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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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gebaut; das Verhältnis der Bnndesstnaten zueinander ist ein sehr festes, aber
etwas kompliziertes Gleichgewichtssystem, das gerade durch seine Kompliziertheit
eine gewisse Starrheit hat. Eine Einbeziehung andrer Staaten in dieses System
wäre infolgedessen in der Praxis gar nicht so einfach, wie der Außenstehende
leicht glaubt. Es würde bei einer solchen Einbeziehung viele geben, die eine
Neuordnung der Stimmberechtigungen der Einzelstnaten im Bundesrate für
notwendig hielten. Eine solche Neuordnung wäre auch im besten Falle wie jede
einschneidende Verfassungsänderung ein schwieriges Unternehmen. Man kann
es deshalb nur mit der Unkenntnis der deutschen Verhältnisse erklären, daß die
chauvinistische Presse Westeuropas den guten Ruf Deutschlands namentlich in
den Vereinigten Staaten zu untergraben sucht und bald den Dänen, bald den
Böhmen, den Deutschösterreichern oder den Holländern graulich machen will vor
einer bevorstehenden Einverleibung ihrer Staaten in das Deutsche Reich, die
im Deutschen Reiche niemand wünscht -- und die gerade dort, auch wenn man
sie wünschte, bedeutenden Schwierigkeiten begegnen müßte.

Ich glaube nicht, daß die Märchen von der deutschen Annexion in Holland
oder Belgien selbst erfunden worden sind. Die sind anderswo zu suchen.

Dieses Gefühl der Sicherheit, das jeder der beiden Staaten nach Lage der
Dinge gegenüber dem andern hat und logischerweise haben muß, kommt in den
ausgezeichneten Beziehungen zum Ausdruck, die zwischen den beiden Staaten
herrschen und immer geherrscht haben, und die weder von der einen noch von
der andern Seite jemals getrübt worden sind. Die Vortrefflichkeit der Be¬
ziehungen liegt auf der einen Seite in der Parallelität der Interessen, auf der
andern Seite in kulturellen und ideellen Motiven fest verankert. Ich glaube,
die Bedeutung des ideellen Moments in der Politik wird meist unterschätzt.
Nach Maßgabe der Nassennnterschiede mögen sich diese ideellen Gesichtspunkte
bei verschiednen Völkern allerdings in verschiedner Stärke und verschiedner
Richtung geltend machen. Im allgemeinen sind gewiß Völker germanischer Rasse
weniger als andre den Stimmungen des Augenblicks und von der Phantasie
erzeugten Gefühlen Untertan, desto mehr aber der Macht einer gewissen ruhigen
historischen Kontinuität, einer Art von Treue gegenüber der eignen Geschichte.
Ihre Entwicklung ist weniger sprunghaft und willkürlich, sondern ruhiger und
geradliniger. Sie tun nicht gern Dinge, die im Widerspruch stehn mit den
Überlieferungen der Geschichte. Deutsche und Holländer haben, abgesehen von
der Rassenvcrwandtschaft ihrer Empfindungen und ihrer Eigenschaften, eine ge¬
meinsame Geistesgeschichte. Trotz aller Liebessehnsucht nach dem Süden empfand
der deutsche Künstler zwischen sich und dem südländischen Meister immer noch
eine Kluft, die sich niemals, auch in der höchsten Bewunderung und Hingabe,
ganz schloß. Von dem Holländer trennt ihn keine Kluft -- hier lebte er in
der gleichen Atmosphäre, die gleiche Seelen uwgibt. Dies mag für die Politik
bedeutungslos sein, dient aber auch nur zur Jllustrieruug einer allgemeinen
Gefühlsverwandtschaft, die sich auf allen Gebieten äußert und mehr, als man


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gebaut; das Verhältnis der Bnndesstnaten zueinander ist ein sehr festes, aber
etwas kompliziertes Gleichgewichtssystem, das gerade durch seine Kompliziertheit
eine gewisse Starrheit hat. Eine Einbeziehung andrer Staaten in dieses System
wäre infolgedessen in der Praxis gar nicht so einfach, wie der Außenstehende
leicht glaubt. Es würde bei einer solchen Einbeziehung viele geben, die eine
Neuordnung der Stimmberechtigungen der Einzelstnaten im Bundesrate für
notwendig hielten. Eine solche Neuordnung wäre auch im besten Falle wie jede
einschneidende Verfassungsänderung ein schwieriges Unternehmen. Man kann
es deshalb nur mit der Unkenntnis der deutschen Verhältnisse erklären, daß die
chauvinistische Presse Westeuropas den guten Ruf Deutschlands namentlich in
den Vereinigten Staaten zu untergraben sucht und bald den Dänen, bald den
Böhmen, den Deutschösterreichern oder den Holländern graulich machen will vor
einer bevorstehenden Einverleibung ihrer Staaten in das Deutsche Reich, die
im Deutschen Reiche niemand wünscht — und die gerade dort, auch wenn man
sie wünschte, bedeutenden Schwierigkeiten begegnen müßte.

Ich glaube nicht, daß die Märchen von der deutschen Annexion in Holland
oder Belgien selbst erfunden worden sind. Die sind anderswo zu suchen.

Dieses Gefühl der Sicherheit, das jeder der beiden Staaten nach Lage der
Dinge gegenüber dem andern hat und logischerweise haben muß, kommt in den
ausgezeichneten Beziehungen zum Ausdruck, die zwischen den beiden Staaten
herrschen und immer geherrscht haben, und die weder von der einen noch von
der andern Seite jemals getrübt worden sind. Die Vortrefflichkeit der Be¬
ziehungen liegt auf der einen Seite in der Parallelität der Interessen, auf der
andern Seite in kulturellen und ideellen Motiven fest verankert. Ich glaube,
die Bedeutung des ideellen Moments in der Politik wird meist unterschätzt.
Nach Maßgabe der Nassennnterschiede mögen sich diese ideellen Gesichtspunkte
bei verschiednen Völkern allerdings in verschiedner Stärke und verschiedner
Richtung geltend machen. Im allgemeinen sind gewiß Völker germanischer Rasse
weniger als andre den Stimmungen des Augenblicks und von der Phantasie
erzeugten Gefühlen Untertan, desto mehr aber der Macht einer gewissen ruhigen
historischen Kontinuität, einer Art von Treue gegenüber der eignen Geschichte.
Ihre Entwicklung ist weniger sprunghaft und willkürlich, sondern ruhiger und
geradliniger. Sie tun nicht gern Dinge, die im Widerspruch stehn mit den
Überlieferungen der Geschichte. Deutsche und Holländer haben, abgesehen von
der Rassenvcrwandtschaft ihrer Empfindungen und ihrer Eigenschaften, eine ge¬
meinsame Geistesgeschichte. Trotz aller Liebessehnsucht nach dem Süden empfand
der deutsche Künstler zwischen sich und dem südländischen Meister immer noch
eine Kluft, die sich niemals, auch in der höchsten Bewunderung und Hingabe,
ganz schloß. Von dem Holländer trennt ihn keine Kluft — hier lebte er in
der gleichen Atmosphäre, die gleiche Seelen uwgibt. Dies mag für die Politik
bedeutungslos sein, dient aber auch nur zur Jllustrieruug einer allgemeinen
Gefühlsverwandtschaft, die sich auf allen Gebieten äußert und mehr, als man


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[0486] Die Wahrheit über die deutsche Expansiv» gebaut; das Verhältnis der Bnndesstnaten zueinander ist ein sehr festes, aber etwas kompliziertes Gleichgewichtssystem, das gerade durch seine Kompliziertheit eine gewisse Starrheit hat. Eine Einbeziehung andrer Staaten in dieses System wäre infolgedessen in der Praxis gar nicht so einfach, wie der Außenstehende leicht glaubt. Es würde bei einer solchen Einbeziehung viele geben, die eine Neuordnung der Stimmberechtigungen der Einzelstnaten im Bundesrate für notwendig hielten. Eine solche Neuordnung wäre auch im besten Falle wie jede einschneidende Verfassungsänderung ein schwieriges Unternehmen. Man kann es deshalb nur mit der Unkenntnis der deutschen Verhältnisse erklären, daß die chauvinistische Presse Westeuropas den guten Ruf Deutschlands namentlich in den Vereinigten Staaten zu untergraben sucht und bald den Dänen, bald den Böhmen, den Deutschösterreichern oder den Holländern graulich machen will vor einer bevorstehenden Einverleibung ihrer Staaten in das Deutsche Reich, die im Deutschen Reiche niemand wünscht — und die gerade dort, auch wenn man sie wünschte, bedeutenden Schwierigkeiten begegnen müßte. Ich glaube nicht, daß die Märchen von der deutschen Annexion in Holland oder Belgien selbst erfunden worden sind. Die sind anderswo zu suchen. Dieses Gefühl der Sicherheit, das jeder der beiden Staaten nach Lage der Dinge gegenüber dem andern hat und logischerweise haben muß, kommt in den ausgezeichneten Beziehungen zum Ausdruck, die zwischen den beiden Staaten herrschen und immer geherrscht haben, und die weder von der einen noch von der andern Seite jemals getrübt worden sind. Die Vortrefflichkeit der Be¬ ziehungen liegt auf der einen Seite in der Parallelität der Interessen, auf der andern Seite in kulturellen und ideellen Motiven fest verankert. Ich glaube, die Bedeutung des ideellen Moments in der Politik wird meist unterschätzt. Nach Maßgabe der Nassennnterschiede mögen sich diese ideellen Gesichtspunkte bei verschiednen Völkern allerdings in verschiedner Stärke und verschiedner Richtung geltend machen. Im allgemeinen sind gewiß Völker germanischer Rasse weniger als andre den Stimmungen des Augenblicks und von der Phantasie erzeugten Gefühlen Untertan, desto mehr aber der Macht einer gewissen ruhigen historischen Kontinuität, einer Art von Treue gegenüber der eignen Geschichte. Ihre Entwicklung ist weniger sprunghaft und willkürlich, sondern ruhiger und geradliniger. Sie tun nicht gern Dinge, die im Widerspruch stehn mit den Überlieferungen der Geschichte. Deutsche und Holländer haben, abgesehen von der Rassenvcrwandtschaft ihrer Empfindungen und ihrer Eigenschaften, eine ge¬ meinsame Geistesgeschichte. Trotz aller Liebessehnsucht nach dem Süden empfand der deutsche Künstler zwischen sich und dem südländischen Meister immer noch eine Kluft, die sich niemals, auch in der höchsten Bewunderung und Hingabe, ganz schloß. Von dem Holländer trennt ihn keine Kluft — hier lebte er in der gleichen Atmosphäre, die gleiche Seelen uwgibt. Dies mag für die Politik bedeutungslos sein, dient aber auch nur zur Jllustrieruug einer allgemeinen Gefühlsverwandtschaft, die sich auf allen Gebieten äußert und mehr, als man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/486>, abgerufen am 24.08.2024.