Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Lisenbahnfahrt von Sevilla nach Lordoba

verhelfen: Komm her und sieh! Komm her und koste! Das wird ein schönes
Leben sein, nicht wahr, Söhnchen?

Das Söhnchen nickte zustimmend, es ist lange mit einer Frage auf
den Lippen dagesessen, hat aber ehrerbietig geschwiegen; nun beeilt es sich,
die Pause zu benutzen: Kennen Sie Krapotkin? Er ist wohl gar aus Ihrem
Lande?

Nein, aber ich kenne seine Werke. Haben Sie wirklich Krapotkin gelesen?

Nicht gelesen, denn wir können nicht lesen, weder Vater noch ich. Aber
mein Schwiegersohn hat ihn uns daheim im Dorfe im revolutionären Klub
der Landarbeiter laut vorgelesen. Es sind gute Bücher, besonders lig. vonauists.
ack van (die Eroberung des Brotes). Das ist ein Mann: hier können Sie
ihn sehen. Er zieht eine anarchistische spanische Zeitung aus der Tasche und
zeigt uns Krapotkins Bild.

Ja, sagt der Vater, hätten wir bloß einen von seiner Sorte. Aber unsre
eignen Großen verkaufen sich für Geld, und so stehn wir ohne Führer da;
unsre Wurzel ist gut, aber der Wipfel ist morsch, das ist die Sache. Die
spanische Nation ist die beste auf der Welt, aber sie hat die schlechteste
Regierung.

Ein altes Wort sagt sonst, daß ein Volk immer die Negierung hat, die
es verdient, schaltete ich ein.

Ja, alte Worte sagen so viel. Aber was lehrt uns das neue Wort:
Wenn Läuse in den Weinstock der Berge kommen, so hackt ihn mit der Wurzel
aus, damit die Jnsekteneier nicht mit dem Wasser herabrinnen und das ganze
Tal verheeren. So spricht das neue Wort zu uns, während das alte uns
lehrte, daß gegen die Reblaus nichts zu machen sei, denn sie käme um unsrer
Sünden willen. Nun lebt wohl, Freund, und gute Reise.

Sie steigen aus; ich kann ihren schlanken Gestalten folgen, die schwer¬
beladen durch den Kalkstaub der Straße dahinstcimpfen und hinter einem Oliven¬
hain verschwinden.

Das südliche Spanien hat von den Mauren einen Sinn für das blendend
Weiße geerbt. Schiffe man durch die Straße von Gibraltar, so wirken die
Städte zu beiden Seiten gleich blendend, nur Gibraltar, in englischem Moll
herabgestimmt, bildet eine Ausnahme. Cadiz ist die Kulmination der weißen
Farbe, reiner weiß als diese Stadt kann nichts wirken, nicht einmal Schnee.

Rückt man nordwärts, so wird das Weiße von grauer, trübseliger Erd¬
farbe abgelöst; von außen und von oben gesehen, hat schon Sevilla etwas
davon abgestreift. Die Häuser werden nicht wie in Cadiz von flachen Dächern
abgeschlossen, auf denen, eingerahmt von weißen Brustwehren, sich weiße
Wäsche breitet; in Sevilla sind die meisten Gebäude mit grauen Ziegeln be¬
hängen, und in dem Totalbilde herrscht der Lehmton.

Unten aber ist die Stadt noch weiß. Aus der Tiefe der engen Gassen
geht der Blick aufwärts über schneidend weiße, sonnenbeschienene Mauerslüchen,
die ein Stück blauen Himmels einrahmen. Und das Weiße hat sich nach
innen geschlagen, in die Häuser, wo Decken und Wände getüncht und die An¬
sprüche an deren Weiße so streng sind, daß die tägliche Wohnungssäuberung
der Frauen zum wesentlichen Teile darin besteht, Kalk zu rühren und mit dem
Tünchpinsel nachzutragen.


Line Lisenbahnfahrt von Sevilla nach Lordoba

verhelfen: Komm her und sieh! Komm her und koste! Das wird ein schönes
Leben sein, nicht wahr, Söhnchen?

Das Söhnchen nickte zustimmend, es ist lange mit einer Frage auf
den Lippen dagesessen, hat aber ehrerbietig geschwiegen; nun beeilt es sich,
die Pause zu benutzen: Kennen Sie Krapotkin? Er ist wohl gar aus Ihrem
Lande?

Nein, aber ich kenne seine Werke. Haben Sie wirklich Krapotkin gelesen?

Nicht gelesen, denn wir können nicht lesen, weder Vater noch ich. Aber
mein Schwiegersohn hat ihn uns daheim im Dorfe im revolutionären Klub
der Landarbeiter laut vorgelesen. Es sind gute Bücher, besonders lig. vonauists.
ack van (die Eroberung des Brotes). Das ist ein Mann: hier können Sie
ihn sehen. Er zieht eine anarchistische spanische Zeitung aus der Tasche und
zeigt uns Krapotkins Bild.

Ja, sagt der Vater, hätten wir bloß einen von seiner Sorte. Aber unsre
eignen Großen verkaufen sich für Geld, und so stehn wir ohne Führer da;
unsre Wurzel ist gut, aber der Wipfel ist morsch, das ist die Sache. Die
spanische Nation ist die beste auf der Welt, aber sie hat die schlechteste
Regierung.

Ein altes Wort sagt sonst, daß ein Volk immer die Negierung hat, die
es verdient, schaltete ich ein.

Ja, alte Worte sagen so viel. Aber was lehrt uns das neue Wort:
Wenn Läuse in den Weinstock der Berge kommen, so hackt ihn mit der Wurzel
aus, damit die Jnsekteneier nicht mit dem Wasser herabrinnen und das ganze
Tal verheeren. So spricht das neue Wort zu uns, während das alte uns
lehrte, daß gegen die Reblaus nichts zu machen sei, denn sie käme um unsrer
Sünden willen. Nun lebt wohl, Freund, und gute Reise.

Sie steigen aus; ich kann ihren schlanken Gestalten folgen, die schwer¬
beladen durch den Kalkstaub der Straße dahinstcimpfen und hinter einem Oliven¬
hain verschwinden.

Das südliche Spanien hat von den Mauren einen Sinn für das blendend
Weiße geerbt. Schiffe man durch die Straße von Gibraltar, so wirken die
Städte zu beiden Seiten gleich blendend, nur Gibraltar, in englischem Moll
herabgestimmt, bildet eine Ausnahme. Cadiz ist die Kulmination der weißen
Farbe, reiner weiß als diese Stadt kann nichts wirken, nicht einmal Schnee.

Rückt man nordwärts, so wird das Weiße von grauer, trübseliger Erd¬
farbe abgelöst; von außen und von oben gesehen, hat schon Sevilla etwas
davon abgestreift. Die Häuser werden nicht wie in Cadiz von flachen Dächern
abgeschlossen, auf denen, eingerahmt von weißen Brustwehren, sich weiße
Wäsche breitet; in Sevilla sind die meisten Gebäude mit grauen Ziegeln be¬
hängen, und in dem Totalbilde herrscht der Lehmton.

Unten aber ist die Stadt noch weiß. Aus der Tiefe der engen Gassen
geht der Blick aufwärts über schneidend weiße, sonnenbeschienene Mauerslüchen,
die ein Stück blauen Himmels einrahmen. Und das Weiße hat sich nach
innen geschlagen, in die Häuser, wo Decken und Wände getüncht und die An¬
sprüche an deren Weiße so streng sind, daß die tägliche Wohnungssäuberung
der Frauen zum wesentlichen Teile darin besteht, Kalk zu rühren und mit dem
Tünchpinsel nachzutragen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311120"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Lisenbahnfahrt von Sevilla nach Lordoba</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_113" prev="#ID_112"> verhelfen: Komm her und sieh! Komm her und koste! Das wird ein schönes<lb/>
Leben sein, nicht wahr, Söhnchen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_114"> Das Söhnchen nickte zustimmend, es ist lange mit einer Frage auf<lb/>
den Lippen dagesessen, hat aber ehrerbietig geschwiegen; nun beeilt es sich,<lb/>
die Pause zu benutzen: Kennen Sie Krapotkin? Er ist wohl gar aus Ihrem<lb/>
Lande?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_115"> Nein, aber ich kenne seine Werke. Haben Sie wirklich Krapotkin gelesen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_116"> Nicht gelesen, denn wir können nicht lesen, weder Vater noch ich. Aber<lb/>
mein Schwiegersohn hat ihn uns daheim im Dorfe im revolutionären Klub<lb/>
der Landarbeiter laut vorgelesen. Es sind gute Bücher, besonders lig. vonauists.<lb/>
ack van (die Eroberung des Brotes). Das ist ein Mann: hier können Sie<lb/>
ihn sehen. Er zieht eine anarchistische spanische Zeitung aus der Tasche und<lb/>
zeigt uns Krapotkins Bild.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_117"> Ja, sagt der Vater, hätten wir bloß einen von seiner Sorte. Aber unsre<lb/>
eignen Großen verkaufen sich für Geld, und so stehn wir ohne Führer da;<lb/>
unsre Wurzel ist gut, aber der Wipfel ist morsch, das ist die Sache. Die<lb/>
spanische Nation ist die beste auf der Welt, aber sie hat die schlechteste<lb/>
Regierung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_118"> Ein altes Wort sagt sonst, daß ein Volk immer die Negierung hat, die<lb/>
es verdient, schaltete ich ein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_119"> Ja, alte Worte sagen so viel. Aber was lehrt uns das neue Wort:<lb/>
Wenn Läuse in den Weinstock der Berge kommen, so hackt ihn mit der Wurzel<lb/>
aus, damit die Jnsekteneier nicht mit dem Wasser herabrinnen und das ganze<lb/>
Tal verheeren. So spricht das neue Wort zu uns, während das alte uns<lb/>
lehrte, daß gegen die Reblaus nichts zu machen sei, denn sie käme um unsrer<lb/>
Sünden willen.  Nun lebt wohl, Freund, und gute Reise.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_120"> Sie steigen aus; ich kann ihren schlanken Gestalten folgen, die schwer¬<lb/>
beladen durch den Kalkstaub der Straße dahinstcimpfen und hinter einem Oliven¬<lb/>
hain verschwinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_121"> Das südliche Spanien hat von den Mauren einen Sinn für das blendend<lb/>
Weiße geerbt. Schiffe man durch die Straße von Gibraltar, so wirken die<lb/>
Städte zu beiden Seiten gleich blendend, nur Gibraltar, in englischem Moll<lb/>
herabgestimmt, bildet eine Ausnahme. Cadiz ist die Kulmination der weißen<lb/>
Farbe, reiner weiß als diese Stadt kann nichts wirken, nicht einmal Schnee.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_122"> Rückt man nordwärts, so wird das Weiße von grauer, trübseliger Erd¬<lb/>
farbe abgelöst; von außen und von oben gesehen, hat schon Sevilla etwas<lb/>
davon abgestreift. Die Häuser werden nicht wie in Cadiz von flachen Dächern<lb/>
abgeschlossen, auf denen, eingerahmt von weißen Brustwehren, sich weiße<lb/>
Wäsche breitet; in Sevilla sind die meisten Gebäude mit grauen Ziegeln be¬<lb/>
hängen, und in dem Totalbilde herrscht der Lehmton.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_123"> Unten aber ist die Stadt noch weiß. Aus der Tiefe der engen Gassen<lb/>
geht der Blick aufwärts über schneidend weiße, sonnenbeschienene Mauerslüchen,<lb/>
die ein Stück blauen Himmels einrahmen. Und das Weiße hat sich nach<lb/>
innen geschlagen, in die Häuser, wo Decken und Wände getüncht und die An¬<lb/>
sprüche an deren Weiße so streng sind, daß die tägliche Wohnungssäuberung<lb/>
der Frauen zum wesentlichen Teile darin besteht, Kalk zu rühren und mit dem<lb/>
Tünchpinsel nachzutragen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0039] Line Lisenbahnfahrt von Sevilla nach Lordoba verhelfen: Komm her und sieh! Komm her und koste! Das wird ein schönes Leben sein, nicht wahr, Söhnchen? Das Söhnchen nickte zustimmend, es ist lange mit einer Frage auf den Lippen dagesessen, hat aber ehrerbietig geschwiegen; nun beeilt es sich, die Pause zu benutzen: Kennen Sie Krapotkin? Er ist wohl gar aus Ihrem Lande? Nein, aber ich kenne seine Werke. Haben Sie wirklich Krapotkin gelesen? Nicht gelesen, denn wir können nicht lesen, weder Vater noch ich. Aber mein Schwiegersohn hat ihn uns daheim im Dorfe im revolutionären Klub der Landarbeiter laut vorgelesen. Es sind gute Bücher, besonders lig. vonauists. ack van (die Eroberung des Brotes). Das ist ein Mann: hier können Sie ihn sehen. Er zieht eine anarchistische spanische Zeitung aus der Tasche und zeigt uns Krapotkins Bild. Ja, sagt der Vater, hätten wir bloß einen von seiner Sorte. Aber unsre eignen Großen verkaufen sich für Geld, und so stehn wir ohne Führer da; unsre Wurzel ist gut, aber der Wipfel ist morsch, das ist die Sache. Die spanische Nation ist die beste auf der Welt, aber sie hat die schlechteste Regierung. Ein altes Wort sagt sonst, daß ein Volk immer die Negierung hat, die es verdient, schaltete ich ein. Ja, alte Worte sagen so viel. Aber was lehrt uns das neue Wort: Wenn Läuse in den Weinstock der Berge kommen, so hackt ihn mit der Wurzel aus, damit die Jnsekteneier nicht mit dem Wasser herabrinnen und das ganze Tal verheeren. So spricht das neue Wort zu uns, während das alte uns lehrte, daß gegen die Reblaus nichts zu machen sei, denn sie käme um unsrer Sünden willen. Nun lebt wohl, Freund, und gute Reise. Sie steigen aus; ich kann ihren schlanken Gestalten folgen, die schwer¬ beladen durch den Kalkstaub der Straße dahinstcimpfen und hinter einem Oliven¬ hain verschwinden. Das südliche Spanien hat von den Mauren einen Sinn für das blendend Weiße geerbt. Schiffe man durch die Straße von Gibraltar, so wirken die Städte zu beiden Seiten gleich blendend, nur Gibraltar, in englischem Moll herabgestimmt, bildet eine Ausnahme. Cadiz ist die Kulmination der weißen Farbe, reiner weiß als diese Stadt kann nichts wirken, nicht einmal Schnee. Rückt man nordwärts, so wird das Weiße von grauer, trübseliger Erd¬ farbe abgelöst; von außen und von oben gesehen, hat schon Sevilla etwas davon abgestreift. Die Häuser werden nicht wie in Cadiz von flachen Dächern abgeschlossen, auf denen, eingerahmt von weißen Brustwehren, sich weiße Wäsche breitet; in Sevilla sind die meisten Gebäude mit grauen Ziegeln be¬ hängen, und in dem Totalbilde herrscht der Lehmton. Unten aber ist die Stadt noch weiß. Aus der Tiefe der engen Gassen geht der Blick aufwärts über schneidend weiße, sonnenbeschienene Mauerslüchen, die ein Stück blauen Himmels einrahmen. Und das Weiße hat sich nach innen geschlagen, in die Häuser, wo Decken und Wände getüncht und die An¬ sprüche an deren Weiße so streng sind, daß die tägliche Wohnungssäuberung der Frauen zum wesentlichen Teile darin besteht, Kalk zu rühren und mit dem Tünchpinsel nachzutragen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/39
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/39>, abgerufen am 22.07.2024.