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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Theodor Lindners Weltgeschichte

Besitz übergegangen ist. Denn wenn es im Grunde Endzweck aller Wissenschaft
ist, die uns umgebende Welt zu versteh" und zu erklären, so kann die Aufgabe
der Geschichtschreibung als Wissenschaft in der Tat nur dahin definiert werden,
daß sie die uns umgebende staatliche, gesellschaftliche, geistige und Kulturwelt
aus ihrer Genesis zu begreifen und verständlich zu machen habe. Darauf beruht
ihre Verschiedenheit, aber auch ihre augenscheinliche Ähnlichkeit mit den Auf¬
gaben der Naturwissenschaft, die Lindner von seinem psychophysischen Standpunkt
aus zu der charakteristischen Äußerung veranlaßt: "die Geschichte gilt mir ebenso
als ein Stück des Erdenlebens wie alle Hervorbringungen der Natur." Aber
trotz dieses Standpunkts ist er doch nicht geneigt, der Lamprechtschen An¬
schauung von einem gesetzmäßigen Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung und
von der notwendigen Aufeinanderfolge gewisser mehr oder weniger genau bei den
verschiednen Völkern wiederkehrender Kulturzeitalter grundsätzlich zuzustimmen.
Vielmehr betrachtet er, während Lamprecht die typischen Erscheinungen sozial-
Psychischer Art als das Entscheidende der geschichtlichen Entwicklung bezeichnet,
als deren eigentliches Problem "die Entstehung der Verschiedenheit bei gleichen
Ursachen". Gleichwohl gibt er aber die Existenz einfacher Grundzüge zu, die
zu eilten Zeiten und bei allen Völkern nachweisbar sind, nähert sich also doch
wieder bis zu einem gewissen Grade der Lamprechtschen Anschauung, nur daß
er neben den typischen sozialpsychischen Erscheinungen der Entwicklung deren
materiellen Kräften einen größern Einfluß zuschreibt als Lamprecht. Auch hier
steht er in selbständiger Haltung beiden entgegengesetzten Richtungen seiner
Wissenschaft, gleichsam die Mitte zwischen beiden haltend, gegenüber. Die
Geschichte, sagt er einmal, ist weder sozialpsychisch noch individualpsychisch,
sondern beides. "Alle Geschichte vollzieht sich in beständiger Wechselwirkung
einer Gesamtheit oder Masse und der Individuen." (Geschichtsphilosophie S. 11.)
Wer würde da nicht an verwandte Aussprüche Rankes erinnert, an dessen
geschichtsphilosophische Ideen wohl Lindner, auch sie hier und da nach der
naturwissenschaftlichen Seite abwandelnd, am meisten anknüpft. Sein Standpunkt
gegenüber dem Verhältnis der sozialpshchischen zu den individualpsychischen
Kräften der geschichtlichen Entwicklung deckt sich tatsächlich in der Hauptsache
mit dem bekannten, scheinbar so einfachen und doch so tiefen Ausspruche Rankes:
"Auch in der Geschichte bekämpfen und durchdringen sich Freiheit und Not¬
wendigkeit. Die Freiheit erscheint mehr in den Persönlichkeiten, die Notwendig¬
keit in dem Leben des Gemeinwesens. Aber ist wohl die erste eine vollkommne,
"ut die andre, wäre sie eine unbedingte?" (Vorrede zu sämtlichen Werken,
Band 40/41.) Ähnliche Anklänge, aber stets doch wieder mit charakteristischen
"ud durchaus selbständigen Abwandlungen, kehren wiederholt gerade in den
philosophischen Erörterungen Lindners, der sich stolz und freudig als Schüler
Rankes bekennt, wieder, so zum Beispiel in seiner Stellung zu Rankes Jdeenlehre,
die er in gewissem Sinne annimmt, aber doch dadurch wieder in ihrem Wesen
wesentlich verändert, daß er sie jedes, auch des entferntesten transzendentalen


Theodor Lindners Weltgeschichte

Besitz übergegangen ist. Denn wenn es im Grunde Endzweck aller Wissenschaft
ist, die uns umgebende Welt zu versteh» und zu erklären, so kann die Aufgabe
der Geschichtschreibung als Wissenschaft in der Tat nur dahin definiert werden,
daß sie die uns umgebende staatliche, gesellschaftliche, geistige und Kulturwelt
aus ihrer Genesis zu begreifen und verständlich zu machen habe. Darauf beruht
ihre Verschiedenheit, aber auch ihre augenscheinliche Ähnlichkeit mit den Auf¬
gaben der Naturwissenschaft, die Lindner von seinem psychophysischen Standpunkt
aus zu der charakteristischen Äußerung veranlaßt: „die Geschichte gilt mir ebenso
als ein Stück des Erdenlebens wie alle Hervorbringungen der Natur." Aber
trotz dieses Standpunkts ist er doch nicht geneigt, der Lamprechtschen An¬
schauung von einem gesetzmäßigen Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung und
von der notwendigen Aufeinanderfolge gewisser mehr oder weniger genau bei den
verschiednen Völkern wiederkehrender Kulturzeitalter grundsätzlich zuzustimmen.
Vielmehr betrachtet er, während Lamprecht die typischen Erscheinungen sozial-
Psychischer Art als das Entscheidende der geschichtlichen Entwicklung bezeichnet,
als deren eigentliches Problem „die Entstehung der Verschiedenheit bei gleichen
Ursachen". Gleichwohl gibt er aber die Existenz einfacher Grundzüge zu, die
zu eilten Zeiten und bei allen Völkern nachweisbar sind, nähert sich also doch
wieder bis zu einem gewissen Grade der Lamprechtschen Anschauung, nur daß
er neben den typischen sozialpsychischen Erscheinungen der Entwicklung deren
materiellen Kräften einen größern Einfluß zuschreibt als Lamprecht. Auch hier
steht er in selbständiger Haltung beiden entgegengesetzten Richtungen seiner
Wissenschaft, gleichsam die Mitte zwischen beiden haltend, gegenüber. Die
Geschichte, sagt er einmal, ist weder sozialpsychisch noch individualpsychisch,
sondern beides. „Alle Geschichte vollzieht sich in beständiger Wechselwirkung
einer Gesamtheit oder Masse und der Individuen." (Geschichtsphilosophie S. 11.)
Wer würde da nicht an verwandte Aussprüche Rankes erinnert, an dessen
geschichtsphilosophische Ideen wohl Lindner, auch sie hier und da nach der
naturwissenschaftlichen Seite abwandelnd, am meisten anknüpft. Sein Standpunkt
gegenüber dem Verhältnis der sozialpshchischen zu den individualpsychischen
Kräften der geschichtlichen Entwicklung deckt sich tatsächlich in der Hauptsache
mit dem bekannten, scheinbar so einfachen und doch so tiefen Ausspruche Rankes:
"Auch in der Geschichte bekämpfen und durchdringen sich Freiheit und Not¬
wendigkeit. Die Freiheit erscheint mehr in den Persönlichkeiten, die Notwendig¬
keit in dem Leben des Gemeinwesens. Aber ist wohl die erste eine vollkommne,
"ut die andre, wäre sie eine unbedingte?" (Vorrede zu sämtlichen Werken,
Band 40/41.) Ähnliche Anklänge, aber stets doch wieder mit charakteristischen
»ud durchaus selbständigen Abwandlungen, kehren wiederholt gerade in den
philosophischen Erörterungen Lindners, der sich stolz und freudig als Schüler
Rankes bekennt, wieder, so zum Beispiel in seiner Stellung zu Rankes Jdeenlehre,
die er in gewissem Sinne annimmt, aber doch dadurch wieder in ihrem Wesen
wesentlich verändert, daß er sie jedes, auch des entferntesten transzendentalen


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[0465] Theodor Lindners Weltgeschichte Besitz übergegangen ist. Denn wenn es im Grunde Endzweck aller Wissenschaft ist, die uns umgebende Welt zu versteh» und zu erklären, so kann die Aufgabe der Geschichtschreibung als Wissenschaft in der Tat nur dahin definiert werden, daß sie die uns umgebende staatliche, gesellschaftliche, geistige und Kulturwelt aus ihrer Genesis zu begreifen und verständlich zu machen habe. Darauf beruht ihre Verschiedenheit, aber auch ihre augenscheinliche Ähnlichkeit mit den Auf¬ gaben der Naturwissenschaft, die Lindner von seinem psychophysischen Standpunkt aus zu der charakteristischen Äußerung veranlaßt: „die Geschichte gilt mir ebenso als ein Stück des Erdenlebens wie alle Hervorbringungen der Natur." Aber trotz dieses Standpunkts ist er doch nicht geneigt, der Lamprechtschen An¬ schauung von einem gesetzmäßigen Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung und von der notwendigen Aufeinanderfolge gewisser mehr oder weniger genau bei den verschiednen Völkern wiederkehrender Kulturzeitalter grundsätzlich zuzustimmen. Vielmehr betrachtet er, während Lamprecht die typischen Erscheinungen sozial- Psychischer Art als das Entscheidende der geschichtlichen Entwicklung bezeichnet, als deren eigentliches Problem „die Entstehung der Verschiedenheit bei gleichen Ursachen". Gleichwohl gibt er aber die Existenz einfacher Grundzüge zu, die zu eilten Zeiten und bei allen Völkern nachweisbar sind, nähert sich also doch wieder bis zu einem gewissen Grade der Lamprechtschen Anschauung, nur daß er neben den typischen sozialpsychischen Erscheinungen der Entwicklung deren materiellen Kräften einen größern Einfluß zuschreibt als Lamprecht. Auch hier steht er in selbständiger Haltung beiden entgegengesetzten Richtungen seiner Wissenschaft, gleichsam die Mitte zwischen beiden haltend, gegenüber. Die Geschichte, sagt er einmal, ist weder sozialpsychisch noch individualpsychisch, sondern beides. „Alle Geschichte vollzieht sich in beständiger Wechselwirkung einer Gesamtheit oder Masse und der Individuen." (Geschichtsphilosophie S. 11.) Wer würde da nicht an verwandte Aussprüche Rankes erinnert, an dessen geschichtsphilosophische Ideen wohl Lindner, auch sie hier und da nach der naturwissenschaftlichen Seite abwandelnd, am meisten anknüpft. Sein Standpunkt gegenüber dem Verhältnis der sozialpshchischen zu den individualpsychischen Kräften der geschichtlichen Entwicklung deckt sich tatsächlich in der Hauptsache mit dem bekannten, scheinbar so einfachen und doch so tiefen Ausspruche Rankes: "Auch in der Geschichte bekämpfen und durchdringen sich Freiheit und Not¬ wendigkeit. Die Freiheit erscheint mehr in den Persönlichkeiten, die Notwendig¬ keit in dem Leben des Gemeinwesens. Aber ist wohl die erste eine vollkommne, "ut die andre, wäre sie eine unbedingte?" (Vorrede zu sämtlichen Werken, Band 40/41.) Ähnliche Anklänge, aber stets doch wieder mit charakteristischen »ud durchaus selbständigen Abwandlungen, kehren wiederholt gerade in den philosophischen Erörterungen Lindners, der sich stolz und freudig als Schüler Rankes bekennt, wieder, so zum Beispiel in seiner Stellung zu Rankes Jdeenlehre, die er in gewissem Sinne annimmt, aber doch dadurch wieder in ihrem Wesen wesentlich verändert, daß er sie jedes, auch des entferntesten transzendentalen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/465>, abgerufen am 24.08.2024.