt werden, die historische Entwicklung und die dadurch
gegebne Lage in ihrer Gesamtheit verkannt wird.

Nun bleibt freilich eine schwerwiegende Frage: Zu welchem Ende soll das
führen? Man muß doch in jedem Kampf eine Vorstellung haben, wie einmal
der Friede geschlossen werden kann. Darüber zum Schluß noch einige Worte.
Der Friede ist für uns nur möglich auf der Grundlage, daß das gegenwärtige
Gebiet des preußischen Staats völlig außerhalb aller Bestrebungen bleibt, die


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[0071] Der preußische Staat und die polnische Frage und für die künftige Wiedererstehung ihres Nationalstaats; sie sind stetig ihren Weg gegangen, ohne auch nur die geringste innere Verpflichtung für das staatliche Gemeinwesen zu empfinden, dem sie äußerlich angehören; sie haben sich durch nichts beirren lassen. Im Jahre 1902, das heißt vor fünf Jahren, hat die preußische Staatsregierung das erste wirklich umfassende und auf voller Kenntnis der Lage beruhende Programm aufgestellt, das eine dauernde Tätigkeit zur Lösung des schwierigen Problems verspricht. Ge¬ mildert wird dieses schroffe Mißverhältnis nur durch die Tätigkeit der An- siedlungskommission, die dem Namen nach seit zwanzig Jahren arbeitet. Aber auch hier müssen die Lehrjahre, das heißt mindestens zehn Jahre, in Abzug gebracht werden. Man vergegenwärtige sich das alles ganz genau und überlege sich, was es heißt, daß der preußische Staat achtzig und mehr Jahre vergeudet hat, während die Polen diese Zeit ausnützten, einen Staat im Staate mit allen Mitteln, über die ein 17 Millionen zählendes, selbstbewußtes Volk mit neun- hundertjühriger Geschichte verfügt, zu gründen. Und dann frage man sich ehrlich, was unter solchen Umständen die Urteile wert sind, die schon jetzt aus den kleinen Mißerfolgen und Schwierigkeiten, die natürlich unvermeidlich sind, die Berechtigung entnehmen, dem preußischen Staat zur Umkehr in seiner Ost¬ markenpolitik zu raten. Ich habe bereits zum Ausdruck gebracht, wie hoch ich die Arbeit von Professor Bernhard einschätze, aber ich kann mir auch den Hinweis nicht ver¬ sagen, daß die Vertiefung in die sichere, zielbewußte Arbeit der Polen ihn einseitig gemacht und zu einem Pessimismus geführt hat, der eben jetzt un¬ heilvoll wirken muß. Auch mein verehrter Freund Cleiuow, dessen Urteil mir in allen diesen Fragen sehr wertvoll ist, hat sich auf seinem ausländischen Beobachtungsposten durch die Vorzüge des Bernhardschen Werks einigermaßen blenden lassen. Er übersieht, daß so viel Neues, wie er annimmt, dieses Werk den Eingeweihten denn doch nicht gebracht hat, und daß Bernhard sein Material zum Teil auch von der Regierung selbst erhalten hat. Wir brauchen also uicht zu warten, bis wir die Polenfrage noch gründlicher kennen. Ein Feldherr kann mit seinen Operationen nicht warten, bis er beim Feinde die Aufstellung jedes Mannes und jedes Geschützes kennt. Deshalb möchte ich auf die Gefahr aufmerksam machen, die daraus entsteht, daß über einzelnen Schwierigkeiten und Vedenklichkeiten, die, aus der Ferne gesehen, in ihren Dimensionen überschützt werden, die historische Entwicklung und die dadurch gegebne Lage in ihrer Gesamtheit verkannt wird. Nun bleibt freilich eine schwerwiegende Frage: Zu welchem Ende soll das führen? Man muß doch in jedem Kampf eine Vorstellung haben, wie einmal der Friede geschlossen werden kann. Darüber zum Schluß noch einige Worte. Der Friede ist für uns nur möglich auf der Grundlage, daß das gegenwärtige Gebiet des preußischen Staats völlig außerhalb aller Bestrebungen bleibt, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/71>, abgerufen am 29.06.2024.