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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die Wahrheit über die deutsche Expansion

die Belgier stünden der ruhigen Politik des heutigen Frankreich mit ähnlichen
Befürchtungen gegenüber wie der des dritten Napoleon. Die Dinge, die
damals wahr waren, sind inzwischen falsch geworden, und auch die lebhafteste"
geschichtlichen Erinnerungen würden gewiß, wenn es sonst sachliche Anhalts¬
punkte dafür gäbe, die beiden Staaten Holland und Belgien nicht abhalten,
ihren Befürchtungen eine andre Richtung zu geben. Immerhin aber mag die
Erinnerung daran, daß die Geschicke zweier Völker in der Vergangenheit freund¬
schaftlich verkettet waren, diese Völker verhindern, ohne sachliche Anhaltspunkte
voneinander Feindschaft und Übelwollen zu befürchten, sie schafft ein allgemeines
Milieu gegenseitigen Vertrauens, das, wenn es auch rein ideeller Natur wäre,
immer auch auf das praktische Handeln zurückwirken muß.

Deshalb möchte ich annehmen, daß die grundlose Angst, Deutschland könne
die Niederlande oder Belgien annektieren wollen, ihren Ursprung gar nicht in
Niederland oder Belgien hat, soudern in andern Ländern, wo Menschen, die
weder Deutschland noch die Niederlande kennen, glauben, das große Deutsch¬
land müßte eigentlich die beiden kleinen Nachbarstaaten annektieren wollen.

Es mag ja richtig sein, daß nach dem Kriege von 1870/71, als aus dem
seit Jahrhunderten zerrißnen und machtlosen Deutschland, das man in Europa
als oug,reit<z n^ligeMö anzusehen gewohnt war, mit einemmal ein mächtiger
einheitlicher Staat geworden war, das Ungewohnte der neuen Situation manchem
Holländer und Belgier Zweifel darüber aufsteigen ließ, ob der neue Staat auch
den rechten Gebrauch von seiner jungeu Macht machen würde. Diese Befürch¬
tungen erwiesen sich aber als grundlos und schwanden bald als Begleiterschei¬
nungen einer Übergangszeit.

Heute aber ist die Heimatstätte solcher Befürchtungen uicht mehr Belgien
und Holland. Vor einigen Jahren begann eine Gruppe von Schriftstellern
unter der Inspiration einflußreicher Politiker gewisser europäischer Westmächte
eine heftige Kampagne für eine holländisch-belgische Entente, die das einzige
Mittel sein sollte, die beiden Staaten vor der drohend bevorstehenden Annexion
durch deu Deutschen Kaiser zu schützen. Diese Politiker schrieben vielleicht in
gutem Glauben und meinten überdies, im Interesse ihrer Länder zu handeln,
wenn ringsum in der Welt die kleinern Völker, erschreckt durch das böse deutsche
Gespenst, veranlaßt würden, sich in den Schutz ihrer eignen nneigennützigern
und weniger gefährlichen Freundschaft zu begeben.

Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls keinen bessern Beweis für die Grund¬
losigkeit dieser Annexionsangst als den, daß dieses schreckliche deutsche Gespenst
gar keine eigne holländisch-belgische Produktion, sondern fremde Importware ist.




Die Wahrheit über die deutsche Expansion

die Belgier stünden der ruhigen Politik des heutigen Frankreich mit ähnlichen
Befürchtungen gegenüber wie der des dritten Napoleon. Die Dinge, die
damals wahr waren, sind inzwischen falsch geworden, und auch die lebhafteste»
geschichtlichen Erinnerungen würden gewiß, wenn es sonst sachliche Anhalts¬
punkte dafür gäbe, die beiden Staaten Holland und Belgien nicht abhalten,
ihren Befürchtungen eine andre Richtung zu geben. Immerhin aber mag die
Erinnerung daran, daß die Geschicke zweier Völker in der Vergangenheit freund¬
schaftlich verkettet waren, diese Völker verhindern, ohne sachliche Anhaltspunkte
voneinander Feindschaft und Übelwollen zu befürchten, sie schafft ein allgemeines
Milieu gegenseitigen Vertrauens, das, wenn es auch rein ideeller Natur wäre,
immer auch auf das praktische Handeln zurückwirken muß.

Deshalb möchte ich annehmen, daß die grundlose Angst, Deutschland könne
die Niederlande oder Belgien annektieren wollen, ihren Ursprung gar nicht in
Niederland oder Belgien hat, soudern in andern Ländern, wo Menschen, die
weder Deutschland noch die Niederlande kennen, glauben, das große Deutsch¬
land müßte eigentlich die beiden kleinen Nachbarstaaten annektieren wollen.

Es mag ja richtig sein, daß nach dem Kriege von 1870/71, als aus dem
seit Jahrhunderten zerrißnen und machtlosen Deutschland, das man in Europa
als oug,reit<z n^ligeMö anzusehen gewohnt war, mit einemmal ein mächtiger
einheitlicher Staat geworden war, das Ungewohnte der neuen Situation manchem
Holländer und Belgier Zweifel darüber aufsteigen ließ, ob der neue Staat auch
den rechten Gebrauch von seiner jungeu Macht machen würde. Diese Befürch¬
tungen erwiesen sich aber als grundlos und schwanden bald als Begleiterschei¬
nungen einer Übergangszeit.

Heute aber ist die Heimatstätte solcher Befürchtungen uicht mehr Belgien
und Holland. Vor einigen Jahren begann eine Gruppe von Schriftstellern
unter der Inspiration einflußreicher Politiker gewisser europäischer Westmächte
eine heftige Kampagne für eine holländisch-belgische Entente, die das einzige
Mittel sein sollte, die beiden Staaten vor der drohend bevorstehenden Annexion
durch deu Deutschen Kaiser zu schützen. Diese Politiker schrieben vielleicht in
gutem Glauben und meinten überdies, im Interesse ihrer Länder zu handeln,
wenn ringsum in der Welt die kleinern Völker, erschreckt durch das böse deutsche
Gespenst, veranlaßt würden, sich in den Schutz ihrer eignen nneigennützigern
und weniger gefährlichen Freundschaft zu begeben.

Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls keinen bessern Beweis für die Grund¬
losigkeit dieser Annexionsangst als den, daß dieses schreckliche deutsche Gespenst
gar keine eigne holländisch-belgische Produktion, sondern fremde Importware ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/488>, abgerufen am 22.07.2024.