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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die politische Tage in der Ostsee und Nordsee

schränkung aufgehoben werden müsse, die auf die Dauer einer Großmacht
unwürdig sei. Es ist dabei auf die Analogie mit der Aufhebung der Beschränkung
Rußlands im Schwarzen Meere 1871 hingewiesen worden, aber mit Unrecht,
denn bei dieser handelte es sich tatsächlich, wie Bismarck in seinen Gedanken
und Erinnerungen ausführt, um eine der ungeschicktesten Bestimmungen des
Pariser Friedens, die einer Nation von hundert Millionen die Unabhängigkeit
seiner eignen Küsten beschränkte. Dagegen liegen die Alandsinseln so nahe an
Schweden und so weit ab von Rußland, daß man von einer für eine Großmacht
schimpflichen Verpflichtung schlechterdings nicht reden kann.

Nußland steht in dieser Beziehung nicht allein da, da viele andre Mächte
sich ähnlichen Beschränkungen ihrer Gebietshoheit mehrmals unterworfen haben.
So wurde in der Wiener Kongreßakte 1815 stipuliert, daß keine Befestigungen
in den sardinischen Gebieten Chablais und Faucigny ausgeführt werden dürften,
und im zweiten Pariser Frieden 1815 wurde bestimmt, daß Hüningen nicht be¬
festigt werden dürfe. Diese servitutem sind noch jetzt in Kraft.

Ferner kommt rechtlich in Betracht, daß die Bestimmung über die Nicht-
befestigung als Teil des Pariser Friedens gemäß Artikel 33 zu gelten hat und
daher nur mit Zustimmung aller Signatarmächte beseitigt werden kann, sodaß
eine einseitige Erklärung Englands und Frankreichs nicht ausreichen würde, die
Servitut aufzuheben.

Deutschland, als mächtigster Uferstaat der Ostsee, kann und wird nicht
dulden, daß sich Rußland plötzlich entgegen dem klaren Recht eine strategische
Basis in der Ostsee schafft, die seiner künftigen Kriegsflotte die Möglichkeit
gibt, nicht nur Schweden, das dann auf Gnade und Ungnade an Rußland
ausgeliefert wäre, zu bedrohen, sondern anch uns zu strategischen Gegen¬
maßregeln zu nötigen. Wir haben nichts dagegen, daß sich Rußland an
seinen Küsten einen erstklassiger Kriegshafen baut, wenn es dies mit seinen
Finanzen für vereinbar hält, und falls Libau, für das schon so viele
Millionen ausgegeben sind, sich nicht bewähren sollte, wie man neuerdings
behauptet, so könnte die Bucht bei Björkö in Betracht kommen, aber eine Be¬
festigung der Alandsinseln können wir ebensowenig in unserm Interesse erachten
als 1856 England und Frankreich, die damals ungefähr so zu Nußland standen
wie jetzt wir. Die Nowoje Wremja gefüllt sich fast täglich darin, den Krieg
gegen das Deutsche Reich zu predigen. Wie kann Rußland da noch verlangen,
daß wir ihm dieselben Dienste wie 1871 leisten und es wiederum von einer
Servitut des Pariser Friedens befreien helfen, diesmal noch dazu von einer,
deren Aufhebung direkt unsre vitalsten Interessen schädigen würde? Unsre politischen
Beziehungen zu Rußland haben immer im wesentlichen auf der Freundschaft
der beiden Monarchen beruht, und wie Bismarck hinzufügt, auf der richtigen
Pflege dieser Beziehungen durch höfische und diplomatische Geschicklichkeit
der Vertreter. Augenblicklich sind ja diese dynastischen Beziehungen wieder
freundschaftliche geworden, aber sie sind doch nicht mehr so ausschlaggebend wie


Die politische Tage in der Ostsee und Nordsee

schränkung aufgehoben werden müsse, die auf die Dauer einer Großmacht
unwürdig sei. Es ist dabei auf die Analogie mit der Aufhebung der Beschränkung
Rußlands im Schwarzen Meere 1871 hingewiesen worden, aber mit Unrecht,
denn bei dieser handelte es sich tatsächlich, wie Bismarck in seinen Gedanken
und Erinnerungen ausführt, um eine der ungeschicktesten Bestimmungen des
Pariser Friedens, die einer Nation von hundert Millionen die Unabhängigkeit
seiner eignen Küsten beschränkte. Dagegen liegen die Alandsinseln so nahe an
Schweden und so weit ab von Rußland, daß man von einer für eine Großmacht
schimpflichen Verpflichtung schlechterdings nicht reden kann.

Nußland steht in dieser Beziehung nicht allein da, da viele andre Mächte
sich ähnlichen Beschränkungen ihrer Gebietshoheit mehrmals unterworfen haben.
So wurde in der Wiener Kongreßakte 1815 stipuliert, daß keine Befestigungen
in den sardinischen Gebieten Chablais und Faucigny ausgeführt werden dürften,
und im zweiten Pariser Frieden 1815 wurde bestimmt, daß Hüningen nicht be¬
festigt werden dürfe. Diese servitutem sind noch jetzt in Kraft.

Ferner kommt rechtlich in Betracht, daß die Bestimmung über die Nicht-
befestigung als Teil des Pariser Friedens gemäß Artikel 33 zu gelten hat und
daher nur mit Zustimmung aller Signatarmächte beseitigt werden kann, sodaß
eine einseitige Erklärung Englands und Frankreichs nicht ausreichen würde, die
Servitut aufzuheben.

Deutschland, als mächtigster Uferstaat der Ostsee, kann und wird nicht
dulden, daß sich Rußland plötzlich entgegen dem klaren Recht eine strategische
Basis in der Ostsee schafft, die seiner künftigen Kriegsflotte die Möglichkeit
gibt, nicht nur Schweden, das dann auf Gnade und Ungnade an Rußland
ausgeliefert wäre, zu bedrohen, sondern anch uns zu strategischen Gegen¬
maßregeln zu nötigen. Wir haben nichts dagegen, daß sich Rußland an
seinen Küsten einen erstklassiger Kriegshafen baut, wenn es dies mit seinen
Finanzen für vereinbar hält, und falls Libau, für das schon so viele
Millionen ausgegeben sind, sich nicht bewähren sollte, wie man neuerdings
behauptet, so könnte die Bucht bei Björkö in Betracht kommen, aber eine Be¬
festigung der Alandsinseln können wir ebensowenig in unserm Interesse erachten
als 1856 England und Frankreich, die damals ungefähr so zu Nußland standen
wie jetzt wir. Die Nowoje Wremja gefüllt sich fast täglich darin, den Krieg
gegen das Deutsche Reich zu predigen. Wie kann Rußland da noch verlangen,
daß wir ihm dieselben Dienste wie 1871 leisten und es wiederum von einer
Servitut des Pariser Friedens befreien helfen, diesmal noch dazu von einer,
deren Aufhebung direkt unsre vitalsten Interessen schädigen würde? Unsre politischen
Beziehungen zu Rußland haben immer im wesentlichen auf der Freundschaft
der beiden Monarchen beruht, und wie Bismarck hinzufügt, auf der richtigen
Pflege dieser Beziehungen durch höfische und diplomatische Geschicklichkeit
der Vertreter. Augenblicklich sind ja diese dynastischen Beziehungen wieder
freundschaftliche geworden, aber sie sind doch nicht mehr so ausschlaggebend wie


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[0511] Die politische Tage in der Ostsee und Nordsee schränkung aufgehoben werden müsse, die auf die Dauer einer Großmacht unwürdig sei. Es ist dabei auf die Analogie mit der Aufhebung der Beschränkung Rußlands im Schwarzen Meere 1871 hingewiesen worden, aber mit Unrecht, denn bei dieser handelte es sich tatsächlich, wie Bismarck in seinen Gedanken und Erinnerungen ausführt, um eine der ungeschicktesten Bestimmungen des Pariser Friedens, die einer Nation von hundert Millionen die Unabhängigkeit seiner eignen Küsten beschränkte. Dagegen liegen die Alandsinseln so nahe an Schweden und so weit ab von Rußland, daß man von einer für eine Großmacht schimpflichen Verpflichtung schlechterdings nicht reden kann. Nußland steht in dieser Beziehung nicht allein da, da viele andre Mächte sich ähnlichen Beschränkungen ihrer Gebietshoheit mehrmals unterworfen haben. So wurde in der Wiener Kongreßakte 1815 stipuliert, daß keine Befestigungen in den sardinischen Gebieten Chablais und Faucigny ausgeführt werden dürften, und im zweiten Pariser Frieden 1815 wurde bestimmt, daß Hüningen nicht be¬ festigt werden dürfe. Diese servitutem sind noch jetzt in Kraft. Ferner kommt rechtlich in Betracht, daß die Bestimmung über die Nicht- befestigung als Teil des Pariser Friedens gemäß Artikel 33 zu gelten hat und daher nur mit Zustimmung aller Signatarmächte beseitigt werden kann, sodaß eine einseitige Erklärung Englands und Frankreichs nicht ausreichen würde, die Servitut aufzuheben. Deutschland, als mächtigster Uferstaat der Ostsee, kann und wird nicht dulden, daß sich Rußland plötzlich entgegen dem klaren Recht eine strategische Basis in der Ostsee schafft, die seiner künftigen Kriegsflotte die Möglichkeit gibt, nicht nur Schweden, das dann auf Gnade und Ungnade an Rußland ausgeliefert wäre, zu bedrohen, sondern anch uns zu strategischen Gegen¬ maßregeln zu nötigen. Wir haben nichts dagegen, daß sich Rußland an seinen Küsten einen erstklassiger Kriegshafen baut, wenn es dies mit seinen Finanzen für vereinbar hält, und falls Libau, für das schon so viele Millionen ausgegeben sind, sich nicht bewähren sollte, wie man neuerdings behauptet, so könnte die Bucht bei Björkö in Betracht kommen, aber eine Be¬ festigung der Alandsinseln können wir ebensowenig in unserm Interesse erachten als 1856 England und Frankreich, die damals ungefähr so zu Nußland standen wie jetzt wir. Die Nowoje Wremja gefüllt sich fast täglich darin, den Krieg gegen das Deutsche Reich zu predigen. Wie kann Rußland da noch verlangen, daß wir ihm dieselben Dienste wie 1871 leisten und es wiederum von einer Servitut des Pariser Friedens befreien helfen, diesmal noch dazu von einer, deren Aufhebung direkt unsre vitalsten Interessen schädigen würde? Unsre politischen Beziehungen zu Rußland haben immer im wesentlichen auf der Freundschaft der beiden Monarchen beruht, und wie Bismarck hinzufügt, auf der richtigen Pflege dieser Beziehungen durch höfische und diplomatische Geschicklichkeit der Vertreter. Augenblicklich sind ja diese dynastischen Beziehungen wieder freundschaftliche geworden, aber sie sind doch nicht mehr so ausschlaggebend wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/511>, abgerufen am 01.07.2024.