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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Rirche und Staat in Frankreich

der so stank, daß ihre Diener, wenn sie sie einmal zur Hilfeleistung heranzog,
nur mit zugehaltner Nase das Krankenzimmer betreten mochten, und vor allem
den Stifter des Ordens (es sollte seinem Willen nach kein Klosterorden, sondern
eine freie Vereinigung sein) der Barmherzigen Schwestern, Vincenz de Paula.
Desdevises hebt den Gegensatz dieses Mannes gegen die Jntellektualisten unter
den großen Geistlichen des siebzehnten Jahrhunderts hervor. Seine Predigten
und Ansprachen waren keine rhetorischen Kunstwerke, sondern schlichte Ergüsse
eines einfältigen, liebenden Herzens. An einen seiner Schüler schreibt er:
.Man sagt mir. daß Sie sich beim Predigen bis zur Gefährdung der Ge¬
sundheit anstrengen. Mäßigen Sie doch um Gottes willen Ihre Stimme und
Ihre Affekte! Der Heiland segnet gerade die Reden mit Erfolg, die man im
Ton einer gewöhnlichen Unterhaltung hält, weil er selbst so zum Volke zu
reden pflegte. Dem Volke gefällt die natürliche und gewöhnliche Art zu
sprechen besser als ein künstlicher, affektierter und pathetischer Vortrag, und
es zieht größern Nutzen daraus. Sogar die Schauspieler haben, wie mir
jüngst einer von ihnen erzählte, das erkannt und deklamieren nun nicht mehr
ihre Verse mit erhobner Stimme, sondern sprechen in mäßig starkem Ton und
wie in einer gemütlichen Unterhaltung." Und während den gelehrten Theo¬
logen Eigensinn, Selbstgefälligkeit und Streitsucht gewöhnlich zum Fanatiker
machen, blieb Vincenz durch seine Auffassung des geistlichen Berufs vor dieser
Verirrung bewahrt. "Die Charitas. schreibt der Verfasser, bedarf keiner Ge¬
lehrsamkeit und erfordert statt deren ein einfältiges Gemüt. Das Mitleid setzt
ein wenig Liebe zum irdischen Leben voraus, ein wenig Hoffnung auf Besserung
des Gesellschaftszustandes, ein wenig Glauben an den Fortschritt. Wenn alles
auf dieser Erde schlecht ist und schief geht, dann kann man nur jedermann den
Rat geben, sie sobald wie möglich zu verlassen, und sie durch Charitas ver¬
schönern wollen, ist eigentlich widersinnig. Diese erscheint dagegen als em
wesentliches Element des religiösen Lebens, wenn man durch Besserung der
irdischen Zustände dem durch Elend Vertierten die Möglichkeit eröffnet, an
die Güte der Menschen zu glauben und in dieser die Güte Gottes zu ahnen."
Bossuet, ein Haupt der Jntellektualisten, habe den barmherzigen Heiligen
gründlich mißverstanden und ihn in einem Essay, den er ihm gewidmet, viel¬
mehr herabgesetzt als geehrt, indem er ihn hauptsächlich als Asketen und bei¬
nahe als Fanatiker darstelle. Das sei nun Vincenz nicht gewesen. Seine
Askese bestand in den Mühen und Entbehrungen, denen sich zu unterziehen
die Charitas ihn bewog; dabei bewahrte er sich die Heiterkeit des echten
Franzosen. Er war weder abergläubisch noch bigott. Als einmal seine Ge¬
hilfin (bei der Stiftung der Krankenschwestern sein ausführendes Organ), Frau
Legras. 33 Andachten zu Ehren der 33 Lebensjahre Jesu abhalten wollte,
sagte er ihr. sie möge einige Andachten weniger verrichten und dafür ennge
Portionen Fleischbrühe mehr austeilen. Frau Legras möchte die Schwestern
gern in ein Kloster einsperren; Vincenz setzt es durch, daß sie in der Welt


Rirche und Staat in Frankreich

der so stank, daß ihre Diener, wenn sie sie einmal zur Hilfeleistung heranzog,
nur mit zugehaltner Nase das Krankenzimmer betreten mochten, und vor allem
den Stifter des Ordens (es sollte seinem Willen nach kein Klosterorden, sondern
eine freie Vereinigung sein) der Barmherzigen Schwestern, Vincenz de Paula.
Desdevises hebt den Gegensatz dieses Mannes gegen die Jntellektualisten unter
den großen Geistlichen des siebzehnten Jahrhunderts hervor. Seine Predigten
und Ansprachen waren keine rhetorischen Kunstwerke, sondern schlichte Ergüsse
eines einfältigen, liebenden Herzens. An einen seiner Schüler schreibt er:
.Man sagt mir. daß Sie sich beim Predigen bis zur Gefährdung der Ge¬
sundheit anstrengen. Mäßigen Sie doch um Gottes willen Ihre Stimme und
Ihre Affekte! Der Heiland segnet gerade die Reden mit Erfolg, die man im
Ton einer gewöhnlichen Unterhaltung hält, weil er selbst so zum Volke zu
reden pflegte. Dem Volke gefällt die natürliche und gewöhnliche Art zu
sprechen besser als ein künstlicher, affektierter und pathetischer Vortrag, und
es zieht größern Nutzen daraus. Sogar die Schauspieler haben, wie mir
jüngst einer von ihnen erzählte, das erkannt und deklamieren nun nicht mehr
ihre Verse mit erhobner Stimme, sondern sprechen in mäßig starkem Ton und
wie in einer gemütlichen Unterhaltung." Und während den gelehrten Theo¬
logen Eigensinn, Selbstgefälligkeit und Streitsucht gewöhnlich zum Fanatiker
machen, blieb Vincenz durch seine Auffassung des geistlichen Berufs vor dieser
Verirrung bewahrt. „Die Charitas. schreibt der Verfasser, bedarf keiner Ge¬
lehrsamkeit und erfordert statt deren ein einfältiges Gemüt. Das Mitleid setzt
ein wenig Liebe zum irdischen Leben voraus, ein wenig Hoffnung auf Besserung
des Gesellschaftszustandes, ein wenig Glauben an den Fortschritt. Wenn alles
auf dieser Erde schlecht ist und schief geht, dann kann man nur jedermann den
Rat geben, sie sobald wie möglich zu verlassen, und sie durch Charitas ver¬
schönern wollen, ist eigentlich widersinnig. Diese erscheint dagegen als em
wesentliches Element des religiösen Lebens, wenn man durch Besserung der
irdischen Zustände dem durch Elend Vertierten die Möglichkeit eröffnet, an
die Güte der Menschen zu glauben und in dieser die Güte Gottes zu ahnen."
Bossuet, ein Haupt der Jntellektualisten, habe den barmherzigen Heiligen
gründlich mißverstanden und ihn in einem Essay, den er ihm gewidmet, viel¬
mehr herabgesetzt als geehrt, indem er ihn hauptsächlich als Asketen und bei¬
nahe als Fanatiker darstelle. Das sei nun Vincenz nicht gewesen. Seine
Askese bestand in den Mühen und Entbehrungen, denen sich zu unterziehen
die Charitas ihn bewog; dabei bewahrte er sich die Heiterkeit des echten
Franzosen. Er war weder abergläubisch noch bigott. Als einmal seine Ge¬
hilfin (bei der Stiftung der Krankenschwestern sein ausführendes Organ), Frau
Legras. 33 Andachten zu Ehren der 33 Lebensjahre Jesu abhalten wollte,
sagte er ihr. sie möge einige Andachten weniger verrichten und dafür ennge
Portionen Fleischbrühe mehr austeilen. Frau Legras möchte die Schwestern
gern in ein Kloster einsperren; Vincenz setzt es durch, daß sie in der Welt


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[0519] Rirche und Staat in Frankreich der so stank, daß ihre Diener, wenn sie sie einmal zur Hilfeleistung heranzog, nur mit zugehaltner Nase das Krankenzimmer betreten mochten, und vor allem den Stifter des Ordens (es sollte seinem Willen nach kein Klosterorden, sondern eine freie Vereinigung sein) der Barmherzigen Schwestern, Vincenz de Paula. Desdevises hebt den Gegensatz dieses Mannes gegen die Jntellektualisten unter den großen Geistlichen des siebzehnten Jahrhunderts hervor. Seine Predigten und Ansprachen waren keine rhetorischen Kunstwerke, sondern schlichte Ergüsse eines einfältigen, liebenden Herzens. An einen seiner Schüler schreibt er: .Man sagt mir. daß Sie sich beim Predigen bis zur Gefährdung der Ge¬ sundheit anstrengen. Mäßigen Sie doch um Gottes willen Ihre Stimme und Ihre Affekte! Der Heiland segnet gerade die Reden mit Erfolg, die man im Ton einer gewöhnlichen Unterhaltung hält, weil er selbst so zum Volke zu reden pflegte. Dem Volke gefällt die natürliche und gewöhnliche Art zu sprechen besser als ein künstlicher, affektierter und pathetischer Vortrag, und es zieht größern Nutzen daraus. Sogar die Schauspieler haben, wie mir jüngst einer von ihnen erzählte, das erkannt und deklamieren nun nicht mehr ihre Verse mit erhobner Stimme, sondern sprechen in mäßig starkem Ton und wie in einer gemütlichen Unterhaltung." Und während den gelehrten Theo¬ logen Eigensinn, Selbstgefälligkeit und Streitsucht gewöhnlich zum Fanatiker machen, blieb Vincenz durch seine Auffassung des geistlichen Berufs vor dieser Verirrung bewahrt. „Die Charitas. schreibt der Verfasser, bedarf keiner Ge¬ lehrsamkeit und erfordert statt deren ein einfältiges Gemüt. Das Mitleid setzt ein wenig Liebe zum irdischen Leben voraus, ein wenig Hoffnung auf Besserung des Gesellschaftszustandes, ein wenig Glauben an den Fortschritt. Wenn alles auf dieser Erde schlecht ist und schief geht, dann kann man nur jedermann den Rat geben, sie sobald wie möglich zu verlassen, und sie durch Charitas ver¬ schönern wollen, ist eigentlich widersinnig. Diese erscheint dagegen als em wesentliches Element des religiösen Lebens, wenn man durch Besserung der irdischen Zustände dem durch Elend Vertierten die Möglichkeit eröffnet, an die Güte der Menschen zu glauben und in dieser die Güte Gottes zu ahnen." Bossuet, ein Haupt der Jntellektualisten, habe den barmherzigen Heiligen gründlich mißverstanden und ihn in einem Essay, den er ihm gewidmet, viel¬ mehr herabgesetzt als geehrt, indem er ihn hauptsächlich als Asketen und bei¬ nahe als Fanatiker darstelle. Das sei nun Vincenz nicht gewesen. Seine Askese bestand in den Mühen und Entbehrungen, denen sich zu unterziehen die Charitas ihn bewog; dabei bewahrte er sich die Heiterkeit des echten Franzosen. Er war weder abergläubisch noch bigott. Als einmal seine Ge¬ hilfin (bei der Stiftung der Krankenschwestern sein ausführendes Organ), Frau Legras. 33 Andachten zu Ehren der 33 Lebensjahre Jesu abhalten wollte, sagte er ihr. sie möge einige Andachten weniger verrichten und dafür ennge Portionen Fleischbrühe mehr austeilen. Frau Legras möchte die Schwestern gern in ein Kloster einsperren; Vincenz setzt es durch, daß sie in der Welt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/519>, abgerufen am 24.08.2024.