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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Seeburg deS Christentums und der Kämpfe der Römer mit den Germanen
enthält eine Fülle eigenartiger und charakteristischer Gedanke". Eingehender
schon werden die Anfänge der Völkerwanderung behandelt, die in ihrem weitern
Verlaufe dann zu jenem schroffen Bruch mit der bisherigen Kultur führten, die
Lindner veranlaßte, sie zum Anfangspunkte seiner Weltgeschichte zu machen.
Als Ursache der Völkerwanderung, die Lindner mit Recht gar nicht als eine
gemeinsam geplante oder geschlossene Handlung betrachtet, bezeichnet er nicht
nur die Landnot der wandernden Völkerschaften, sondern auch Abenteuer- und
Gewinnsucht. Ganz richtig hebt er hervor, daß die deutsche,? Herrscher (Odociter.
Theuderich) in dem seit 476 eroberten Italien keinerlei Verschmelzung anstrebten,
sondern die römischen Einrichtungen im wesentlichen bestehen ließen, ein von
ihm selbst erbrachter Beweis dafür, daß der Riß doch uicht ein so vollkommner
war, daß er die Unterlassung einer Schilderung der antiken Geschichte in einer
Weltgeschichte rechtfertigen könnte. Dagegen ist es richtig, was er von diesen
Kämpfen des untergehenden Römerreichs sagt: "Geradezu unermeßlich waren
die Verluste an Schätzen der Kunst und Literatur jeder Art, an Reichtum
und Menschenleben", und fortfährt (Band I, S. 113): "Ein Jahrtausend ver¬
ging, bis sich die abendländische Menschheit wieder zur geistigen .Höhe des
zweiten Jahrhunderts emporgearbeitet hatte." Der Kirche schreibt er mit Recht
das hohe Verdienst zu, den völligen Verlust der alten Bildung verhindert
zu haben.

Dem einzigen, in staatlicher Geschlossenheit erhaltnen Reste der alten
Kultur, dem Byzantinerreiche, ist dann das erste Buch der eigentlichen Dar¬
stellung gewidmet, die hier mit Recht der Geringschätzung und dem absprechender
Urteil entgegentritt, das gemeinhin über dieses Überbleibsel des stolzen römischen
Weltreichs gefällt wird. Demgegenüber betont Lindner. daß doch neben den
vielen häßlichen Erscheinungen hier auch viel Großes zu verzeichnen ist: "Literatur,
Kunst, Recht, Verwaltung (namentlich die Finanzverwaltung), Kirche, Kriegs¬
wesen erlitten keine Unterbrechung, sondern entwickelten sich weiter auf dem
Stande, den sie zu Anfang des fünften Jahrhunderts innehalten" (S. 123).
Jahrhundertelang war und blieb Byzanz in der alten Welt der einzig wirk¬
liche Staat nach modernen Begriffen. Die Schilderung, die Lindner mit tiefem
Eindringen in sein eigentümliches Wesen von diesem Staat entwirft, ist an¬
schaulich und belehrend in hohem Grade, wenngleich hier und da doch wohl das
Urteil zu günstig lautet. Ob zum Beispiel der Satz, daß trotz des herrschenden
Despotismus "der überwiegenden Zahl der Kaiser das Zeugnis uicht versagt
werden darf, daß sie redlich ihre Pflicht erfüllten oder wenigstens zu erfüllen
suchten", selbst gegenüber der eignen Schilderung Lindners von der äußern
und innern Geschichte des byzantinischen Reiches aufrecht erhalten werden kann,
erscheint doch einigermaßen zweifelhaft. Immerhin bleiben die Tatsachen sehr
beachtenswert, die er anführt, um ein Bild von der Blüte des Handels und
der Industrie in der Hauptstadt zu entwerfen. Sehr eingehend wird auch das


Grenzboten I 1908

Seeburg deS Christentums und der Kämpfe der Römer mit den Germanen
enthält eine Fülle eigenartiger und charakteristischer Gedanke». Eingehender
schon werden die Anfänge der Völkerwanderung behandelt, die in ihrem weitern
Verlaufe dann zu jenem schroffen Bruch mit der bisherigen Kultur führten, die
Lindner veranlaßte, sie zum Anfangspunkte seiner Weltgeschichte zu machen.
Als Ursache der Völkerwanderung, die Lindner mit Recht gar nicht als eine
gemeinsam geplante oder geschlossene Handlung betrachtet, bezeichnet er nicht
nur die Landnot der wandernden Völkerschaften, sondern auch Abenteuer- und
Gewinnsucht. Ganz richtig hebt er hervor, daß die deutsche,? Herrscher (Odociter.
Theuderich) in dem seit 476 eroberten Italien keinerlei Verschmelzung anstrebten,
sondern die römischen Einrichtungen im wesentlichen bestehen ließen, ein von
ihm selbst erbrachter Beweis dafür, daß der Riß doch uicht ein so vollkommner
war, daß er die Unterlassung einer Schilderung der antiken Geschichte in einer
Weltgeschichte rechtfertigen könnte. Dagegen ist es richtig, was er von diesen
Kämpfen des untergehenden Römerreichs sagt: „Geradezu unermeßlich waren
die Verluste an Schätzen der Kunst und Literatur jeder Art, an Reichtum
und Menschenleben", und fortfährt (Band I, S. 113): „Ein Jahrtausend ver¬
ging, bis sich die abendländische Menschheit wieder zur geistigen .Höhe des
zweiten Jahrhunderts emporgearbeitet hatte." Der Kirche schreibt er mit Recht
das hohe Verdienst zu, den völligen Verlust der alten Bildung verhindert
zu haben.

Dem einzigen, in staatlicher Geschlossenheit erhaltnen Reste der alten
Kultur, dem Byzantinerreiche, ist dann das erste Buch der eigentlichen Dar¬
stellung gewidmet, die hier mit Recht der Geringschätzung und dem absprechender
Urteil entgegentritt, das gemeinhin über dieses Überbleibsel des stolzen römischen
Weltreichs gefällt wird. Demgegenüber betont Lindner. daß doch neben den
vielen häßlichen Erscheinungen hier auch viel Großes zu verzeichnen ist: „Literatur,
Kunst, Recht, Verwaltung (namentlich die Finanzverwaltung), Kirche, Kriegs¬
wesen erlitten keine Unterbrechung, sondern entwickelten sich weiter auf dem
Stande, den sie zu Anfang des fünften Jahrhunderts innehalten" (S. 123).
Jahrhundertelang war und blieb Byzanz in der alten Welt der einzig wirk¬
liche Staat nach modernen Begriffen. Die Schilderung, die Lindner mit tiefem
Eindringen in sein eigentümliches Wesen von diesem Staat entwirft, ist an¬
schaulich und belehrend in hohem Grade, wenngleich hier und da doch wohl das
Urteil zu günstig lautet. Ob zum Beispiel der Satz, daß trotz des herrschenden
Despotismus „der überwiegenden Zahl der Kaiser das Zeugnis uicht versagt
werden darf, daß sie redlich ihre Pflicht erfüllten oder wenigstens zu erfüllen
suchten", selbst gegenüber der eignen Schilderung Lindners von der äußern
und innern Geschichte des byzantinischen Reiches aufrecht erhalten werden kann,
erscheint doch einigermaßen zweifelhaft. Immerhin bleiben die Tatsachen sehr
beachtenswert, die er anführt, um ein Bild von der Blüte des Handels und
der Industrie in der Hauptstadt zu entwerfen. Sehr eingehend wird auch das


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[0469] Seeburg deS Christentums und der Kämpfe der Römer mit den Germanen enthält eine Fülle eigenartiger und charakteristischer Gedanke». Eingehender schon werden die Anfänge der Völkerwanderung behandelt, die in ihrem weitern Verlaufe dann zu jenem schroffen Bruch mit der bisherigen Kultur führten, die Lindner veranlaßte, sie zum Anfangspunkte seiner Weltgeschichte zu machen. Als Ursache der Völkerwanderung, die Lindner mit Recht gar nicht als eine gemeinsam geplante oder geschlossene Handlung betrachtet, bezeichnet er nicht nur die Landnot der wandernden Völkerschaften, sondern auch Abenteuer- und Gewinnsucht. Ganz richtig hebt er hervor, daß die deutsche,? Herrscher (Odociter. Theuderich) in dem seit 476 eroberten Italien keinerlei Verschmelzung anstrebten, sondern die römischen Einrichtungen im wesentlichen bestehen ließen, ein von ihm selbst erbrachter Beweis dafür, daß der Riß doch uicht ein so vollkommner war, daß er die Unterlassung einer Schilderung der antiken Geschichte in einer Weltgeschichte rechtfertigen könnte. Dagegen ist es richtig, was er von diesen Kämpfen des untergehenden Römerreichs sagt: „Geradezu unermeßlich waren die Verluste an Schätzen der Kunst und Literatur jeder Art, an Reichtum und Menschenleben", und fortfährt (Band I, S. 113): „Ein Jahrtausend ver¬ ging, bis sich die abendländische Menschheit wieder zur geistigen .Höhe des zweiten Jahrhunderts emporgearbeitet hatte." Der Kirche schreibt er mit Recht das hohe Verdienst zu, den völligen Verlust der alten Bildung verhindert zu haben. Dem einzigen, in staatlicher Geschlossenheit erhaltnen Reste der alten Kultur, dem Byzantinerreiche, ist dann das erste Buch der eigentlichen Dar¬ stellung gewidmet, die hier mit Recht der Geringschätzung und dem absprechender Urteil entgegentritt, das gemeinhin über dieses Überbleibsel des stolzen römischen Weltreichs gefällt wird. Demgegenüber betont Lindner. daß doch neben den vielen häßlichen Erscheinungen hier auch viel Großes zu verzeichnen ist: „Literatur, Kunst, Recht, Verwaltung (namentlich die Finanzverwaltung), Kirche, Kriegs¬ wesen erlitten keine Unterbrechung, sondern entwickelten sich weiter auf dem Stande, den sie zu Anfang des fünften Jahrhunderts innehalten" (S. 123). Jahrhundertelang war und blieb Byzanz in der alten Welt der einzig wirk¬ liche Staat nach modernen Begriffen. Die Schilderung, die Lindner mit tiefem Eindringen in sein eigentümliches Wesen von diesem Staat entwirft, ist an¬ schaulich und belehrend in hohem Grade, wenngleich hier und da doch wohl das Urteil zu günstig lautet. Ob zum Beispiel der Satz, daß trotz des herrschenden Despotismus „der überwiegenden Zahl der Kaiser das Zeugnis uicht versagt werden darf, daß sie redlich ihre Pflicht erfüllten oder wenigstens zu erfüllen suchten", selbst gegenüber der eignen Schilderung Lindners von der äußern und innern Geschichte des byzantinischen Reiches aufrecht erhalten werden kann, erscheint doch einigermaßen zweifelhaft. Immerhin bleiben die Tatsachen sehr beachtenswert, die er anführt, um ein Bild von der Blüte des Handels und der Industrie in der Hauptstadt zu entwerfen. Sehr eingehend wird auch das Grenzboten I 1908

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/469>, abgerufen am 24.08.2024.