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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der preußische Staat und die polnische Frage

die Ausgabe zu, die Führung der nationalen Sache zu übernehmen. Seit
aber Preußen ein Verfassungsstaat geworden war, hielt man diese offne Leitung
der polnischen Sache vom Auslande her nicht mehr für praktisch. Die pol¬
nische Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses rückte für die preußischen
Polen in den Vordergrund und wurde nach dem Scheitern des Aufstandes
von 1863 der Mittelpunkt der nationalen Organisation, bis das Einlenken
der Politik Bismarcks in entschiedne Gegenmaßregeln gegen diese mit den
Interessen des preußischen Staats nicht verträglichen Bestrebungen die preußischen
Polen veranlaßte, ihre Organisation wirtschaftlich neu zu fundieren. Die Auf¬
merksamkeit unsrer deutschen Landsleute kann nicht oft genug darauf gelenkt
werden, daß die Polen mit bewunderungswerter Sicherheit und Stetigkeit,
immer an der grundlegenden Idee festhaltend, im einzelnen aber stets an die
jeweiligen Umstände angepaßt, daran gearbeitet haben, einen Staat im Staate
zu organisieren, um später einmal, wenn es die Lage der europäischen Politik
gestattet, den geeigneten Augenblick zum Wiederaufbau des polnischen Gesamt¬
staats benutzen zu können.

Wie hat sich nun der preußische Staat zu dieser Tatsache gestellt? Hat
er etwas getan, diese Entwicklung zu hindern, oder hat er sie gehen lassen,
oder hat er vielleicht zwar den Versuch gemacht, sie zu hindern, aber dabei zu
falschen Mitteln gegriffen?

Die richtige Antwort ist, daß der preußische Staat bis zum Jahre 1886
überhaupt nichts getan hat, was auf eine klare Erkenntnis der Lage hin¬
deutete. Die Abmachungen von 1815 gaben trotz der Anerkennung der pol¬
nischen Nation als einer Gesamtheit mit politischen Rechten dem Staate völlig
freie Hand für seine Negiernngsmaßnahmen. Damals hätte man, ohne in die
Rechte und Interessen der polnischen Grundbesitzer einzugreifen, mit Leichtigkeit
eine ebenso energische deutsche Kolonisation der Provinz Posen vornehmen
können, wie sie Friedrich der Große nach der ersten Teilung Polens in West-
preußen und im Netzcdistrikt vornahm. Aber von solchen Ideen war man da¬
mals weit entfernt. Man glaubte richtig zu handeln, wenn im Sinne gewissen¬
hafter Gerechtigkeit das Vorhandensein besondrer Wünsche und Zukunftstrüume
der Polen einfach ignoriert, den Wiener Verträgen aber doch darin Rechnung
getragen wurde, daß man für den wiedergewonnenen Teil des ehemaligen
"Südpreußens" den ganz unhistorischen Begriff eines "Großherzogtums Posen"
mit einem eignen Statthalter schuf. Preußen nahm also, sehr zu seinem Nach¬
teil, die ihm unberechtigterweise aufgedrängte Rolle einer "Teilungsmacht" mit
einer Gewissenhaftigkeit, die dem Privatmann zur Ehre gereicht, in der Politik
aber unter solchen Umständen zum Verbrechen wurde, willig auf sich.

Im Jahre 1831 erkannte man sechzehn Jahre zu spät, daß ein ungeheurer
Fehler gemacht worden war. Der geniale Oberprüsident von Flottwell erkannte
die Lage so weit, daß er eine großzügige deutsche Kolonisation der Provinz
Posen für notwendig hielt und diese mit dankenswerter Energie und un-


Der preußische Staat und die polnische Frage

die Ausgabe zu, die Führung der nationalen Sache zu übernehmen. Seit
aber Preußen ein Verfassungsstaat geworden war, hielt man diese offne Leitung
der polnischen Sache vom Auslande her nicht mehr für praktisch. Die pol¬
nische Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses rückte für die preußischen
Polen in den Vordergrund und wurde nach dem Scheitern des Aufstandes
von 1863 der Mittelpunkt der nationalen Organisation, bis das Einlenken
der Politik Bismarcks in entschiedne Gegenmaßregeln gegen diese mit den
Interessen des preußischen Staats nicht verträglichen Bestrebungen die preußischen
Polen veranlaßte, ihre Organisation wirtschaftlich neu zu fundieren. Die Auf¬
merksamkeit unsrer deutschen Landsleute kann nicht oft genug darauf gelenkt
werden, daß die Polen mit bewunderungswerter Sicherheit und Stetigkeit,
immer an der grundlegenden Idee festhaltend, im einzelnen aber stets an die
jeweiligen Umstände angepaßt, daran gearbeitet haben, einen Staat im Staate
zu organisieren, um später einmal, wenn es die Lage der europäischen Politik
gestattet, den geeigneten Augenblick zum Wiederaufbau des polnischen Gesamt¬
staats benutzen zu können.

Wie hat sich nun der preußische Staat zu dieser Tatsache gestellt? Hat
er etwas getan, diese Entwicklung zu hindern, oder hat er sie gehen lassen,
oder hat er vielleicht zwar den Versuch gemacht, sie zu hindern, aber dabei zu
falschen Mitteln gegriffen?

Die richtige Antwort ist, daß der preußische Staat bis zum Jahre 1886
überhaupt nichts getan hat, was auf eine klare Erkenntnis der Lage hin¬
deutete. Die Abmachungen von 1815 gaben trotz der Anerkennung der pol¬
nischen Nation als einer Gesamtheit mit politischen Rechten dem Staate völlig
freie Hand für seine Negiernngsmaßnahmen. Damals hätte man, ohne in die
Rechte und Interessen der polnischen Grundbesitzer einzugreifen, mit Leichtigkeit
eine ebenso energische deutsche Kolonisation der Provinz Posen vornehmen
können, wie sie Friedrich der Große nach der ersten Teilung Polens in West-
preußen und im Netzcdistrikt vornahm. Aber von solchen Ideen war man da¬
mals weit entfernt. Man glaubte richtig zu handeln, wenn im Sinne gewissen¬
hafter Gerechtigkeit das Vorhandensein besondrer Wünsche und Zukunftstrüume
der Polen einfach ignoriert, den Wiener Verträgen aber doch darin Rechnung
getragen wurde, daß man für den wiedergewonnenen Teil des ehemaligen
„Südpreußens" den ganz unhistorischen Begriff eines „Großherzogtums Posen"
mit einem eignen Statthalter schuf. Preußen nahm also, sehr zu seinem Nach¬
teil, die ihm unberechtigterweise aufgedrängte Rolle einer „Teilungsmacht" mit
einer Gewissenhaftigkeit, die dem Privatmann zur Ehre gereicht, in der Politik
aber unter solchen Umständen zum Verbrechen wurde, willig auf sich.

Im Jahre 1831 erkannte man sechzehn Jahre zu spät, daß ein ungeheurer
Fehler gemacht worden war. Der geniale Oberprüsident von Flottwell erkannte
die Lage so weit, daß er eine großzügige deutsche Kolonisation der Provinz
Posen für notwendig hielt und diese mit dankenswerter Energie und un-


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[0068] Der preußische Staat und die polnische Frage die Ausgabe zu, die Führung der nationalen Sache zu übernehmen. Seit aber Preußen ein Verfassungsstaat geworden war, hielt man diese offne Leitung der polnischen Sache vom Auslande her nicht mehr für praktisch. Die pol¬ nische Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses rückte für die preußischen Polen in den Vordergrund und wurde nach dem Scheitern des Aufstandes von 1863 der Mittelpunkt der nationalen Organisation, bis das Einlenken der Politik Bismarcks in entschiedne Gegenmaßregeln gegen diese mit den Interessen des preußischen Staats nicht verträglichen Bestrebungen die preußischen Polen veranlaßte, ihre Organisation wirtschaftlich neu zu fundieren. Die Auf¬ merksamkeit unsrer deutschen Landsleute kann nicht oft genug darauf gelenkt werden, daß die Polen mit bewunderungswerter Sicherheit und Stetigkeit, immer an der grundlegenden Idee festhaltend, im einzelnen aber stets an die jeweiligen Umstände angepaßt, daran gearbeitet haben, einen Staat im Staate zu organisieren, um später einmal, wenn es die Lage der europäischen Politik gestattet, den geeigneten Augenblick zum Wiederaufbau des polnischen Gesamt¬ staats benutzen zu können. Wie hat sich nun der preußische Staat zu dieser Tatsache gestellt? Hat er etwas getan, diese Entwicklung zu hindern, oder hat er sie gehen lassen, oder hat er vielleicht zwar den Versuch gemacht, sie zu hindern, aber dabei zu falschen Mitteln gegriffen? Die richtige Antwort ist, daß der preußische Staat bis zum Jahre 1886 überhaupt nichts getan hat, was auf eine klare Erkenntnis der Lage hin¬ deutete. Die Abmachungen von 1815 gaben trotz der Anerkennung der pol¬ nischen Nation als einer Gesamtheit mit politischen Rechten dem Staate völlig freie Hand für seine Negiernngsmaßnahmen. Damals hätte man, ohne in die Rechte und Interessen der polnischen Grundbesitzer einzugreifen, mit Leichtigkeit eine ebenso energische deutsche Kolonisation der Provinz Posen vornehmen können, wie sie Friedrich der Große nach der ersten Teilung Polens in West- preußen und im Netzcdistrikt vornahm. Aber von solchen Ideen war man da¬ mals weit entfernt. Man glaubte richtig zu handeln, wenn im Sinne gewissen¬ hafter Gerechtigkeit das Vorhandensein besondrer Wünsche und Zukunftstrüume der Polen einfach ignoriert, den Wiener Verträgen aber doch darin Rechnung getragen wurde, daß man für den wiedergewonnenen Teil des ehemaligen „Südpreußens" den ganz unhistorischen Begriff eines „Großherzogtums Posen" mit einem eignen Statthalter schuf. Preußen nahm also, sehr zu seinem Nach¬ teil, die ihm unberechtigterweise aufgedrängte Rolle einer „Teilungsmacht" mit einer Gewissenhaftigkeit, die dem Privatmann zur Ehre gereicht, in der Politik aber unter solchen Umständen zum Verbrechen wurde, willig auf sich. Im Jahre 1831 erkannte man sechzehn Jahre zu spät, daß ein ungeheurer Fehler gemacht worden war. Der geniale Oberprüsident von Flottwell erkannte die Lage so weit, daß er eine großzügige deutsche Kolonisation der Provinz Posen für notwendig hielt und diese mit dankenswerter Energie und un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/68>, abgerufen am 24.08.2024.