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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Weines on>u Zvill^lui ivundt

Besten das Recht der Wertbestimmuug einräumt; dagegen hat das "objektiv"
gar keinen Sinn, wenn damit gemeint ist, die Menschheit dürfe den Wert der
Güter nicht nach dem Glück bemessen, das sie den einzelnen Subjekten gewähren.
Es gibt in der ganze" Welt keinen andern Maßstab als diesen, und alle
Versuche, einen solchen zu konstruieren, laufen auf Phrasen hinaus, die sehr
erhaben klingen, bei denen sich aber kein Mensch etwas denken kann. Und
das gilt gerade ganz besonders von den sittlichen Werten. Zwar stelle ich
mit Herbart die sittlichen Werturteile insofern neben die ästhetischen, als sie
gleich diesen ans dein natürlichen Wohlgefallen an harmonischen und dem
natürlichen Mißfallen an disharmonischen Verhältnissen hervorgehen. Aber die
Ähnlichkeit oder Verwandtschaft ist nicht Identität. Das Mißfallen an einer
empörenden Ungerechtigkeit erregt uns ganz anders als das Mißfallen an einer
nnshmmetrischen Fassade. Dieses läßt uns kalt. Wcirnm empört, erhitzt uus
jenes? Weil wir den Schmerz dessen mitempfinden, dem das Unrecht zu¬
gefügt worden ist, also aus einem im strengsten Sinne des Worts subjektiven
Grunde. Wenn ein Mensch, dem die Glieder, zuletzt der Kopf, abgehackt
würden, dabei so wenig empfände wie ein Holzklotz, seine Abschlachtung nicht
als Glücksvermindernng oder Glücksvernichtung schätzte, so wäre die Ver¬
stümmelung nud Tötung eines Menschen so wenig eine Ungerechtigkeit, so wenig
die Verletzung oder Vernichtung eines sittlichen Wertes, wie das Umbauen und
Zerkleinern eines Baumes. Übersensitive Phantasten wie Maeterlinck schreiben
freilich auch den Pflanzen Bewußtsein und Empfindung zu, und wenn das
nicht bloße Affektation und Phantasterei, sondern ihr Ernst ist, müssen sie schon
beim Abbrechen einer Frucht, eines Baumzweiges, einer Blume Gewissensbisse
empfinden. Daraus folgt zweierlei: daß für den Leugner des Seelenatoms mit
dem Ende des organischen Lebens ans unserm Planeten alle Werte einschließlich
der geistigen und der sittlichen zunichte werden und die ganze Entwicklung des
Geistes pro niliilo, für die Külz, gewesen ist, und daß, wer glaubt, die Forderungen
der Gerechtigkeit würden auf dieser Erde nicht oder mir sehr unvollkommen
erfüllt, auf den Ausgleich im Jenseits hoffen muß, wenn er nicht Pessimist
werden will. Aus diesen Gründen, und noch aus mehreren andern, halte ich
mit Leibniz, Lotze und Busse an der Hypothese des Seelenatoms fest.

Auch von der Tierpsychologie scheint sie mir gefordert zu werden. Von
Wundes Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele ist 1906 (bei
Leopold Voß in Hamburg und Leipzig) die vierte, umgearbeitete Auflage er¬
schienen. (Mit 53 Figuren im Text.) Es verhält sich, schreibt er in dem
die Tierpsychologie einleitenden Kapitel, mit dieser ganz anders als mit der
Physiologie. Die Tierphysiologic ist der Beobachtung (durch Vivisektion) weit
zugänglicher als das Leben des Menschenleibes. Darum braucht bei dessen
Untersuchung nicht erst daran erinnert zu werden, daß die vollständige Er¬
kenntnis der Lebenserscheinungen des Menschenleibes nur durch Experimente an
Tieren erlangt werden kann. Dagegen muß umgekehrt die Tierpsychologie


Weines on>u Zvill^lui ivundt

Besten das Recht der Wertbestimmuug einräumt; dagegen hat das „objektiv"
gar keinen Sinn, wenn damit gemeint ist, die Menschheit dürfe den Wert der
Güter nicht nach dem Glück bemessen, das sie den einzelnen Subjekten gewähren.
Es gibt in der ganze» Welt keinen andern Maßstab als diesen, und alle
Versuche, einen solchen zu konstruieren, laufen auf Phrasen hinaus, die sehr
erhaben klingen, bei denen sich aber kein Mensch etwas denken kann. Und
das gilt gerade ganz besonders von den sittlichen Werten. Zwar stelle ich
mit Herbart die sittlichen Werturteile insofern neben die ästhetischen, als sie
gleich diesen ans dein natürlichen Wohlgefallen an harmonischen und dem
natürlichen Mißfallen an disharmonischen Verhältnissen hervorgehen. Aber die
Ähnlichkeit oder Verwandtschaft ist nicht Identität. Das Mißfallen an einer
empörenden Ungerechtigkeit erregt uns ganz anders als das Mißfallen an einer
nnshmmetrischen Fassade. Dieses läßt uns kalt. Wcirnm empört, erhitzt uus
jenes? Weil wir den Schmerz dessen mitempfinden, dem das Unrecht zu¬
gefügt worden ist, also aus einem im strengsten Sinne des Worts subjektiven
Grunde. Wenn ein Mensch, dem die Glieder, zuletzt der Kopf, abgehackt
würden, dabei so wenig empfände wie ein Holzklotz, seine Abschlachtung nicht
als Glücksvermindernng oder Glücksvernichtung schätzte, so wäre die Ver¬
stümmelung nud Tötung eines Menschen so wenig eine Ungerechtigkeit, so wenig
die Verletzung oder Vernichtung eines sittlichen Wertes, wie das Umbauen und
Zerkleinern eines Baumes. Übersensitive Phantasten wie Maeterlinck schreiben
freilich auch den Pflanzen Bewußtsein und Empfindung zu, und wenn das
nicht bloße Affektation und Phantasterei, sondern ihr Ernst ist, müssen sie schon
beim Abbrechen einer Frucht, eines Baumzweiges, einer Blume Gewissensbisse
empfinden. Daraus folgt zweierlei: daß für den Leugner des Seelenatoms mit
dem Ende des organischen Lebens ans unserm Planeten alle Werte einschließlich
der geistigen und der sittlichen zunichte werden und die ganze Entwicklung des
Geistes pro niliilo, für die Külz, gewesen ist, und daß, wer glaubt, die Forderungen
der Gerechtigkeit würden auf dieser Erde nicht oder mir sehr unvollkommen
erfüllt, auf den Ausgleich im Jenseits hoffen muß, wenn er nicht Pessimist
werden will. Aus diesen Gründen, und noch aus mehreren andern, halte ich
mit Leibniz, Lotze und Busse an der Hypothese des Seelenatoms fest.

Auch von der Tierpsychologie scheint sie mir gefordert zu werden. Von
Wundes Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele ist 1906 (bei
Leopold Voß in Hamburg und Leipzig) die vierte, umgearbeitete Auflage er¬
schienen. (Mit 53 Figuren im Text.) Es verhält sich, schreibt er in dem
die Tierpsychologie einleitenden Kapitel, mit dieser ganz anders als mit der
Physiologie. Die Tierphysiologic ist der Beobachtung (durch Vivisektion) weit
zugänglicher als das Leben des Menschenleibes. Darum braucht bei dessen
Untersuchung nicht erst daran erinnert zu werden, daß die vollständige Er¬
kenntnis der Lebenserscheinungen des Menschenleibes nur durch Experimente an
Tieren erlangt werden kann. Dagegen muß umgekehrt die Tierpsychologie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/428>, abgerufen am 24.08.2024.