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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Kirche und Staat in Frankreich

und auf ihre Art, zu unterrichten. "Die begabteren Schüler verließen Louis-
le-Grand mit klaren Begriffen von sehr vielen Dingen; sie hatten sich die
Gewohnheit, nachzudenken, angeeignet sowie die Kunst, ihre Ideen zu ordnen,
und den Geschmack an Korrektheit und Deutlichkeit (vottstv). Sie waren ge¬
wandt im eleganten Ausdruck und trugen in ihrem Kopfe alles, was einen
jungen Mann befähigt, seine Bildung selbst zu vervollständigen und in der
Gesellschaft eine nützliche Rolle zu spielen. Dieser literarisch-philosophischen
Bildung verdankte das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts seinen liberalen
und universellen Geist, seinen Ruf der Eleganz und feinen Sitte, seine philan¬
thropische und fortschrittliche Richtung. Macaulay hat gesagt, die Jesuiten
hätten den Geist genau bis zu dem Punkte ausgebildet, jenseits dessen seine
Emanzipation von der Autorität beginnt. So ists; und was die Väter selbst
nicht tun mochten, das hat Paris für sie getan. Philosophen ^in dem da¬
maligen parteipolitischer Sinne des Wortes), ohne es zu wissen, gleich ihrem
ganzen Jahrhundert vom Geiste des sozialen Fortschritts erfüllt, bereiteten sie
ihre Schüler für die ruhelose und kühne Tätigkeit im öffentlichen Leben vor,
die diese erwartete. Man diskutierte, plädierte sehr viel in Louis-le-Grand,
und die aufgeworfnen Fragen berührten mitunter die ernstesten sozialen
Probleme. Man fragte zum Beispiel: Welche Leidenschaft ist die gefährlichste.
Libertincige. Gottlosigkeit oder Spielwut? Welche Erziehungsweise ist die beste
für einen jungen Menschen, die private oder die in einer Anstalt? Welchen
Wert hat die Lehrlingschaft bei Hofe, das Reisen mit einem Hofmeister? Wie
soll der Nachlaß eines Gutsbesitzers geteilt werden? Der eine Schüler, selbst
ein Erstgeborner, erklärt: das Recht der Erstgeburt abschaffen, heißt nicht bloß
den Adel, sondern auch die Familiendisziplin vernichten und den Staat der
Dienste berauben, die ihm die durch ihre Armut zu einer nützlichen Tätigkeit
gezwungnen nachgebornen in der Kirche, in der Armee, in den Kolonien
leisten. Ein andrer möchte die Gegensätze versöhnen und schlägt vor. dein
Bater die freie Verfügung über den Familienbesitz einzuräumen. Der Pro¬
fessor faßt die Ansichten zusammen und entscheidet dann im Geschmack der
Zeit: der Adelsbesitz soll ungleich geteilt werden? der Älteste mag zwei Drittel
bekommen, das übrige Drittel unter die Jüngern geteilt werden. In den
bürgerlichen Familien dagegen ist die gleiche Teilung am vorteilhaftester.
Denn das Gemeinwohl erfordre. daß die Personen des dritten Standes auf
ein mäßiges Vermögen beschränkt bleiben; würden einzelne zu reich, so wurden
sie aufhören, die für deu Staat notwendigen Gewerbe und den Handel zu
betreiben, und würden mit den Adlichen im Lebensgenuß wetteifern wollen.
Man begnügte sich nicht mit solchen Disputationen. Man spielte Theater,
veranstaltete Bälle, ließ die Zöglinge unter der Leitung eines Ballettmeisters
tanzen lernen. Die Jansenisten zeterten über solchen Skandal und erinnerten
an das Kirchengesetz, nach dem alle Komödianten der Exkommunikation Ver¬
halten seien."


Kirche und Staat in Frankreich

und auf ihre Art, zu unterrichten. „Die begabteren Schüler verließen Louis-
le-Grand mit klaren Begriffen von sehr vielen Dingen; sie hatten sich die
Gewohnheit, nachzudenken, angeeignet sowie die Kunst, ihre Ideen zu ordnen,
und den Geschmack an Korrektheit und Deutlichkeit (vottstv). Sie waren ge¬
wandt im eleganten Ausdruck und trugen in ihrem Kopfe alles, was einen
jungen Mann befähigt, seine Bildung selbst zu vervollständigen und in der
Gesellschaft eine nützliche Rolle zu spielen. Dieser literarisch-philosophischen
Bildung verdankte das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts seinen liberalen
und universellen Geist, seinen Ruf der Eleganz und feinen Sitte, seine philan¬
thropische und fortschrittliche Richtung. Macaulay hat gesagt, die Jesuiten
hätten den Geist genau bis zu dem Punkte ausgebildet, jenseits dessen seine
Emanzipation von der Autorität beginnt. So ists; und was die Väter selbst
nicht tun mochten, das hat Paris für sie getan. Philosophen ^in dem da¬
maligen parteipolitischer Sinne des Wortes), ohne es zu wissen, gleich ihrem
ganzen Jahrhundert vom Geiste des sozialen Fortschritts erfüllt, bereiteten sie
ihre Schüler für die ruhelose und kühne Tätigkeit im öffentlichen Leben vor,
die diese erwartete. Man diskutierte, plädierte sehr viel in Louis-le-Grand,
und die aufgeworfnen Fragen berührten mitunter die ernstesten sozialen
Probleme. Man fragte zum Beispiel: Welche Leidenschaft ist die gefährlichste.
Libertincige. Gottlosigkeit oder Spielwut? Welche Erziehungsweise ist die beste
für einen jungen Menschen, die private oder die in einer Anstalt? Welchen
Wert hat die Lehrlingschaft bei Hofe, das Reisen mit einem Hofmeister? Wie
soll der Nachlaß eines Gutsbesitzers geteilt werden? Der eine Schüler, selbst
ein Erstgeborner, erklärt: das Recht der Erstgeburt abschaffen, heißt nicht bloß
den Adel, sondern auch die Familiendisziplin vernichten und den Staat der
Dienste berauben, die ihm die durch ihre Armut zu einer nützlichen Tätigkeit
gezwungnen nachgebornen in der Kirche, in der Armee, in den Kolonien
leisten. Ein andrer möchte die Gegensätze versöhnen und schlägt vor. dein
Bater die freie Verfügung über den Familienbesitz einzuräumen. Der Pro¬
fessor faßt die Ansichten zusammen und entscheidet dann im Geschmack der
Zeit: der Adelsbesitz soll ungleich geteilt werden? der Älteste mag zwei Drittel
bekommen, das übrige Drittel unter die Jüngern geteilt werden. In den
bürgerlichen Familien dagegen ist die gleiche Teilung am vorteilhaftester.
Denn das Gemeinwohl erfordre. daß die Personen des dritten Standes auf
ein mäßiges Vermögen beschränkt bleiben; würden einzelne zu reich, so wurden
sie aufhören, die für deu Staat notwendigen Gewerbe und den Handel zu
betreiben, und würden mit den Adlichen im Lebensgenuß wetteifern wollen.
Man begnügte sich nicht mit solchen Disputationen. Man spielte Theater,
veranstaltete Bälle, ließ die Zöglinge unter der Leitung eines Ballettmeisters
tanzen lernen. Die Jansenisten zeterten über solchen Skandal und erinnerten
an das Kirchengesetz, nach dem alle Komödianten der Exkommunikation Ver¬
halten seien."


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[0521] Kirche und Staat in Frankreich und auf ihre Art, zu unterrichten. „Die begabteren Schüler verließen Louis- le-Grand mit klaren Begriffen von sehr vielen Dingen; sie hatten sich die Gewohnheit, nachzudenken, angeeignet sowie die Kunst, ihre Ideen zu ordnen, und den Geschmack an Korrektheit und Deutlichkeit (vottstv). Sie waren ge¬ wandt im eleganten Ausdruck und trugen in ihrem Kopfe alles, was einen jungen Mann befähigt, seine Bildung selbst zu vervollständigen und in der Gesellschaft eine nützliche Rolle zu spielen. Dieser literarisch-philosophischen Bildung verdankte das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts seinen liberalen und universellen Geist, seinen Ruf der Eleganz und feinen Sitte, seine philan¬ thropische und fortschrittliche Richtung. Macaulay hat gesagt, die Jesuiten hätten den Geist genau bis zu dem Punkte ausgebildet, jenseits dessen seine Emanzipation von der Autorität beginnt. So ists; und was die Väter selbst nicht tun mochten, das hat Paris für sie getan. Philosophen ^in dem da¬ maligen parteipolitischer Sinne des Wortes), ohne es zu wissen, gleich ihrem ganzen Jahrhundert vom Geiste des sozialen Fortschritts erfüllt, bereiteten sie ihre Schüler für die ruhelose und kühne Tätigkeit im öffentlichen Leben vor, die diese erwartete. Man diskutierte, plädierte sehr viel in Louis-le-Grand, und die aufgeworfnen Fragen berührten mitunter die ernstesten sozialen Probleme. Man fragte zum Beispiel: Welche Leidenschaft ist die gefährlichste. Libertincige. Gottlosigkeit oder Spielwut? Welche Erziehungsweise ist die beste für einen jungen Menschen, die private oder die in einer Anstalt? Welchen Wert hat die Lehrlingschaft bei Hofe, das Reisen mit einem Hofmeister? Wie soll der Nachlaß eines Gutsbesitzers geteilt werden? Der eine Schüler, selbst ein Erstgeborner, erklärt: das Recht der Erstgeburt abschaffen, heißt nicht bloß den Adel, sondern auch die Familiendisziplin vernichten und den Staat der Dienste berauben, die ihm die durch ihre Armut zu einer nützlichen Tätigkeit gezwungnen nachgebornen in der Kirche, in der Armee, in den Kolonien leisten. Ein andrer möchte die Gegensätze versöhnen und schlägt vor. dein Bater die freie Verfügung über den Familienbesitz einzuräumen. Der Pro¬ fessor faßt die Ansichten zusammen und entscheidet dann im Geschmack der Zeit: der Adelsbesitz soll ungleich geteilt werden? der Älteste mag zwei Drittel bekommen, das übrige Drittel unter die Jüngern geteilt werden. In den bürgerlichen Familien dagegen ist die gleiche Teilung am vorteilhaftester. Denn das Gemeinwohl erfordre. daß die Personen des dritten Standes auf ein mäßiges Vermögen beschränkt bleiben; würden einzelne zu reich, so wurden sie aufhören, die für deu Staat notwendigen Gewerbe und den Handel zu betreiben, und würden mit den Adlichen im Lebensgenuß wetteifern wollen. Man begnügte sich nicht mit solchen Disputationen. Man spielte Theater, veranstaltete Bälle, ließ die Zöglinge unter der Leitung eines Ballettmeisters tanzen lernen. Die Jansenisten zeterten über solchen Skandal und erinnerten an das Kirchengesetz, nach dem alle Komödianten der Exkommunikation Ver¬ halten seien."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/521>, abgerufen am 24.08.2024.