Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kirche und Staat in Frankreich

bleiben; ihm erscheint die Flucht ins Kloster beinahe wie die Desertion des
Soldaten vom Schlachtfelde hinter Festungsmauern, Wenn ihm Nonnen
klagen, daß in ihrem Keller der Teufel rumore, erwidert er, es werde wohl
nur ein Schelm sein, der sie mit einem schlechten Spaße erschrecken wolle.
An Glaubenssätzen hat er freilich nie gezweifelt. Ununterbrochne Tätigkeit
ließ ihm zum Grübeln und darum auch zum Zweifeln keine Zeit. Er hat das
Bewußtsein, der Menschheit zu nützen; dieses Bewußtsein befriedigt ihn und
gewährt ihm die Gewißheit, daß er auch in Glaubenssachen auf dem rechten
Wege ist. Mit der Prüfung einzelner Glaubensfütze gibt er sich nicht ab. Die
ist Sache Roms; dessen Entscheidungen nimmt er im voraus an, mögen sie
ausfallen, wie sie wollen. Er hat andres zu tun. Und dessen war wahrhaftig
nicht wenig. Er leistete Übermenschliches, aber viel fehlte, daß er damit das
Elend überwunden Hütte, ein Elend, von dem wir heutigen Deutschen uns
glücklicherweise kaum eine Vorstellung machen können. Die Bürgerkriege, der
durch die Bedürfnisse des Staats, des Hofes hervorgerufnc, durch ungerechte
Verteilung,^ unzweckmäßige Erhebung und Unredlichkeit der Beamten und
Steuerpüchter erhöhte Steuerdruck hielten die Masse in der Armut zurück und
erzeugten periodische Hungersnöte. In Paris kam noch die Sittenlosigkeit
hinzu, und hier waren denn die Kinderaussetznngen an der Tagesordnung.
Zu Hunderten fielen die Säuglinge den Hunden und Schweinen der Straße
zur Beute. Auch für medizinische Zwecke und zur Zauberei wurden sie ver¬
wandt; man kaufte sie -- zwanzig Sous das Stück. Vincenz ließ durch seine
Damen 600 solcher Würmchen aufsammeln und gründete ein Hospital für sie.

Was die Pflege der Intelligenz betrifft, so sind die Verdienste der Mauriner,
der Omtvrianer und einzelner Gelehrter geistlichen Standes um die Sammlung
und Veröffentlichung historischer Quellen im Frankreich des siebzehnten Jahr¬
hunderts bekannt. Desdevises hat eine lange Reihe von Namen der Autoren
und ihrer Werke aufzuzählen. Er bemerkt: "Nicht alle diese Männer erfreuten
sich in gleichem Maße der Gabe historischer Kritik, aber alle waren wunderbar
fleißige und gewissenhafte Arbeiter und vom besten Willen beseelt." Ebenso
bekannt oder vielmehr weit bekannter ist, daß die Regierung Ludwigs des
Vierzehnten das goldne Zeitalter der schönen Literatur der Franzosen genannt
wird, und die formelle Bildung, die sich darin offenbart, ist nicht weniger eine
Frucht der geistlichen Schulen gewesen wie die Verstandesschärfe und Denk¬
kraft, mit der die "Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts die von
Cartesius, Leibniz und den Engländern begründete moderne Philosophie sowie
die Mathematik und die Naturwissenschaften fortgebildet haben. Es gab ja
nicht viel weltliche Schulen, und unter den geistlichen waren die der Jesuiten
allgemein als die besten anerkannt. Ihre berühmteste war das Kolleg Louis-
le-Grand in Paris. Man darf, meint unser Franzose, die Güte des Unter¬
richts nicht nach dem Verzeichnis der Unterrichtsgegenstände beurteilen; nicht
auf das "Programm" kommt es an, souderu auf die Tüchtigkeit der Lehrer


Kirche und Staat in Frankreich

bleiben; ihm erscheint die Flucht ins Kloster beinahe wie die Desertion des
Soldaten vom Schlachtfelde hinter Festungsmauern, Wenn ihm Nonnen
klagen, daß in ihrem Keller der Teufel rumore, erwidert er, es werde wohl
nur ein Schelm sein, der sie mit einem schlechten Spaße erschrecken wolle.
An Glaubenssätzen hat er freilich nie gezweifelt. Ununterbrochne Tätigkeit
ließ ihm zum Grübeln und darum auch zum Zweifeln keine Zeit. Er hat das
Bewußtsein, der Menschheit zu nützen; dieses Bewußtsein befriedigt ihn und
gewährt ihm die Gewißheit, daß er auch in Glaubenssachen auf dem rechten
Wege ist. Mit der Prüfung einzelner Glaubensfütze gibt er sich nicht ab. Die
ist Sache Roms; dessen Entscheidungen nimmt er im voraus an, mögen sie
ausfallen, wie sie wollen. Er hat andres zu tun. Und dessen war wahrhaftig
nicht wenig. Er leistete Übermenschliches, aber viel fehlte, daß er damit das
Elend überwunden Hütte, ein Elend, von dem wir heutigen Deutschen uns
glücklicherweise kaum eine Vorstellung machen können. Die Bürgerkriege, der
durch die Bedürfnisse des Staats, des Hofes hervorgerufnc, durch ungerechte
Verteilung,^ unzweckmäßige Erhebung und Unredlichkeit der Beamten und
Steuerpüchter erhöhte Steuerdruck hielten die Masse in der Armut zurück und
erzeugten periodische Hungersnöte. In Paris kam noch die Sittenlosigkeit
hinzu, und hier waren denn die Kinderaussetznngen an der Tagesordnung.
Zu Hunderten fielen die Säuglinge den Hunden und Schweinen der Straße
zur Beute. Auch für medizinische Zwecke und zur Zauberei wurden sie ver¬
wandt; man kaufte sie — zwanzig Sous das Stück. Vincenz ließ durch seine
Damen 600 solcher Würmchen aufsammeln und gründete ein Hospital für sie.

Was die Pflege der Intelligenz betrifft, so sind die Verdienste der Mauriner,
der Omtvrianer und einzelner Gelehrter geistlichen Standes um die Sammlung
und Veröffentlichung historischer Quellen im Frankreich des siebzehnten Jahr¬
hunderts bekannt. Desdevises hat eine lange Reihe von Namen der Autoren
und ihrer Werke aufzuzählen. Er bemerkt: „Nicht alle diese Männer erfreuten
sich in gleichem Maße der Gabe historischer Kritik, aber alle waren wunderbar
fleißige und gewissenhafte Arbeiter und vom besten Willen beseelt." Ebenso
bekannt oder vielmehr weit bekannter ist, daß die Regierung Ludwigs des
Vierzehnten das goldne Zeitalter der schönen Literatur der Franzosen genannt
wird, und die formelle Bildung, die sich darin offenbart, ist nicht weniger eine
Frucht der geistlichen Schulen gewesen wie die Verstandesschärfe und Denk¬
kraft, mit der die „Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts die von
Cartesius, Leibniz und den Engländern begründete moderne Philosophie sowie
die Mathematik und die Naturwissenschaften fortgebildet haben. Es gab ja
nicht viel weltliche Schulen, und unter den geistlichen waren die der Jesuiten
allgemein als die besten anerkannt. Ihre berühmteste war das Kolleg Louis-
le-Grand in Paris. Man darf, meint unser Franzose, die Güte des Unter¬
richts nicht nach dem Verzeichnis der Unterrichtsgegenstände beurteilen; nicht
auf das „Programm" kommt es an, souderu auf die Tüchtigkeit der Lehrer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0520" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311601"/>
          <fw type="header" place="top"> Kirche und Staat in Frankreich</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2448" prev="#ID_2447"> bleiben; ihm erscheint die Flucht ins Kloster beinahe wie die Desertion des<lb/>
Soldaten vom Schlachtfelde hinter Festungsmauern, Wenn ihm Nonnen<lb/>
klagen, daß in ihrem Keller der Teufel rumore, erwidert er, es werde wohl<lb/>
nur ein Schelm sein, der sie mit einem schlechten Spaße erschrecken wolle.<lb/>
An Glaubenssätzen hat er freilich nie gezweifelt. Ununterbrochne Tätigkeit<lb/>
ließ ihm zum Grübeln und darum auch zum Zweifeln keine Zeit. Er hat das<lb/>
Bewußtsein, der Menschheit zu nützen; dieses Bewußtsein befriedigt ihn und<lb/>
gewährt ihm die Gewißheit, daß er auch in Glaubenssachen auf dem rechten<lb/>
Wege ist. Mit der Prüfung einzelner Glaubensfütze gibt er sich nicht ab. Die<lb/>
ist Sache Roms; dessen Entscheidungen nimmt er im voraus an, mögen sie<lb/>
ausfallen, wie sie wollen. Er hat andres zu tun. Und dessen war wahrhaftig<lb/>
nicht wenig. Er leistete Übermenschliches, aber viel fehlte, daß er damit das<lb/>
Elend überwunden Hütte, ein Elend, von dem wir heutigen Deutschen uns<lb/>
glücklicherweise kaum eine Vorstellung machen können. Die Bürgerkriege, der<lb/>
durch die Bedürfnisse des Staats, des Hofes hervorgerufnc, durch ungerechte<lb/>
Verteilung,^ unzweckmäßige Erhebung und Unredlichkeit der Beamten und<lb/>
Steuerpüchter erhöhte Steuerdruck hielten die Masse in der Armut zurück und<lb/>
erzeugten periodische Hungersnöte. In Paris kam noch die Sittenlosigkeit<lb/>
hinzu, und hier waren denn die Kinderaussetznngen an der Tagesordnung.<lb/>
Zu Hunderten fielen die Säuglinge den Hunden und Schweinen der Straße<lb/>
zur Beute. Auch für medizinische Zwecke und zur Zauberei wurden sie ver¬<lb/>
wandt; man kaufte sie &#x2014; zwanzig Sous das Stück. Vincenz ließ durch seine<lb/>
Damen 600 solcher Würmchen aufsammeln und gründete ein Hospital für sie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2449" next="#ID_2450"> Was die Pflege der Intelligenz betrifft, so sind die Verdienste der Mauriner,<lb/>
der Omtvrianer und einzelner Gelehrter geistlichen Standes um die Sammlung<lb/>
und Veröffentlichung historischer Quellen im Frankreich des siebzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts bekannt. Desdevises hat eine lange Reihe von Namen der Autoren<lb/>
und ihrer Werke aufzuzählen. Er bemerkt: &#x201E;Nicht alle diese Männer erfreuten<lb/>
sich in gleichem Maße der Gabe historischer Kritik, aber alle waren wunderbar<lb/>
fleißige und gewissenhafte Arbeiter und vom besten Willen beseelt." Ebenso<lb/>
bekannt oder vielmehr weit bekannter ist, daß die Regierung Ludwigs des<lb/>
Vierzehnten das goldne Zeitalter der schönen Literatur der Franzosen genannt<lb/>
wird, und die formelle Bildung, die sich darin offenbart, ist nicht weniger eine<lb/>
Frucht der geistlichen Schulen gewesen wie die Verstandesschärfe und Denk¬<lb/>
kraft, mit der die &#x201E;Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts die von<lb/>
Cartesius, Leibniz und den Engländern begründete moderne Philosophie sowie<lb/>
die Mathematik und die Naturwissenschaften fortgebildet haben. Es gab ja<lb/>
nicht viel weltliche Schulen, und unter den geistlichen waren die der Jesuiten<lb/>
allgemein als die besten anerkannt. Ihre berühmteste war das Kolleg Louis-<lb/>
le-Grand in Paris. Man darf, meint unser Franzose, die Güte des Unter¬<lb/>
richts nicht nach dem Verzeichnis der Unterrichtsgegenstände beurteilen; nicht<lb/>
auf das &#x201E;Programm" kommt es an, souderu auf die Tüchtigkeit der Lehrer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0520] Kirche und Staat in Frankreich bleiben; ihm erscheint die Flucht ins Kloster beinahe wie die Desertion des Soldaten vom Schlachtfelde hinter Festungsmauern, Wenn ihm Nonnen klagen, daß in ihrem Keller der Teufel rumore, erwidert er, es werde wohl nur ein Schelm sein, der sie mit einem schlechten Spaße erschrecken wolle. An Glaubenssätzen hat er freilich nie gezweifelt. Ununterbrochne Tätigkeit ließ ihm zum Grübeln und darum auch zum Zweifeln keine Zeit. Er hat das Bewußtsein, der Menschheit zu nützen; dieses Bewußtsein befriedigt ihn und gewährt ihm die Gewißheit, daß er auch in Glaubenssachen auf dem rechten Wege ist. Mit der Prüfung einzelner Glaubensfütze gibt er sich nicht ab. Die ist Sache Roms; dessen Entscheidungen nimmt er im voraus an, mögen sie ausfallen, wie sie wollen. Er hat andres zu tun. Und dessen war wahrhaftig nicht wenig. Er leistete Übermenschliches, aber viel fehlte, daß er damit das Elend überwunden Hütte, ein Elend, von dem wir heutigen Deutschen uns glücklicherweise kaum eine Vorstellung machen können. Die Bürgerkriege, der durch die Bedürfnisse des Staats, des Hofes hervorgerufnc, durch ungerechte Verteilung,^ unzweckmäßige Erhebung und Unredlichkeit der Beamten und Steuerpüchter erhöhte Steuerdruck hielten die Masse in der Armut zurück und erzeugten periodische Hungersnöte. In Paris kam noch die Sittenlosigkeit hinzu, und hier waren denn die Kinderaussetznngen an der Tagesordnung. Zu Hunderten fielen die Säuglinge den Hunden und Schweinen der Straße zur Beute. Auch für medizinische Zwecke und zur Zauberei wurden sie ver¬ wandt; man kaufte sie — zwanzig Sous das Stück. Vincenz ließ durch seine Damen 600 solcher Würmchen aufsammeln und gründete ein Hospital für sie. Was die Pflege der Intelligenz betrifft, so sind die Verdienste der Mauriner, der Omtvrianer und einzelner Gelehrter geistlichen Standes um die Sammlung und Veröffentlichung historischer Quellen im Frankreich des siebzehnten Jahr¬ hunderts bekannt. Desdevises hat eine lange Reihe von Namen der Autoren und ihrer Werke aufzuzählen. Er bemerkt: „Nicht alle diese Männer erfreuten sich in gleichem Maße der Gabe historischer Kritik, aber alle waren wunderbar fleißige und gewissenhafte Arbeiter und vom besten Willen beseelt." Ebenso bekannt oder vielmehr weit bekannter ist, daß die Regierung Ludwigs des Vierzehnten das goldne Zeitalter der schönen Literatur der Franzosen genannt wird, und die formelle Bildung, die sich darin offenbart, ist nicht weniger eine Frucht der geistlichen Schulen gewesen wie die Verstandesschärfe und Denk¬ kraft, mit der die „Philosophen" des achtzehnten Jahrhunderts die von Cartesius, Leibniz und den Engländern begründete moderne Philosophie sowie die Mathematik und die Naturwissenschaften fortgebildet haben. Es gab ja nicht viel weltliche Schulen, und unter den geistlichen waren die der Jesuiten allgemein als die besten anerkannt. Ihre berühmteste war das Kolleg Louis- le-Grand in Paris. Man darf, meint unser Franzose, die Güte des Unter¬ richts nicht nach dem Verzeichnis der Unterrichtsgegenstände beurteilen; nicht auf das „Programm" kommt es an, souderu auf die Tüchtigkeit der Lehrer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/520
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/520>, abgerufen am 24.08.2024.