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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Sie Wahrheit über die deutsche Expansion

in einer materialistisch denkenden Zeit zu glauben geneigt ist, auf die Politik
reflektiert. Die Niederlande finden auf jeder Seite der deutschen Geschichte den
gleich unbändigen Freiheits- und Selbstündigkeitsdrcmg, der sie selber beseelt.
Die geistigen Bestrebungen beider Völker sind seit Jahrhunderten in besonders
engem Kontakt gewesen. Was in jedem der beiden Länder gedacht und ge¬
schrieben wurde, wirkte auf das andre zurück -- man kann sagen, die beiden
Völker arbeiteten Hand in Hand.

Das Gleiche war politisch der Fall; ich will auf ältere Dinge nicht zurück¬
greifen, auf die Hilfe der deutscheu Staaten während der spanischen Besetzung,
die die Kurfürsten von Brandenburg während der niederländischen Kriege Ludwigs
des Vierzehnten von Frankreich den Niederlanden geleistet haben. Aber auch
die Geschichte des letzten Jahrhunderts zeigt die gleiche Gemeinschaft der poli¬
tischen Interessen und Aktionen. Das neue Königreich der Niederlande entstand,
als preußische Truppen im Frühjahr 1814 die Franzosen aus Holland und
Belgien zurückdrängten. Als dann vor und während des Wiener Kongresses
zwischen den Kabinetten der vier gegen Napoleon siegreichen Großmächte Eng¬
land. Österreich. Preußen und Nußland über die Neuordnung der durch Napoleon
verwirrten europäischen Dinge verhandelt wurde und diese vier Mächte sich
daraufhin geeinigt hatten, ein starkes vereinigtes Königreich der Niederlande,
dem Belgien mit angehören sollte, zum Schutz gegen abermals zu erwartende
französische Expansionsgelüste zu bilden, war es neben dem englischen Kabinett,
das die Niederlande durch Vergrößerung auf dem Kontinent die Wegnahme
der Kolonien Ceylon und des Kaplandes vergessen machen wollte, der König
von Preußen, der sich aus traditioneller Freundschaft für die niederländische
Sache am meisten verwandte. Im Jahre 1830 war es abermals der König
von Preußen, der den Franzosen keine Zweifel darüber ließ, daß die von ihnen
bei Gelegenheit der Brüsseler Revolution ersehnte Annexion von Belgien Krieg
mit Preußen bedeuten würde, und auf diese Art die Unabhängigkeit der Belgier
rettete. Damals schlössen die Mächte ein Abkommen, das das von dem Königreich
der Niederlande losgelöste Königreich Belgien für neutral erklärte. Dadurch
hoffte man, das kleine Land vor französischen Annexionsgelüsten zu retten,
ebenso wie die Verbündeten im Jahre 1815 das Vereinigte Königreich der
Niederlande durch die Anlegung starker Festungen an der Westgrenze zu schützen
für nötig befanden.

Napoleon der Dritte hat dann in den sechziger Jahren, als Bismarck an
der Einigung Deutschlands arbeitete, wiederholt dem preußischen Staatsmann
angeboten, ihm gegen Überlassung von Belgien an Frankreich freie Hand in
innerdeutschen Angelegenheiten zu lassen, ein Ansinnen, auf das Bismarck me
eingegangen ist. Die Belgier wußten es denn auch ganz gut, daß sie, um Falle
daß Napoleon bei Sedan gesiegt hätte, ihre Unabhängigkeit verloren hätten.

Ich will jedoch alle diese Dinge, die der Vergangenheit und einer gänzlich
""dem politischen Lage angehören, nicht überschätzen oder etwa gar behaupten,


Sie Wahrheit über die deutsche Expansion

in einer materialistisch denkenden Zeit zu glauben geneigt ist, auf die Politik
reflektiert. Die Niederlande finden auf jeder Seite der deutschen Geschichte den
gleich unbändigen Freiheits- und Selbstündigkeitsdrcmg, der sie selber beseelt.
Die geistigen Bestrebungen beider Völker sind seit Jahrhunderten in besonders
engem Kontakt gewesen. Was in jedem der beiden Länder gedacht und ge¬
schrieben wurde, wirkte auf das andre zurück — man kann sagen, die beiden
Völker arbeiteten Hand in Hand.

Das Gleiche war politisch der Fall; ich will auf ältere Dinge nicht zurück¬
greifen, auf die Hilfe der deutscheu Staaten während der spanischen Besetzung,
die die Kurfürsten von Brandenburg während der niederländischen Kriege Ludwigs
des Vierzehnten von Frankreich den Niederlanden geleistet haben. Aber auch
die Geschichte des letzten Jahrhunderts zeigt die gleiche Gemeinschaft der poli¬
tischen Interessen und Aktionen. Das neue Königreich der Niederlande entstand,
als preußische Truppen im Frühjahr 1814 die Franzosen aus Holland und
Belgien zurückdrängten. Als dann vor und während des Wiener Kongresses
zwischen den Kabinetten der vier gegen Napoleon siegreichen Großmächte Eng¬
land. Österreich. Preußen und Nußland über die Neuordnung der durch Napoleon
verwirrten europäischen Dinge verhandelt wurde und diese vier Mächte sich
daraufhin geeinigt hatten, ein starkes vereinigtes Königreich der Niederlande,
dem Belgien mit angehören sollte, zum Schutz gegen abermals zu erwartende
französische Expansionsgelüste zu bilden, war es neben dem englischen Kabinett,
das die Niederlande durch Vergrößerung auf dem Kontinent die Wegnahme
der Kolonien Ceylon und des Kaplandes vergessen machen wollte, der König
von Preußen, der sich aus traditioneller Freundschaft für die niederländische
Sache am meisten verwandte. Im Jahre 1830 war es abermals der König
von Preußen, der den Franzosen keine Zweifel darüber ließ, daß die von ihnen
bei Gelegenheit der Brüsseler Revolution ersehnte Annexion von Belgien Krieg
mit Preußen bedeuten würde, und auf diese Art die Unabhängigkeit der Belgier
rettete. Damals schlössen die Mächte ein Abkommen, das das von dem Königreich
der Niederlande losgelöste Königreich Belgien für neutral erklärte. Dadurch
hoffte man, das kleine Land vor französischen Annexionsgelüsten zu retten,
ebenso wie die Verbündeten im Jahre 1815 das Vereinigte Königreich der
Niederlande durch die Anlegung starker Festungen an der Westgrenze zu schützen
für nötig befanden.

Napoleon der Dritte hat dann in den sechziger Jahren, als Bismarck an
der Einigung Deutschlands arbeitete, wiederholt dem preußischen Staatsmann
angeboten, ihm gegen Überlassung von Belgien an Frankreich freie Hand in
innerdeutschen Angelegenheiten zu lassen, ein Ansinnen, auf das Bismarck me
eingegangen ist. Die Belgier wußten es denn auch ganz gut, daß sie, um Falle
daß Napoleon bei Sedan gesiegt hätte, ihre Unabhängigkeit verloren hätten.

Ich will jedoch alle diese Dinge, die der Vergangenheit und einer gänzlich
""dem politischen Lage angehören, nicht überschätzen oder etwa gar behaupten,


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[0487] Sie Wahrheit über die deutsche Expansion in einer materialistisch denkenden Zeit zu glauben geneigt ist, auf die Politik reflektiert. Die Niederlande finden auf jeder Seite der deutschen Geschichte den gleich unbändigen Freiheits- und Selbstündigkeitsdrcmg, der sie selber beseelt. Die geistigen Bestrebungen beider Völker sind seit Jahrhunderten in besonders engem Kontakt gewesen. Was in jedem der beiden Länder gedacht und ge¬ schrieben wurde, wirkte auf das andre zurück — man kann sagen, die beiden Völker arbeiteten Hand in Hand. Das Gleiche war politisch der Fall; ich will auf ältere Dinge nicht zurück¬ greifen, auf die Hilfe der deutscheu Staaten während der spanischen Besetzung, die die Kurfürsten von Brandenburg während der niederländischen Kriege Ludwigs des Vierzehnten von Frankreich den Niederlanden geleistet haben. Aber auch die Geschichte des letzten Jahrhunderts zeigt die gleiche Gemeinschaft der poli¬ tischen Interessen und Aktionen. Das neue Königreich der Niederlande entstand, als preußische Truppen im Frühjahr 1814 die Franzosen aus Holland und Belgien zurückdrängten. Als dann vor und während des Wiener Kongresses zwischen den Kabinetten der vier gegen Napoleon siegreichen Großmächte Eng¬ land. Österreich. Preußen und Nußland über die Neuordnung der durch Napoleon verwirrten europäischen Dinge verhandelt wurde und diese vier Mächte sich daraufhin geeinigt hatten, ein starkes vereinigtes Königreich der Niederlande, dem Belgien mit angehören sollte, zum Schutz gegen abermals zu erwartende französische Expansionsgelüste zu bilden, war es neben dem englischen Kabinett, das die Niederlande durch Vergrößerung auf dem Kontinent die Wegnahme der Kolonien Ceylon und des Kaplandes vergessen machen wollte, der König von Preußen, der sich aus traditioneller Freundschaft für die niederländische Sache am meisten verwandte. Im Jahre 1830 war es abermals der König von Preußen, der den Franzosen keine Zweifel darüber ließ, daß die von ihnen bei Gelegenheit der Brüsseler Revolution ersehnte Annexion von Belgien Krieg mit Preußen bedeuten würde, und auf diese Art die Unabhängigkeit der Belgier rettete. Damals schlössen die Mächte ein Abkommen, das das von dem Königreich der Niederlande losgelöste Königreich Belgien für neutral erklärte. Dadurch hoffte man, das kleine Land vor französischen Annexionsgelüsten zu retten, ebenso wie die Verbündeten im Jahre 1815 das Vereinigte Königreich der Niederlande durch die Anlegung starker Festungen an der Westgrenze zu schützen für nötig befanden. Napoleon der Dritte hat dann in den sechziger Jahren, als Bismarck an der Einigung Deutschlands arbeitete, wiederholt dem preußischen Staatsmann angeboten, ihm gegen Überlassung von Belgien an Frankreich freie Hand in innerdeutschen Angelegenheiten zu lassen, ein Ansinnen, auf das Bismarck me eingegangen ist. Die Belgier wußten es denn auch ganz gut, daß sie, um Falle daß Napoleon bei Sedan gesiegt hätte, ihre Unabhängigkeit verloren hätten. Ich will jedoch alle diese Dinge, die der Vergangenheit und einer gänzlich ""dem politischen Lage angehören, nicht überschätzen oder etwa gar behaupten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/487>, abgerufen am 22.07.2024.