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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Theodor Linoners Weltgeschichte

Wissenschaft erst erhärten, für deren Vertiefung durch Aufstellung neuer Probleme
sich beide Auffassungen hervorragende Verdienste bereits erworben haben.

Wir können an dieser Stelle auf die Einzelheiten der Begründung der
Philosophischen Grundanschauungen Lindners nicht eingehn; seine Stellung
innerhalb der modernen Strömungen der Wissenschaft glauben wir in der
Hauptsache klargestellt zu haben. Das Einzelne muß man in seiner Geschichts¬
philosophie nachlesen, die sich allgemeines Interesse in einem Maße erobert
hat, wie es wenigen derartigen philosophischen Erörterungen beschieden ist, wie
sich am deutlichsten daraus ergibt, daß schon nach drei Jahren eine neue Auflage
notwendig geworden ist. Von nicht minder hohem Interesse ist dann die Art,
wie Lindner seine geschichtsphilosophischen Grundlagen in seiner Darstellung der
Weltgeschichte, die in ihrem eben erschienenen fünften Bande schon bis zum
Dreißigjährigen Kriege gediehen ist, praktisch durchgeführt hat, mit einer uni¬
versalen Vertrautheit mit der Geschichte und Literatur der verschiedensten Völker,
die den Leser in wahrhaftes Erstaunen versetzt.

Sehr merkwürdig und vou der bisherigen Gepflogenheit universalhistorischer
Darstellungen sehr abweichend ist schon der zeitliche Ausgangspunkt, mit den,
die Darstellung beginnt. Das gesamte Altertum ist völlig ausgeschieden oder
doch nur in einer kurzen Einleitung in seinen Grundzügen charakterisiert worden.
Lindner motiviert das eben mit seinem philosophischen Standpunkte, dem die
Aufgabe der Weltgeschichte ist, "das Werden unsrer heutigen Welt in ihrem
gesamten Inhalt zu erkläre,, und zu erzählen". Deswegen glaubt er mit der
für die gesamte weitere Entwicklung grundlegenden Periode der Zertrümmerung
der alten Welt durch die Völkerwanderung, die einen Bruch mit der ganzen
frühern Entwicklung bedeute, beginnen zu können: das Altertum sei ein eignes
Vlatt im Buche der Geschichte der Menschheit, das gewaltsam ausgerissen wurde;
das bewußte Streben aber, auf den Bestand des Altertums zurückzugehn und
ihn in neuer Weise nutzbar zu machen, gehöre erst der spätern Geschichte um
und sei dort zu schildern. "Denn nicht das Altertum, wie es wurde und war,
sondern lediglich das erhalten gebliebne Ergebnis, und auch dieses in der Auf¬
fassung der spätem Zeit, ist von weiter wirkender Kraft geworden." (Vorwort
ZU Band I, S. 11.) Es mußte also genügen, "im Anfang kurz zu schildern,
unter welchen ungeheuern Krämpfen die zitternde Hand der Geschichte den
verhängnisvollen Riß vollzog".

Allein, hier stock' ich schon. War dieser gewaltsame Riß wirtlich so voll¬
kommen, daß die weitere Entwicklung ohne jenes ausgerissene Blatt erschöpfend
ZU verstehn ist? Hat es nicht, auch ausgerissen, die weitere Entwicklung be¬
stimmend bedingt? Wer wollte das leugnen, der auch nur der äußern Tatsache
gedenkt, daß sich im staatlichen Leben des Mittelalters ständig die Idee erhielt,
daß das deutsche Kaisertum eine unmittelbare Fortsetzung des altrömischen sei?
Und ist der Einfluß, den das klassische Altertum auf die gesamte weitere ge¬
schichtliche Entwicklung bis in unsre Tage hinein, namentlich auf dein Gebiete


Theodor Linoners Weltgeschichte

Wissenschaft erst erhärten, für deren Vertiefung durch Aufstellung neuer Probleme
sich beide Auffassungen hervorragende Verdienste bereits erworben haben.

Wir können an dieser Stelle auf die Einzelheiten der Begründung der
Philosophischen Grundanschauungen Lindners nicht eingehn; seine Stellung
innerhalb der modernen Strömungen der Wissenschaft glauben wir in der
Hauptsache klargestellt zu haben. Das Einzelne muß man in seiner Geschichts¬
philosophie nachlesen, die sich allgemeines Interesse in einem Maße erobert
hat, wie es wenigen derartigen philosophischen Erörterungen beschieden ist, wie
sich am deutlichsten daraus ergibt, daß schon nach drei Jahren eine neue Auflage
notwendig geworden ist. Von nicht minder hohem Interesse ist dann die Art,
wie Lindner seine geschichtsphilosophischen Grundlagen in seiner Darstellung der
Weltgeschichte, die in ihrem eben erschienenen fünften Bande schon bis zum
Dreißigjährigen Kriege gediehen ist, praktisch durchgeführt hat, mit einer uni¬
versalen Vertrautheit mit der Geschichte und Literatur der verschiedensten Völker,
die den Leser in wahrhaftes Erstaunen versetzt.

Sehr merkwürdig und vou der bisherigen Gepflogenheit universalhistorischer
Darstellungen sehr abweichend ist schon der zeitliche Ausgangspunkt, mit den,
die Darstellung beginnt. Das gesamte Altertum ist völlig ausgeschieden oder
doch nur in einer kurzen Einleitung in seinen Grundzügen charakterisiert worden.
Lindner motiviert das eben mit seinem philosophischen Standpunkte, dem die
Aufgabe der Weltgeschichte ist, „das Werden unsrer heutigen Welt in ihrem
gesamten Inhalt zu erkläre,, und zu erzählen". Deswegen glaubt er mit der
für die gesamte weitere Entwicklung grundlegenden Periode der Zertrümmerung
der alten Welt durch die Völkerwanderung, die einen Bruch mit der ganzen
frühern Entwicklung bedeute, beginnen zu können: das Altertum sei ein eignes
Vlatt im Buche der Geschichte der Menschheit, das gewaltsam ausgerissen wurde;
das bewußte Streben aber, auf den Bestand des Altertums zurückzugehn und
ihn in neuer Weise nutzbar zu machen, gehöre erst der spätern Geschichte um
und sei dort zu schildern. „Denn nicht das Altertum, wie es wurde und war,
sondern lediglich das erhalten gebliebne Ergebnis, und auch dieses in der Auf¬
fassung der spätem Zeit, ist von weiter wirkender Kraft geworden." (Vorwort
ZU Band I, S. 11.) Es mußte also genügen, „im Anfang kurz zu schildern,
unter welchen ungeheuern Krämpfen die zitternde Hand der Geschichte den
verhängnisvollen Riß vollzog".

Allein, hier stock' ich schon. War dieser gewaltsame Riß wirtlich so voll¬
kommen, daß die weitere Entwicklung ohne jenes ausgerissene Blatt erschöpfend
ZU verstehn ist? Hat es nicht, auch ausgerissen, die weitere Entwicklung be¬
stimmend bedingt? Wer wollte das leugnen, der auch nur der äußern Tatsache
gedenkt, daß sich im staatlichen Leben des Mittelalters ständig die Idee erhielt,
daß das deutsche Kaisertum eine unmittelbare Fortsetzung des altrömischen sei?
Und ist der Einfluß, den das klassische Altertum auf die gesamte weitere ge¬
schichtliche Entwicklung bis in unsre Tage hinein, namentlich auf dein Gebiete


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[0467] Theodor Linoners Weltgeschichte Wissenschaft erst erhärten, für deren Vertiefung durch Aufstellung neuer Probleme sich beide Auffassungen hervorragende Verdienste bereits erworben haben. Wir können an dieser Stelle auf die Einzelheiten der Begründung der Philosophischen Grundanschauungen Lindners nicht eingehn; seine Stellung innerhalb der modernen Strömungen der Wissenschaft glauben wir in der Hauptsache klargestellt zu haben. Das Einzelne muß man in seiner Geschichts¬ philosophie nachlesen, die sich allgemeines Interesse in einem Maße erobert hat, wie es wenigen derartigen philosophischen Erörterungen beschieden ist, wie sich am deutlichsten daraus ergibt, daß schon nach drei Jahren eine neue Auflage notwendig geworden ist. Von nicht minder hohem Interesse ist dann die Art, wie Lindner seine geschichtsphilosophischen Grundlagen in seiner Darstellung der Weltgeschichte, die in ihrem eben erschienenen fünften Bande schon bis zum Dreißigjährigen Kriege gediehen ist, praktisch durchgeführt hat, mit einer uni¬ versalen Vertrautheit mit der Geschichte und Literatur der verschiedensten Völker, die den Leser in wahrhaftes Erstaunen versetzt. Sehr merkwürdig und vou der bisherigen Gepflogenheit universalhistorischer Darstellungen sehr abweichend ist schon der zeitliche Ausgangspunkt, mit den, die Darstellung beginnt. Das gesamte Altertum ist völlig ausgeschieden oder doch nur in einer kurzen Einleitung in seinen Grundzügen charakterisiert worden. Lindner motiviert das eben mit seinem philosophischen Standpunkte, dem die Aufgabe der Weltgeschichte ist, „das Werden unsrer heutigen Welt in ihrem gesamten Inhalt zu erkläre,, und zu erzählen". Deswegen glaubt er mit der für die gesamte weitere Entwicklung grundlegenden Periode der Zertrümmerung der alten Welt durch die Völkerwanderung, die einen Bruch mit der ganzen frühern Entwicklung bedeute, beginnen zu können: das Altertum sei ein eignes Vlatt im Buche der Geschichte der Menschheit, das gewaltsam ausgerissen wurde; das bewußte Streben aber, auf den Bestand des Altertums zurückzugehn und ihn in neuer Weise nutzbar zu machen, gehöre erst der spätern Geschichte um und sei dort zu schildern. „Denn nicht das Altertum, wie es wurde und war, sondern lediglich das erhalten gebliebne Ergebnis, und auch dieses in der Auf¬ fassung der spätem Zeit, ist von weiter wirkender Kraft geworden." (Vorwort ZU Band I, S. 11.) Es mußte also genügen, „im Anfang kurz zu schildern, unter welchen ungeheuern Krämpfen die zitternde Hand der Geschichte den verhängnisvollen Riß vollzog". Allein, hier stock' ich schon. War dieser gewaltsame Riß wirtlich so voll¬ kommen, daß die weitere Entwicklung ohne jenes ausgerissene Blatt erschöpfend ZU verstehn ist? Hat es nicht, auch ausgerissen, die weitere Entwicklung be¬ stimmend bedingt? Wer wollte das leugnen, der auch nur der äußern Tatsache gedenkt, daß sich im staatlichen Leben des Mittelalters ständig die Idee erhielt, daß das deutsche Kaisertum eine unmittelbare Fortsetzung des altrömischen sei? Und ist der Einfluß, den das klassische Altertum auf die gesamte weitere ge¬ schichtliche Entwicklung bis in unsre Tage hinein, namentlich auf dein Gebiete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/467>, abgerufen am 22.07.2024.