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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Kirche und Staat in Frankreich

Die religiöse Renaissance im engsten Sinne des Wortes sah weit weniger
erfreulich aus als die intellektuelle und die charitative Wirksamkeit der Frommen.
Der Jansenismus kann als die achtungswertestc ihrer mannigfaltigen Äußerungen
bezeichnet werden, doch Liebe einzuflößen ist auch er nicht geeignet. Seine
Dogmatik ist die schreckliche Prädestinationslehre Calvins, seine Moral der
calvinisch-hugenottische Rigorismus, aber es fehlen ihm die Eigenschaften, die
das reformierte Kirchentum zu eiuer im ganzen wohltätigen Kraft der Welt¬
geschichte gemacht haben; es fehlt ihm besonders die Richtung auf energische
Tätigkeit in der Welt. Er liebt das Kloster, haßt die ihm dogmatisch ver¬
wandte reformierte Religion als "Ketzerei" noch fanatischer als der Jesuitismus
und pflegt mit Vorliebe gerade die bedenklichsten Seiten des katholischen
Christentums: Zeremonien, Andüchteleien, Mystik, Wundersucht. Desdevises
meint, er sei nur für Seele" von hohem Geistesflug und engem Herzen ge¬
eignet gewesen, und in dem erbitterten Kampfe zwischen den beiden Parteien
neigt seine Sympathie den Jesuiten zu, obwohl er für deren Fehler nicht blind
ist und ihre Verschuldungen gebührend hervorhebt. Er findet es ganz in der
Ordnung, daß die janseuistischeu Lehren, die übrigens nicht in dem "Augustinus"
des Jcmsenius stünden, in Rom verurteilt worden seien, und bedauert nur,
daß es eiuer Intrige bedurft habe, die Verurteilung herbeizuführen. Pascal
selbst habe "jesuitisch" gehandelt, indem er es mit seinem Gewissen für ver¬
einbar hielt, den Buchhändler Savarin, der fälschlich der Herausgabe der
Provinzialbriefe angeklagt wurde, einsperren zu lasse", während er selbst, ge¬
deckt durch das Pseudonym Louis de Montalte, an diesen Briefen gegen die
Jesuiterei ruhig weiter schrieb, die, meint Desdevises, ihren Erfolg keineswegs
einer ehrlichen moralischen Entrüstung, sondern nur der Lust am Skandal
verdankten. Und diese viel gescholtne Jesuiterei sei doch nun einmal, von
einigen gewagten Spitzfindigkeiten einzelner Kasuisten abgesehen, nichts andres
als die Allerweltsmoral, die der Durchschnittsmensch ohne Gewissensbisse
praktiziere, und es sei wirklich nicht bloß kluge Berechnung sondern auch
Nächstenliebe gewesen, was die Jesuiten abhielt, Beichtkindern von zweifelhafter
Moralität die Absolution zu verweigern und sie dadurch nach dem orthodoxen
Glauben der Hölle zu überliefern. Man habe auch die Umstände des Orts
und der Zeit zu berücksichtige". Escobar, der das Duell entschuldige, sei ein
Spanier gewesen, und in Madrid habe man damals um jeder Kleinigkeit
willen den Degen gezogen; der Hidalgo würde lieber hundertmal den Tod
als eine ungerächte Verletzung seiner Ehre erduldet haben, wäre auch, Hütte er
anders handeln wollen, allgemeiner Verachtung anheimgefallen. (Ist es denn
im heutige" Preuße" viel anders?) Der Jansenismus habe alles verdammt,
was dem Lebe" Reiz und Anmut verleiht, zum Beispiel den Frauenschmuck.
Um wie viel menschlicher sei der Jesuitenpater La Moyue gewesen, der ge¬
schrieben hat: "Der Jugend verleiht die Natur das Recht, sich zu schmücken,
indem sie selbst ihr den Blütenschmuck spendet. Ist jedoch die Jugend vorüber,


Kirche und Staat in Frankreich

Die religiöse Renaissance im engsten Sinne des Wortes sah weit weniger
erfreulich aus als die intellektuelle und die charitative Wirksamkeit der Frommen.
Der Jansenismus kann als die achtungswertestc ihrer mannigfaltigen Äußerungen
bezeichnet werden, doch Liebe einzuflößen ist auch er nicht geeignet. Seine
Dogmatik ist die schreckliche Prädestinationslehre Calvins, seine Moral der
calvinisch-hugenottische Rigorismus, aber es fehlen ihm die Eigenschaften, die
das reformierte Kirchentum zu eiuer im ganzen wohltätigen Kraft der Welt¬
geschichte gemacht haben; es fehlt ihm besonders die Richtung auf energische
Tätigkeit in der Welt. Er liebt das Kloster, haßt die ihm dogmatisch ver¬
wandte reformierte Religion als „Ketzerei" noch fanatischer als der Jesuitismus
und pflegt mit Vorliebe gerade die bedenklichsten Seiten des katholischen
Christentums: Zeremonien, Andüchteleien, Mystik, Wundersucht. Desdevises
meint, er sei nur für Seele» von hohem Geistesflug und engem Herzen ge¬
eignet gewesen, und in dem erbitterten Kampfe zwischen den beiden Parteien
neigt seine Sympathie den Jesuiten zu, obwohl er für deren Fehler nicht blind
ist und ihre Verschuldungen gebührend hervorhebt. Er findet es ganz in der
Ordnung, daß die janseuistischeu Lehren, die übrigens nicht in dem „Augustinus"
des Jcmsenius stünden, in Rom verurteilt worden seien, und bedauert nur,
daß es eiuer Intrige bedurft habe, die Verurteilung herbeizuführen. Pascal
selbst habe „jesuitisch" gehandelt, indem er es mit seinem Gewissen für ver¬
einbar hielt, den Buchhändler Savarin, der fälschlich der Herausgabe der
Provinzialbriefe angeklagt wurde, einsperren zu lasse», während er selbst, ge¬
deckt durch das Pseudonym Louis de Montalte, an diesen Briefen gegen die
Jesuiterei ruhig weiter schrieb, die, meint Desdevises, ihren Erfolg keineswegs
einer ehrlichen moralischen Entrüstung, sondern nur der Lust am Skandal
verdankten. Und diese viel gescholtne Jesuiterei sei doch nun einmal, von
einigen gewagten Spitzfindigkeiten einzelner Kasuisten abgesehen, nichts andres
als die Allerweltsmoral, die der Durchschnittsmensch ohne Gewissensbisse
praktiziere, und es sei wirklich nicht bloß kluge Berechnung sondern auch
Nächstenliebe gewesen, was die Jesuiten abhielt, Beichtkindern von zweifelhafter
Moralität die Absolution zu verweigern und sie dadurch nach dem orthodoxen
Glauben der Hölle zu überliefern. Man habe auch die Umstände des Orts
und der Zeit zu berücksichtige«. Escobar, der das Duell entschuldige, sei ein
Spanier gewesen, und in Madrid habe man damals um jeder Kleinigkeit
willen den Degen gezogen; der Hidalgo würde lieber hundertmal den Tod
als eine ungerächte Verletzung seiner Ehre erduldet haben, wäre auch, Hütte er
anders handeln wollen, allgemeiner Verachtung anheimgefallen. (Ist es denn
im heutige» Preuße» viel anders?) Der Jansenismus habe alles verdammt,
was dem Lebe» Reiz und Anmut verleiht, zum Beispiel den Frauenschmuck.
Um wie viel menschlicher sei der Jesuitenpater La Moyue gewesen, der ge¬
schrieben hat: „Der Jugend verleiht die Natur das Recht, sich zu schmücken,
indem sie selbst ihr den Blütenschmuck spendet. Ist jedoch die Jugend vorüber,


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[0522] Kirche und Staat in Frankreich Die religiöse Renaissance im engsten Sinne des Wortes sah weit weniger erfreulich aus als die intellektuelle und die charitative Wirksamkeit der Frommen. Der Jansenismus kann als die achtungswertestc ihrer mannigfaltigen Äußerungen bezeichnet werden, doch Liebe einzuflößen ist auch er nicht geeignet. Seine Dogmatik ist die schreckliche Prädestinationslehre Calvins, seine Moral der calvinisch-hugenottische Rigorismus, aber es fehlen ihm die Eigenschaften, die das reformierte Kirchentum zu eiuer im ganzen wohltätigen Kraft der Welt¬ geschichte gemacht haben; es fehlt ihm besonders die Richtung auf energische Tätigkeit in der Welt. Er liebt das Kloster, haßt die ihm dogmatisch ver¬ wandte reformierte Religion als „Ketzerei" noch fanatischer als der Jesuitismus und pflegt mit Vorliebe gerade die bedenklichsten Seiten des katholischen Christentums: Zeremonien, Andüchteleien, Mystik, Wundersucht. Desdevises meint, er sei nur für Seele» von hohem Geistesflug und engem Herzen ge¬ eignet gewesen, und in dem erbitterten Kampfe zwischen den beiden Parteien neigt seine Sympathie den Jesuiten zu, obwohl er für deren Fehler nicht blind ist und ihre Verschuldungen gebührend hervorhebt. Er findet es ganz in der Ordnung, daß die janseuistischeu Lehren, die übrigens nicht in dem „Augustinus" des Jcmsenius stünden, in Rom verurteilt worden seien, und bedauert nur, daß es eiuer Intrige bedurft habe, die Verurteilung herbeizuführen. Pascal selbst habe „jesuitisch" gehandelt, indem er es mit seinem Gewissen für ver¬ einbar hielt, den Buchhändler Savarin, der fälschlich der Herausgabe der Provinzialbriefe angeklagt wurde, einsperren zu lasse», während er selbst, ge¬ deckt durch das Pseudonym Louis de Montalte, an diesen Briefen gegen die Jesuiterei ruhig weiter schrieb, die, meint Desdevises, ihren Erfolg keineswegs einer ehrlichen moralischen Entrüstung, sondern nur der Lust am Skandal verdankten. Und diese viel gescholtne Jesuiterei sei doch nun einmal, von einigen gewagten Spitzfindigkeiten einzelner Kasuisten abgesehen, nichts andres als die Allerweltsmoral, die der Durchschnittsmensch ohne Gewissensbisse praktiziere, und es sei wirklich nicht bloß kluge Berechnung sondern auch Nächstenliebe gewesen, was die Jesuiten abhielt, Beichtkindern von zweifelhafter Moralität die Absolution zu verweigern und sie dadurch nach dem orthodoxen Glauben der Hölle zu überliefern. Man habe auch die Umstände des Orts und der Zeit zu berücksichtige«. Escobar, der das Duell entschuldige, sei ein Spanier gewesen, und in Madrid habe man damals um jeder Kleinigkeit willen den Degen gezogen; der Hidalgo würde lieber hundertmal den Tod als eine ungerächte Verletzung seiner Ehre erduldet haben, wäre auch, Hütte er anders handeln wollen, allgemeiner Verachtung anheimgefallen. (Ist es denn im heutige» Preuße» viel anders?) Der Jansenismus habe alles verdammt, was dem Lebe» Reiz und Anmut verleiht, zum Beispiel den Frauenschmuck. Um wie viel menschlicher sei der Jesuitenpater La Moyue gewesen, der ge¬ schrieben hat: „Der Jugend verleiht die Natur das Recht, sich zu schmücken, indem sie selbst ihr den Blütenschmuck spendet. Ist jedoch die Jugend vorüber,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/522>, abgerufen am 24.08.2024.