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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Weiteres von Wilhelm Wundt

könnte, nicht gibt, so muß man auch zugestehn, daß es sehr schwierig ist und
im wesentlichen Sache des Geschmacks bleibt, die Stelle für den Schnitt zu
bestimmen, "der die bloß mechanisch regierte Lebewelt von der beseelten trennt.
Descartes, dem es darauf ankam, den Menschen von seinen tierischen An¬
verwandten möglichst weit zu entfernen, und der als einer der ersten die
mechanische Natur der Reflexe feststellte, verfuhr nach der Weise solcher Ent¬
decker so radikal wie möglich: er machte den Schnitt unmittelbar unter dem
Menschen. Selbst der Hund und das Pferd galten ihm für bloße natürliche
Automaten." So radikal verfahre kein heutiger Vertreter der Reflextheorie.
Aber an welcher Stelle der Schnitt zu machen sei, darüber seien die Meinungen
sehr verschieden, und was schlimmer sei, für die Entscheidung der Frage, was
psychisch, was mechanisch sei, bediene man sich meist unrichtiger Merkmale,
indem man Psychisches nur dort anerkennen wolle, wo deutlich ein überlegtes
Wählen zu bemerken sei. Ein psychischer Vorgang sei aber schon jedes Gefühl,
ja jede Sinneswahrnehmung. Beide Theorien huldigten dem Irrtum, daß
die psychischen Vorgänge allemal den Handlungen vorausgehn müßten, während
doch sehr viele Seelenregungen auch noch im Menschen nur Begleiterscheinungen
von Reflexbewegungen und andern physiologischen Veränderungen seien. Alle
Vorgänge auf niedern Stufen der Tierheit seien dieser Art und könnten
darum weder als rein Physisch noch als rein psychisch, sondern müßten als
psychophysisch bezeichnet werden. Nur wenn man darauf achte, könne man
sich auch die allmähliche Entstehung des Seelenlebens vorstellen, wie sie von
der Entwicklungslehre gefordert werde. Diese werde freilich von den wenigen
noch übrigen Anhängern einer dritten, der Jnstinktthcorie, abgelehnt. Diese
verstünden allerdings sehr gut die Reflextheorie zu widerlegen -- so u. a.
Wasmann, "einer unsrer verdientesten Beobachter des Lebens der Ameisen",
in seiner Polemik gegen Albrecht Beede, der die Ameisen und die Bienen für
Automaten hält*) --, aber mit ihrer Annahme von unbewußt zweckmäßigen
Handlungen verwickelten sie sich, "da auch im Tierreich das Zweckmäßige
schließlich nur aus einer zwecksetzenden Intelligenz hervorgehn kann", in die
Notwendigkeit, "zur göttlichen Intelligenz ihre Zuflucht zu nehmen, die dem
Tier ein für allemal seinen Instinkt und mit ihm gewissermaßen einen Ersatz
für die ihm fehlende Intelligenz verliehen habe". Darum lehnten sie auch
die Entwicklungstheorie ab, denn die Konstanz des Instinkts fordere die Kon¬
stanz der Spezies, und diese fordere einen einmaligen Schöpfungsakt. Ich
weiß nicht, ob alle Anhänger der Jnstinkttheorie so folgern, halte aber
diese Folgerung nicht für notwendig. Um Gott kommen wir auf keinen Fall
herum, sobald wir Zweckmäßigkeit in der Natur anerkennen und mit Wundt
zugeben, daß Zwecke nur von einer Intelligenz gesetzt werden können; eine



") Da ich Wasmanns Wert nicht gelesen habe, so weiß ich nicht, ob er mehr den In¬
I. telligenz- oder den Jnstinkttheoretikern beizuztthlen ist.
Weiteres von Wilhelm Wundt

könnte, nicht gibt, so muß man auch zugestehn, daß es sehr schwierig ist und
im wesentlichen Sache des Geschmacks bleibt, die Stelle für den Schnitt zu
bestimmen, „der die bloß mechanisch regierte Lebewelt von der beseelten trennt.
Descartes, dem es darauf ankam, den Menschen von seinen tierischen An¬
verwandten möglichst weit zu entfernen, und der als einer der ersten die
mechanische Natur der Reflexe feststellte, verfuhr nach der Weise solcher Ent¬
decker so radikal wie möglich: er machte den Schnitt unmittelbar unter dem
Menschen. Selbst der Hund und das Pferd galten ihm für bloße natürliche
Automaten." So radikal verfahre kein heutiger Vertreter der Reflextheorie.
Aber an welcher Stelle der Schnitt zu machen sei, darüber seien die Meinungen
sehr verschieden, und was schlimmer sei, für die Entscheidung der Frage, was
psychisch, was mechanisch sei, bediene man sich meist unrichtiger Merkmale,
indem man Psychisches nur dort anerkennen wolle, wo deutlich ein überlegtes
Wählen zu bemerken sei. Ein psychischer Vorgang sei aber schon jedes Gefühl,
ja jede Sinneswahrnehmung. Beide Theorien huldigten dem Irrtum, daß
die psychischen Vorgänge allemal den Handlungen vorausgehn müßten, während
doch sehr viele Seelenregungen auch noch im Menschen nur Begleiterscheinungen
von Reflexbewegungen und andern physiologischen Veränderungen seien. Alle
Vorgänge auf niedern Stufen der Tierheit seien dieser Art und könnten
darum weder als rein Physisch noch als rein psychisch, sondern müßten als
psychophysisch bezeichnet werden. Nur wenn man darauf achte, könne man
sich auch die allmähliche Entstehung des Seelenlebens vorstellen, wie sie von
der Entwicklungslehre gefordert werde. Diese werde freilich von den wenigen
noch übrigen Anhängern einer dritten, der Jnstinktthcorie, abgelehnt. Diese
verstünden allerdings sehr gut die Reflextheorie zu widerlegen — so u. a.
Wasmann, „einer unsrer verdientesten Beobachter des Lebens der Ameisen",
in seiner Polemik gegen Albrecht Beede, der die Ameisen und die Bienen für
Automaten hält*) —, aber mit ihrer Annahme von unbewußt zweckmäßigen
Handlungen verwickelten sie sich, „da auch im Tierreich das Zweckmäßige
schließlich nur aus einer zwecksetzenden Intelligenz hervorgehn kann", in die
Notwendigkeit, „zur göttlichen Intelligenz ihre Zuflucht zu nehmen, die dem
Tier ein für allemal seinen Instinkt und mit ihm gewissermaßen einen Ersatz
für die ihm fehlende Intelligenz verliehen habe". Darum lehnten sie auch
die Entwicklungstheorie ab, denn die Konstanz des Instinkts fordere die Kon¬
stanz der Spezies, und diese fordere einen einmaligen Schöpfungsakt. Ich
weiß nicht, ob alle Anhänger der Jnstinkttheorie so folgern, halte aber
diese Folgerung nicht für notwendig. Um Gott kommen wir auf keinen Fall
herum, sobald wir Zweckmäßigkeit in der Natur anerkennen und mit Wundt
zugeben, daß Zwecke nur von einer Intelligenz gesetzt werden können; eine



") Da ich Wasmanns Wert nicht gelesen habe, so weiß ich nicht, ob er mehr den In¬
I. telligenz- oder den Jnstinkttheoretikern beizuztthlen ist.
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[0430] Weiteres von Wilhelm Wundt könnte, nicht gibt, so muß man auch zugestehn, daß es sehr schwierig ist und im wesentlichen Sache des Geschmacks bleibt, die Stelle für den Schnitt zu bestimmen, „der die bloß mechanisch regierte Lebewelt von der beseelten trennt. Descartes, dem es darauf ankam, den Menschen von seinen tierischen An¬ verwandten möglichst weit zu entfernen, und der als einer der ersten die mechanische Natur der Reflexe feststellte, verfuhr nach der Weise solcher Ent¬ decker so radikal wie möglich: er machte den Schnitt unmittelbar unter dem Menschen. Selbst der Hund und das Pferd galten ihm für bloße natürliche Automaten." So radikal verfahre kein heutiger Vertreter der Reflextheorie. Aber an welcher Stelle der Schnitt zu machen sei, darüber seien die Meinungen sehr verschieden, und was schlimmer sei, für die Entscheidung der Frage, was psychisch, was mechanisch sei, bediene man sich meist unrichtiger Merkmale, indem man Psychisches nur dort anerkennen wolle, wo deutlich ein überlegtes Wählen zu bemerken sei. Ein psychischer Vorgang sei aber schon jedes Gefühl, ja jede Sinneswahrnehmung. Beide Theorien huldigten dem Irrtum, daß die psychischen Vorgänge allemal den Handlungen vorausgehn müßten, während doch sehr viele Seelenregungen auch noch im Menschen nur Begleiterscheinungen von Reflexbewegungen und andern physiologischen Veränderungen seien. Alle Vorgänge auf niedern Stufen der Tierheit seien dieser Art und könnten darum weder als rein Physisch noch als rein psychisch, sondern müßten als psychophysisch bezeichnet werden. Nur wenn man darauf achte, könne man sich auch die allmähliche Entstehung des Seelenlebens vorstellen, wie sie von der Entwicklungslehre gefordert werde. Diese werde freilich von den wenigen noch übrigen Anhängern einer dritten, der Jnstinktthcorie, abgelehnt. Diese verstünden allerdings sehr gut die Reflextheorie zu widerlegen — so u. a. Wasmann, „einer unsrer verdientesten Beobachter des Lebens der Ameisen", in seiner Polemik gegen Albrecht Beede, der die Ameisen und die Bienen für Automaten hält*) —, aber mit ihrer Annahme von unbewußt zweckmäßigen Handlungen verwickelten sie sich, „da auch im Tierreich das Zweckmäßige schließlich nur aus einer zwecksetzenden Intelligenz hervorgehn kann", in die Notwendigkeit, „zur göttlichen Intelligenz ihre Zuflucht zu nehmen, die dem Tier ein für allemal seinen Instinkt und mit ihm gewissermaßen einen Ersatz für die ihm fehlende Intelligenz verliehen habe". Darum lehnten sie auch die Entwicklungstheorie ab, denn die Konstanz des Instinkts fordere die Kon¬ stanz der Spezies, und diese fordere einen einmaligen Schöpfungsakt. Ich weiß nicht, ob alle Anhänger der Jnstinkttheorie so folgern, halte aber diese Folgerung nicht für notwendig. Um Gott kommen wir auf keinen Fall herum, sobald wir Zweckmäßigkeit in der Natur anerkennen und mit Wundt zugeben, daß Zwecke nur von einer Intelligenz gesetzt werden können; eine ") Da ich Wasmanns Wert nicht gelesen habe, so weiß ich nicht, ob er mehr den In¬ I. telligenz- oder den Jnstinkttheoretikern beizuztthlen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/430>, abgerufen am 24.08.2024.