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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die großen Heeresreformen in Frankreich

Überblickt man den übrigen, unwesentlichen und deshalb hier noch nicht
besprochnen Inhalt des neuen französischen Militärgesetzes und faßt das Ganze
zu einem abschließenden Urteil zusammen, so kann es nicht anders lauten, als
daß es vom Gesichtspunkt der Kriegsbereitschaft der Armee unsrer westlichen Nach¬
barn von außerordentlicher Bedeutung und Tragweite ist. Alle Neuerungen, die
das Gesetz enthält, sind lediglich darauf gerichtet, die Schwierigkeiten des Über¬
gangs vom Fricdensfuß des Heeres auf deu Kriegsstand auf ein Mindestmaß zu
beschränken. Das zeigen besonders die Organisation der Infanterie und Artillerie,
die hohe Zahl von 1740 Offizieren als "besondre Stäbe" in allen Waffen¬
gattungen, die im Mobilmachuugsfalle sofort Kommandos bei den Neserve-
formationen zu übernehmen haben, sowie endlich die Ausstattung des General-
stabs mit 460 Offizieren, denen wir zum Beispiel im Frieden nur 300 General¬
stabsoffiziere gegenüberstellen können. Es darf wohl angenommen werden, daß
unsre maßgebenden Stellen diese Bedeutung der französischen Heeresreformen in
vollem Umfang erkannt haben und sie nicht unterschätzen werden. Aber trotz
der wesentlichen Verbesserungen, die das Kadergesetz der Heeresorganisativn den
Franzosen unstreitig bringen wird, sind diese selbst noch lange nicht damit zu¬
frieden und fürchten vor allem das numerische Übergewicht der deutschen Armee.
Auf dem Wege, diesen Unterschied allmählich immer mehr zu verringern, hat
die oberste Heeresleitung nun eiuen neuen Plan dahin gefaßt, daß sie die all¬
gemeine Dienstpflicht auch auf die Araber Algeriens ausdehnen will. Sie hofft
dadurch etwa 10000 Mann mehr zu gewinnen und mit ihnen die Aufstellung
zweier neuer Armeekorps zu bewirken. Es fragt sich nnr, ob sich dieser Plan
schon demnächst verwirklichen läßt. Die von der Regierung zur Prüfung der
einschlügigen Verhältnisse nach Afrika entsandte Kommission ist zwar schon
seit Monaten an der Arbeit, hat diese aber noch immer nicht abschließen
können, da fortdauernd neue Schwierigkeiten und Bedenken auftauchen, anch
die Wirren in Marokko sehr hinderlich sind. Auch in politischen Kreisen
Frankreichs würde man eine Heeresvermehrnng um zwei Armeekorps um sich
ganz gern sehen. Es wird jedoch wegen des Projekts darauf hingewiesen,
daß sich die Araber zwar ausgezeichnet als Söldner verwenden lassen, aber
nur für einige Zeit, denn dann würden sie vom Heimweh ergriffen, desertierten
und erkrankten. Bisher stellt Algier durchschnittlich jährlich gegen 17000 Frei¬
willige, die einen besondern Sold beziehen, und deren Rasseeigentümlichkeiten
Rechnung getragen wird. Tunis liefert gegen 8000 Mann. Würde man
aber in Algier die allgemeine Wehrpflicht einführen, so müßte man den Arabern
das französische Staatsbürgerrecht verleihen, und zudem besteht die nicht un¬
begründete Befürchtung, daß eine militärische Erziehung sämtlicher Wehr¬
pflichtigen in dieser Kolonie für den Fall eines Aufstands sehr bedenklich
werden könnte.

Die zurzeit vorhandnen französischen Streitkräfte in Algier und Tunis
gelten, was ihre Qualität betrifft, in französischen Fachkreisen als ersten


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Die großen Heeresreformen in Frankreich

Überblickt man den übrigen, unwesentlichen und deshalb hier noch nicht
besprochnen Inhalt des neuen französischen Militärgesetzes und faßt das Ganze
zu einem abschließenden Urteil zusammen, so kann es nicht anders lauten, als
daß es vom Gesichtspunkt der Kriegsbereitschaft der Armee unsrer westlichen Nach¬
barn von außerordentlicher Bedeutung und Tragweite ist. Alle Neuerungen, die
das Gesetz enthält, sind lediglich darauf gerichtet, die Schwierigkeiten des Über¬
gangs vom Fricdensfuß des Heeres auf deu Kriegsstand auf ein Mindestmaß zu
beschränken. Das zeigen besonders die Organisation der Infanterie und Artillerie,
die hohe Zahl von 1740 Offizieren als „besondre Stäbe" in allen Waffen¬
gattungen, die im Mobilmachuugsfalle sofort Kommandos bei den Neserve-
formationen zu übernehmen haben, sowie endlich die Ausstattung des General-
stabs mit 460 Offizieren, denen wir zum Beispiel im Frieden nur 300 General¬
stabsoffiziere gegenüberstellen können. Es darf wohl angenommen werden, daß
unsre maßgebenden Stellen diese Bedeutung der französischen Heeresreformen in
vollem Umfang erkannt haben und sie nicht unterschätzen werden. Aber trotz
der wesentlichen Verbesserungen, die das Kadergesetz der Heeresorganisativn den
Franzosen unstreitig bringen wird, sind diese selbst noch lange nicht damit zu¬
frieden und fürchten vor allem das numerische Übergewicht der deutschen Armee.
Auf dem Wege, diesen Unterschied allmählich immer mehr zu verringern, hat
die oberste Heeresleitung nun eiuen neuen Plan dahin gefaßt, daß sie die all¬
gemeine Dienstpflicht auch auf die Araber Algeriens ausdehnen will. Sie hofft
dadurch etwa 10000 Mann mehr zu gewinnen und mit ihnen die Aufstellung
zweier neuer Armeekorps zu bewirken. Es fragt sich nnr, ob sich dieser Plan
schon demnächst verwirklichen läßt. Die von der Regierung zur Prüfung der
einschlügigen Verhältnisse nach Afrika entsandte Kommission ist zwar schon
seit Monaten an der Arbeit, hat diese aber noch immer nicht abschließen
können, da fortdauernd neue Schwierigkeiten und Bedenken auftauchen, anch
die Wirren in Marokko sehr hinderlich sind. Auch in politischen Kreisen
Frankreichs würde man eine Heeresvermehrnng um zwei Armeekorps um sich
ganz gern sehen. Es wird jedoch wegen des Projekts darauf hingewiesen,
daß sich die Araber zwar ausgezeichnet als Söldner verwenden lassen, aber
nur für einige Zeit, denn dann würden sie vom Heimweh ergriffen, desertierten
und erkrankten. Bisher stellt Algier durchschnittlich jährlich gegen 17000 Frei¬
willige, die einen besondern Sold beziehen, und deren Rasseeigentümlichkeiten
Rechnung getragen wird. Tunis liefert gegen 8000 Mann. Würde man
aber in Algier die allgemeine Wehrpflicht einführen, so müßte man den Arabern
das französische Staatsbürgerrecht verleihen, und zudem besteht die nicht un¬
begründete Befürchtung, daß eine militärische Erziehung sämtlicher Wehr¬
pflichtigen in dieser Kolonie für den Fall eines Aufstands sehr bedenklich
werden könnte.

Die zurzeit vorhandnen französischen Streitkräfte in Algier und Tunis
gelten, was ihre Qualität betrifft, in französischen Fachkreisen als ersten


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[0461] Die großen Heeresreformen in Frankreich Überblickt man den übrigen, unwesentlichen und deshalb hier noch nicht besprochnen Inhalt des neuen französischen Militärgesetzes und faßt das Ganze zu einem abschließenden Urteil zusammen, so kann es nicht anders lauten, als daß es vom Gesichtspunkt der Kriegsbereitschaft der Armee unsrer westlichen Nach¬ barn von außerordentlicher Bedeutung und Tragweite ist. Alle Neuerungen, die das Gesetz enthält, sind lediglich darauf gerichtet, die Schwierigkeiten des Über¬ gangs vom Fricdensfuß des Heeres auf deu Kriegsstand auf ein Mindestmaß zu beschränken. Das zeigen besonders die Organisation der Infanterie und Artillerie, die hohe Zahl von 1740 Offizieren als „besondre Stäbe" in allen Waffen¬ gattungen, die im Mobilmachuugsfalle sofort Kommandos bei den Neserve- formationen zu übernehmen haben, sowie endlich die Ausstattung des General- stabs mit 460 Offizieren, denen wir zum Beispiel im Frieden nur 300 General¬ stabsoffiziere gegenüberstellen können. Es darf wohl angenommen werden, daß unsre maßgebenden Stellen diese Bedeutung der französischen Heeresreformen in vollem Umfang erkannt haben und sie nicht unterschätzen werden. Aber trotz der wesentlichen Verbesserungen, die das Kadergesetz der Heeresorganisativn den Franzosen unstreitig bringen wird, sind diese selbst noch lange nicht damit zu¬ frieden und fürchten vor allem das numerische Übergewicht der deutschen Armee. Auf dem Wege, diesen Unterschied allmählich immer mehr zu verringern, hat die oberste Heeresleitung nun eiuen neuen Plan dahin gefaßt, daß sie die all¬ gemeine Dienstpflicht auch auf die Araber Algeriens ausdehnen will. Sie hofft dadurch etwa 10000 Mann mehr zu gewinnen und mit ihnen die Aufstellung zweier neuer Armeekorps zu bewirken. Es fragt sich nnr, ob sich dieser Plan schon demnächst verwirklichen läßt. Die von der Regierung zur Prüfung der einschlügigen Verhältnisse nach Afrika entsandte Kommission ist zwar schon seit Monaten an der Arbeit, hat diese aber noch immer nicht abschließen können, da fortdauernd neue Schwierigkeiten und Bedenken auftauchen, anch die Wirren in Marokko sehr hinderlich sind. Auch in politischen Kreisen Frankreichs würde man eine Heeresvermehrnng um zwei Armeekorps um sich ganz gern sehen. Es wird jedoch wegen des Projekts darauf hingewiesen, daß sich die Araber zwar ausgezeichnet als Söldner verwenden lassen, aber nur für einige Zeit, denn dann würden sie vom Heimweh ergriffen, desertierten und erkrankten. Bisher stellt Algier durchschnittlich jährlich gegen 17000 Frei¬ willige, die einen besondern Sold beziehen, und deren Rasseeigentümlichkeiten Rechnung getragen wird. Tunis liefert gegen 8000 Mann. Würde man aber in Algier die allgemeine Wehrpflicht einführen, so müßte man den Arabern das französische Staatsbürgerrecht verleihen, und zudem besteht die nicht un¬ begründete Befürchtung, daß eine militärische Erziehung sämtlicher Wehr¬ pflichtigen in dieser Kolonie für den Fall eines Aufstands sehr bedenklich werden könnte. Die zurzeit vorhandnen französischen Streitkräfte in Algier und Tunis gelten, was ihre Qualität betrifft, in französischen Fachkreisen als ersten Grmzbomi ! I!.>08 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/461>, abgerufen am 22.07.2024.