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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die Frühlingstage der Romantik in Jena

würdige Haubenmatrone. Verwundert hört sie eine Weile auf das tolle Zeug,
das Gemisch von Tiefsinnigem und Grotesken; ihre Augen werden immer runder;
da steht sie rauschend vom Sofa auf und geht kopfschüttelnd zur Tür; sie
kann den "vielen Witz" nicht vertragen, erklärt sie. Hütte sie erst gehört, wie
Wilhelm Schlegel seine Parodie auf die Würde der Frauen deklamierte:

In einem Briefe Dorotheas, der aus Jena geschrieben ist, steht: "Ich
werde alle Tage klüger und geschickter. Wer es aber bei diesen und mit diesen
Menschen nicht werden sollte, müßte von Stein und Eisen sein. Ein solches
ewiges Konzert von Witz und Poesie, von Kunst und Wissenschaft, wie mich
hier umgibt, kann einen die ganze Welt vergessen machen." In einem Briefe
an seine Schwester hat einmal Tieck das gesellige Treiben der Romantiker als
"eine einzige Schweinewirtschaft" bezeichnet; aber er selbst hat das derbe Lands¬
knechtswort wieder verschluckt. Als er später den fünften Band seiner Schriften
dem Freunde Wilhelm widmete, hat er an die goldnen Tage denken müssen, die
damals schon neunundzwanzig Jahre zurücklagen. "Jene schöne Zeit in Jena
ist, obgleich mich bald die Gicht zum erstenmal dort schmerzhaft heimsuchte, eine
der glänzendsten und heitersten Perioden meines Lebens. Du und Dein Bruder
Friedrich, Schelling mit uns, wir alle jung und aufstrebend, Novalis-Harden-
berg, der oft zu uns herüberkam, diese Geister und ihre vielfältigen Pläne, unsre
Aussichten in das Leben, Poesie und Philosophie bildeten gleichsam ununter¬
brochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie. Soviel Scherz, Kritik,
Gelehrsamkeit und Poesie ward ausgesprochen und bestritten, daß kein geistreiches
Buch dergleichen wiedergeben oder ersetzen kann."

Wenn die schönen Frühlingstage kommen! Wie ein seliger Bacchantenzug
jauchzen die Gesellen, mit Blumenkränzen umwunden, über die sanften Hügel
dahin. Und sinkt die Sonne, so streichelt ihnen die laue Nacht die erhitzten jungen
Wangen; und es schwärmt sich so wonnig, wenn die Menschenwelt unter ihren
kleinen Dächern im Mondschein ihren unschuldigen Kinderschlaf schläft.

Die Abneigung gegen Staatsvorschriften und gegen jene Philistertugend, die
nur konventionelle Scheinsittlichkeit ist, und dagegen die unbevormundete Freiheit
des Ich, die Ausnahmestellung des Genies und dann noch das Zusammenfließen
von Poesie und Leben, Kunst und Sittlichkeit -- das alles ergab die Ethik der
Romantiker in Jena. Das Problem der Ehe, wie sie sie dachten, sollte die
Erlösung der Frau sein. Die Ehe hingegen, die das bürgerliche Leben zeigte,
war ihnen Konkubinat. Sie proklamierten die Liebe als Anziehung selbständiger
Charaktere, als innige Gemeinschaft innerlich und äußerlich freier und unabhängiger


Die Frühlingstage der Romantik in Jena

würdige Haubenmatrone. Verwundert hört sie eine Weile auf das tolle Zeug,
das Gemisch von Tiefsinnigem und Grotesken; ihre Augen werden immer runder;
da steht sie rauschend vom Sofa auf und geht kopfschüttelnd zur Tür; sie
kann den „vielen Witz" nicht vertragen, erklärt sie. Hütte sie erst gehört, wie
Wilhelm Schlegel seine Parodie auf die Würde der Frauen deklamierte:

In einem Briefe Dorotheas, der aus Jena geschrieben ist, steht: „Ich
werde alle Tage klüger und geschickter. Wer es aber bei diesen und mit diesen
Menschen nicht werden sollte, müßte von Stein und Eisen sein. Ein solches
ewiges Konzert von Witz und Poesie, von Kunst und Wissenschaft, wie mich
hier umgibt, kann einen die ganze Welt vergessen machen." In einem Briefe
an seine Schwester hat einmal Tieck das gesellige Treiben der Romantiker als
„eine einzige Schweinewirtschaft" bezeichnet; aber er selbst hat das derbe Lands¬
knechtswort wieder verschluckt. Als er später den fünften Band seiner Schriften
dem Freunde Wilhelm widmete, hat er an die goldnen Tage denken müssen, die
damals schon neunundzwanzig Jahre zurücklagen. „Jene schöne Zeit in Jena
ist, obgleich mich bald die Gicht zum erstenmal dort schmerzhaft heimsuchte, eine
der glänzendsten und heitersten Perioden meines Lebens. Du und Dein Bruder
Friedrich, Schelling mit uns, wir alle jung und aufstrebend, Novalis-Harden-
berg, der oft zu uns herüberkam, diese Geister und ihre vielfältigen Pläne, unsre
Aussichten in das Leben, Poesie und Philosophie bildeten gleichsam ununter¬
brochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie. Soviel Scherz, Kritik,
Gelehrsamkeit und Poesie ward ausgesprochen und bestritten, daß kein geistreiches
Buch dergleichen wiedergeben oder ersetzen kann."

Wenn die schönen Frühlingstage kommen! Wie ein seliger Bacchantenzug
jauchzen die Gesellen, mit Blumenkränzen umwunden, über die sanften Hügel
dahin. Und sinkt die Sonne, so streichelt ihnen die laue Nacht die erhitzten jungen
Wangen; und es schwärmt sich so wonnig, wenn die Menschenwelt unter ihren
kleinen Dächern im Mondschein ihren unschuldigen Kinderschlaf schläft.

Die Abneigung gegen Staatsvorschriften und gegen jene Philistertugend, die
nur konventionelle Scheinsittlichkeit ist, und dagegen die unbevormundete Freiheit
des Ich, die Ausnahmestellung des Genies und dann noch das Zusammenfließen
von Poesie und Leben, Kunst und Sittlichkeit — das alles ergab die Ethik der
Romantiker in Jena. Das Problem der Ehe, wie sie sie dachten, sollte die
Erlösung der Frau sein. Die Ehe hingegen, die das bürgerliche Leben zeigte,
war ihnen Konkubinat. Sie proklamierten die Liebe als Anziehung selbständiger
Charaktere, als innige Gemeinschaft innerlich und äußerlich freier und unabhängiger


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[0622] Die Frühlingstage der Romantik in Jena würdige Haubenmatrone. Verwundert hört sie eine Weile auf das tolle Zeug, das Gemisch von Tiefsinnigem und Grotesken; ihre Augen werden immer runder; da steht sie rauschend vom Sofa auf und geht kopfschüttelnd zur Tür; sie kann den „vielen Witz" nicht vertragen, erklärt sie. Hütte sie erst gehört, wie Wilhelm Schlegel seine Parodie auf die Würde der Frauen deklamierte: In einem Briefe Dorotheas, der aus Jena geschrieben ist, steht: „Ich werde alle Tage klüger und geschickter. Wer es aber bei diesen und mit diesen Menschen nicht werden sollte, müßte von Stein und Eisen sein. Ein solches ewiges Konzert von Witz und Poesie, von Kunst und Wissenschaft, wie mich hier umgibt, kann einen die ganze Welt vergessen machen." In einem Briefe an seine Schwester hat einmal Tieck das gesellige Treiben der Romantiker als „eine einzige Schweinewirtschaft" bezeichnet; aber er selbst hat das derbe Lands¬ knechtswort wieder verschluckt. Als er später den fünften Band seiner Schriften dem Freunde Wilhelm widmete, hat er an die goldnen Tage denken müssen, die damals schon neunundzwanzig Jahre zurücklagen. „Jene schöne Zeit in Jena ist, obgleich mich bald die Gicht zum erstenmal dort schmerzhaft heimsuchte, eine der glänzendsten und heitersten Perioden meines Lebens. Du und Dein Bruder Friedrich, Schelling mit uns, wir alle jung und aufstrebend, Novalis-Harden- berg, der oft zu uns herüberkam, diese Geister und ihre vielfältigen Pläne, unsre Aussichten in das Leben, Poesie und Philosophie bildeten gleichsam ununter¬ brochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie. Soviel Scherz, Kritik, Gelehrsamkeit und Poesie ward ausgesprochen und bestritten, daß kein geistreiches Buch dergleichen wiedergeben oder ersetzen kann." Wenn die schönen Frühlingstage kommen! Wie ein seliger Bacchantenzug jauchzen die Gesellen, mit Blumenkränzen umwunden, über die sanften Hügel dahin. Und sinkt die Sonne, so streichelt ihnen die laue Nacht die erhitzten jungen Wangen; und es schwärmt sich so wonnig, wenn die Menschenwelt unter ihren kleinen Dächern im Mondschein ihren unschuldigen Kinderschlaf schläft. Die Abneigung gegen Staatsvorschriften und gegen jene Philistertugend, die nur konventionelle Scheinsittlichkeit ist, und dagegen die unbevormundete Freiheit des Ich, die Ausnahmestellung des Genies und dann noch das Zusammenfließen von Poesie und Leben, Kunst und Sittlichkeit — das alles ergab die Ethik der Romantiker in Jena. Das Problem der Ehe, wie sie sie dachten, sollte die Erlösung der Frau sein. Die Ehe hingegen, die das bürgerliche Leben zeigte, war ihnen Konkubinat. Sie proklamierten die Liebe als Anziehung selbständiger Charaktere, als innige Gemeinschaft innerlich und äußerlich freier und unabhängiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/622>, abgerufen am 22.07.2024.