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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Theodor Lentners Weltgeschichte

Nachdem Lindner so die abendländische Welt bis zu diesem Wendepunkte
begleitet hat, wendet er sich im zweiten Bande wieder zu der orientalischen
Kultur des Islam zurück, der durch seine Eroberungspolitik allenthalben mit der
occidental-christlichen Kultur zusammenstieß. Er beginnt wieder mit einem sehr
treffenden Vergleiche beider: "In den drei großen Kulturgruppen, die das
Mittelmeer umgaben, erfolgte im neunten Jahrhundert gleichmäßig ein Abschluß,
der ihr inneres Wesen für die Dauer bestimmte. Obgleich jede eine teilweise
Nachlassenschaft des Altertums enthielt, bestanden zwischen ihnen die größten
Unterschiede. Sie waren nicht bloß politische, sondern auch geistige Mächte
von besonderm Gepräge. In ihrem friedlichen Austausch und feindlichen Zu¬
sammenstoß lag die weitere Entwicklung der Weltgeschichte dieses gewaltigen
Teiles der Erde und über ihn hinaus." (Band II, S. 3.) Dabei tritt denn
wieder Linduers sehr hohe Schätzung der arabischen Kultur deutlich zutage;
diese Kultur trägt semitischen Charakter, ist aber nicht bloß Nachahmung,
sondern selbständige Weiterbildung. "Noch nie waren bis dahin eine Religion
und zugleich ihre Sprache über so ungeheure Räume und zahlreiche Volker
verbreitet." (S. 7.) Und hier in der arabischen Kultur waren nicht wie in
der abendländisch-christlichen Bildung und Wissen das Vorrecht einiger wenigen,
nicht eines einzelnen Standes, sondern hatten die weiteste Verbreitung. Er
bespricht dann im einzelnen die Universitäten, die Poesie, Philologie, Grammatik
und Geschichte des Islam. Großen Respekt hat er vor allem vor Ihr Chaldnn,
von dem er sagt: "Kein mittelalterlicher Gelehrter der ganzen Welt hat so
tief über Geschichte gedacht wie dieser Araber; viele der Fragen, mit denen
sich heute die Geschichtsphilosophie beschäftigt, hat er besprochen, wie schon
sein Grundgedanke, das soziale Leben, die gesamte geistige und materielle Kultur
der Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, bezeugt" (II, 14). Und den
Gipfel der arabischen Kultur faßt er in dein Werturteil zusammen: "Bagdad
vereinigte in sich, was Rom und Konstantinopel jede in ihrer höchsten Blüte
waren."

Nachdem er dann noch den allmählichen Verfall des Khalifats durch
innere Streitigkeiten, durch seldschutische Türken und die Mongolen geschildert
und auch diesen eine unbefangne Würdigung gewidmet hat, kehrt er wieder
zur abendländischen Welt lind ihren einzelnen sich ausbildenden Nationa¬
litäten zurück, um sich dann dem großen weltgeschichtlichen Konflikt beider
Kulturen, der sich in den Kreuzzügen vollzog, zuzuwenden. Von diesen letzten
hat er eine ziemlich kühle Auffassung und erkennt bei ihnen neben den selbst¬
losen Beweggründen auch sehr selbstsüchtige. Für den Islam bedeuteten sie
nach seiner Auffassung nichts als geringfügige örtliche Störungen. "Nicht in
ihren einzelnen Vorgängen, wohl aber in ihren allgemeinen Wirkungen ist die
weltgeschichtliche Stellung der Kreuzzüge zu suchen." (II, 194.) Namentlich
erfuhr 5 er occidentalisch-orientalische Handel durch die Krenzfahrerstaaten nach
haltige und für beide Kulturen wichtige Förderung.


Theodor Lentners Weltgeschichte

Nachdem Lindner so die abendländische Welt bis zu diesem Wendepunkte
begleitet hat, wendet er sich im zweiten Bande wieder zu der orientalischen
Kultur des Islam zurück, der durch seine Eroberungspolitik allenthalben mit der
occidental-christlichen Kultur zusammenstieß. Er beginnt wieder mit einem sehr
treffenden Vergleiche beider: „In den drei großen Kulturgruppen, die das
Mittelmeer umgaben, erfolgte im neunten Jahrhundert gleichmäßig ein Abschluß,
der ihr inneres Wesen für die Dauer bestimmte. Obgleich jede eine teilweise
Nachlassenschaft des Altertums enthielt, bestanden zwischen ihnen die größten
Unterschiede. Sie waren nicht bloß politische, sondern auch geistige Mächte
von besonderm Gepräge. In ihrem friedlichen Austausch und feindlichen Zu¬
sammenstoß lag die weitere Entwicklung der Weltgeschichte dieses gewaltigen
Teiles der Erde und über ihn hinaus." (Band II, S. 3.) Dabei tritt denn
wieder Linduers sehr hohe Schätzung der arabischen Kultur deutlich zutage;
diese Kultur trägt semitischen Charakter, ist aber nicht bloß Nachahmung,
sondern selbständige Weiterbildung. „Noch nie waren bis dahin eine Religion
und zugleich ihre Sprache über so ungeheure Räume und zahlreiche Volker
verbreitet." (S. 7.) Und hier in der arabischen Kultur waren nicht wie in
der abendländisch-christlichen Bildung und Wissen das Vorrecht einiger wenigen,
nicht eines einzelnen Standes, sondern hatten die weiteste Verbreitung. Er
bespricht dann im einzelnen die Universitäten, die Poesie, Philologie, Grammatik
und Geschichte des Islam. Großen Respekt hat er vor allem vor Ihr Chaldnn,
von dem er sagt: „Kein mittelalterlicher Gelehrter der ganzen Welt hat so
tief über Geschichte gedacht wie dieser Araber; viele der Fragen, mit denen
sich heute die Geschichtsphilosophie beschäftigt, hat er besprochen, wie schon
sein Grundgedanke, das soziale Leben, die gesamte geistige und materielle Kultur
der Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, bezeugt" (II, 14). Und den
Gipfel der arabischen Kultur faßt er in dein Werturteil zusammen: „Bagdad
vereinigte in sich, was Rom und Konstantinopel jede in ihrer höchsten Blüte
waren."

Nachdem er dann noch den allmählichen Verfall des Khalifats durch
innere Streitigkeiten, durch seldschutische Türken und die Mongolen geschildert
und auch diesen eine unbefangne Würdigung gewidmet hat, kehrt er wieder
zur abendländischen Welt lind ihren einzelnen sich ausbildenden Nationa¬
litäten zurück, um sich dann dem großen weltgeschichtlichen Konflikt beider
Kulturen, der sich in den Kreuzzügen vollzog, zuzuwenden. Von diesen letzten
hat er eine ziemlich kühle Auffassung und erkennt bei ihnen neben den selbst¬
losen Beweggründen auch sehr selbstsüchtige. Für den Islam bedeuteten sie
nach seiner Auffassung nichts als geringfügige örtliche Störungen. „Nicht in
ihren einzelnen Vorgängen, wohl aber in ihren allgemeinen Wirkungen ist die
weltgeschichtliche Stellung der Kreuzzüge zu suchen." (II, 194.) Namentlich
erfuhr 5 er occidentalisch-orientalische Handel durch die Krenzfahrerstaaten nach
haltige und für beide Kulturen wichtige Förderung.


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[0472] Theodor Lentners Weltgeschichte Nachdem Lindner so die abendländische Welt bis zu diesem Wendepunkte begleitet hat, wendet er sich im zweiten Bande wieder zu der orientalischen Kultur des Islam zurück, der durch seine Eroberungspolitik allenthalben mit der occidental-christlichen Kultur zusammenstieß. Er beginnt wieder mit einem sehr treffenden Vergleiche beider: „In den drei großen Kulturgruppen, die das Mittelmeer umgaben, erfolgte im neunten Jahrhundert gleichmäßig ein Abschluß, der ihr inneres Wesen für die Dauer bestimmte. Obgleich jede eine teilweise Nachlassenschaft des Altertums enthielt, bestanden zwischen ihnen die größten Unterschiede. Sie waren nicht bloß politische, sondern auch geistige Mächte von besonderm Gepräge. In ihrem friedlichen Austausch und feindlichen Zu¬ sammenstoß lag die weitere Entwicklung der Weltgeschichte dieses gewaltigen Teiles der Erde und über ihn hinaus." (Band II, S. 3.) Dabei tritt denn wieder Linduers sehr hohe Schätzung der arabischen Kultur deutlich zutage; diese Kultur trägt semitischen Charakter, ist aber nicht bloß Nachahmung, sondern selbständige Weiterbildung. „Noch nie waren bis dahin eine Religion und zugleich ihre Sprache über so ungeheure Räume und zahlreiche Volker verbreitet." (S. 7.) Und hier in der arabischen Kultur waren nicht wie in der abendländisch-christlichen Bildung und Wissen das Vorrecht einiger wenigen, nicht eines einzelnen Standes, sondern hatten die weiteste Verbreitung. Er bespricht dann im einzelnen die Universitäten, die Poesie, Philologie, Grammatik und Geschichte des Islam. Großen Respekt hat er vor allem vor Ihr Chaldnn, von dem er sagt: „Kein mittelalterlicher Gelehrter der ganzen Welt hat so tief über Geschichte gedacht wie dieser Araber; viele der Fragen, mit denen sich heute die Geschichtsphilosophie beschäftigt, hat er besprochen, wie schon sein Grundgedanke, das soziale Leben, die gesamte geistige und materielle Kultur der Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen, bezeugt" (II, 14). Und den Gipfel der arabischen Kultur faßt er in dein Werturteil zusammen: „Bagdad vereinigte in sich, was Rom und Konstantinopel jede in ihrer höchsten Blüte waren." Nachdem er dann noch den allmählichen Verfall des Khalifats durch innere Streitigkeiten, durch seldschutische Türken und die Mongolen geschildert und auch diesen eine unbefangne Würdigung gewidmet hat, kehrt er wieder zur abendländischen Welt lind ihren einzelnen sich ausbildenden Nationa¬ litäten zurück, um sich dann dem großen weltgeschichtlichen Konflikt beider Kulturen, der sich in den Kreuzzügen vollzog, zuzuwenden. Von diesen letzten hat er eine ziemlich kühle Auffassung und erkennt bei ihnen neben den selbst¬ losen Beweggründen auch sehr selbstsüchtige. Für den Islam bedeuteten sie nach seiner Auffassung nichts als geringfügige örtliche Störungen. „Nicht in ihren einzelnen Vorgängen, wohl aber in ihren allgemeinen Wirkungen ist die weltgeschichtliche Stellung der Kreuzzüge zu suchen." (II, 194.) Namentlich erfuhr 5 er occidentalisch-orientalische Handel durch die Krenzfahrerstaaten nach haltige und für beide Kulturen wichtige Förderung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/472>, abgerufen am 22.07.2024.