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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Thackeray

wir unter Thackeray dem Künstler zu verstehen haben, was eine solche Erscheinung
vor allein in dem englischen Leben zu bedeuten hat. Es ist nicht zu viel gesagt,
wenn man behauptet, daß, wenn Hingebung an den Gegenstand, objektive und
plastische Darstellung und vor allem Selbstlosigkeit in der Wiedergabe des
Geschauten das Wesen der Kunst begründen, wir hier zum erstenmal einer
künstlerischen Individualität gegenübertreten. Selbst die bedeutendsten Er¬
scheinungen der englischen Literatur leiden an dem Mangel künstlerischer Eigen¬
schaften. In Shakespeare wird die puritanische Übertreibung und die ungezügelte
Derbheit nur teilweise durch den Glanz des Elisabethischen Zeitalters überstrahlt
und gemildert; Miltons Dichtung, so sehr sie die Bekanntschaft mit den
Klassikern geregelt und stellenweise die italienische Renaissance ein horniges Be¬
hagen darüber gebreitet hat, wächst doch häufig ins Maßlose, und das Groteske
darin wird nicht immer dnrch die Stelle gerechtfertigt, die es in dem Ganzen
einnimmt. Vollends tritt uns in der neuern englischen Romandichtung durchweg
ein Mangel an Ausgeglichenheit des Geschmacks und ruhigem Fluß der Ent¬
wicklung störend in den Weg. Wir bewundern darin die Fülle der Einzelheiten,
die Genauigkeit der Beobachtung, die Tiefe der Einbildung in demselben Maße,
wie wir uns durch das Monströse und Übertriebne abgestoßen fühlen. In allen
diesen Beziehungen ist Thackeray Meister. Die ganze Plastik, Wohlausgeglichenheit
und Ruhe der Goethischen Kunst finden sich in seinen anmutig abgerundeten
Bildern, seinen kleinen wie auf Goldgrund gemalten lyrischen Arabesken, in der
Leichtigkeit und Beweglichkeit des sprachlichen Ausdrucks. An Kraft und Satt¬
heit der Farben, an ergreifenden Pathos hat ihn mancher übertroffen, keiner
an Korrektheit der Zeichnung und Bestimmtheit des Umrisses. Die Gabe, ein
Ding nach allen Seiten zu betrachten und es mit dem Mutwillen der Kunst,
die man mit Recht als das höchste Spiel bezeichnet hat, in verschiednen Farben
schillern zu lassen, sich in die verschiedensten Nuancen zu versetzen, ist ihm in
eminenten Sinne eigen, und so wenig ist ihm die Kunst eine Parteisache, daß
er in seinem Gedicht Ins (Nrorüols ok tds Drum, dem Gloiregefühl der Franzosen
in zündender Weise Ausdruck gegeben hat -- mit einer Wahrheit und Echtheit,
daß man zweifeln möchte, ob der Fluch des alten Trommlers gegen "diese
britischen Mörder" von einem Engländer geschrieben werden konnte. Das ists,
was ich im Eingang den kritischen Geist Thackerays genannt habe, und je
mehr man das englische Wesen studiert, desto mehr leuchtet es ein, daß bei der
Isolierung des englischen Lebens, bei dem niedrigen Stande der Bildung ein
solcher Geist zu einer geschichtlichen Notwendigkeit geworden ist. Hat England
bisher seine Macht unter den Nationen dem hartnäckigen Beharren auf seiner
allerdings großartigen Beschränktheit zu danken gehabt, so wird seine zukünftige
Größe und Kulturentwicklung von der Bereitwilligkeit abhängen, womit es mit
der Kulturentwicklung andrer Völker Schritt hält, und von der Beweglichkeit,
womit es die Ideen andrer Nationen in sich aufnimmt. An diesem großen
Werke zu arbeiten ist die Sache des Lehrers und Philosophen; aber ehe dieser


Thackeray

wir unter Thackeray dem Künstler zu verstehen haben, was eine solche Erscheinung
vor allein in dem englischen Leben zu bedeuten hat. Es ist nicht zu viel gesagt,
wenn man behauptet, daß, wenn Hingebung an den Gegenstand, objektive und
plastische Darstellung und vor allem Selbstlosigkeit in der Wiedergabe des
Geschauten das Wesen der Kunst begründen, wir hier zum erstenmal einer
künstlerischen Individualität gegenübertreten. Selbst die bedeutendsten Er¬
scheinungen der englischen Literatur leiden an dem Mangel künstlerischer Eigen¬
schaften. In Shakespeare wird die puritanische Übertreibung und die ungezügelte
Derbheit nur teilweise durch den Glanz des Elisabethischen Zeitalters überstrahlt
und gemildert; Miltons Dichtung, so sehr sie die Bekanntschaft mit den
Klassikern geregelt und stellenweise die italienische Renaissance ein horniges Be¬
hagen darüber gebreitet hat, wächst doch häufig ins Maßlose, und das Groteske
darin wird nicht immer dnrch die Stelle gerechtfertigt, die es in dem Ganzen
einnimmt. Vollends tritt uns in der neuern englischen Romandichtung durchweg
ein Mangel an Ausgeglichenheit des Geschmacks und ruhigem Fluß der Ent¬
wicklung störend in den Weg. Wir bewundern darin die Fülle der Einzelheiten,
die Genauigkeit der Beobachtung, die Tiefe der Einbildung in demselben Maße,
wie wir uns durch das Monströse und Übertriebne abgestoßen fühlen. In allen
diesen Beziehungen ist Thackeray Meister. Die ganze Plastik, Wohlausgeglichenheit
und Ruhe der Goethischen Kunst finden sich in seinen anmutig abgerundeten
Bildern, seinen kleinen wie auf Goldgrund gemalten lyrischen Arabesken, in der
Leichtigkeit und Beweglichkeit des sprachlichen Ausdrucks. An Kraft und Satt¬
heit der Farben, an ergreifenden Pathos hat ihn mancher übertroffen, keiner
an Korrektheit der Zeichnung und Bestimmtheit des Umrisses. Die Gabe, ein
Ding nach allen Seiten zu betrachten und es mit dem Mutwillen der Kunst,
die man mit Recht als das höchste Spiel bezeichnet hat, in verschiednen Farben
schillern zu lassen, sich in die verschiedensten Nuancen zu versetzen, ist ihm in
eminenten Sinne eigen, und so wenig ist ihm die Kunst eine Parteisache, daß
er in seinem Gedicht Ins (Nrorüols ok tds Drum, dem Gloiregefühl der Franzosen
in zündender Weise Ausdruck gegeben hat — mit einer Wahrheit und Echtheit,
daß man zweifeln möchte, ob der Fluch des alten Trommlers gegen „diese
britischen Mörder" von einem Engländer geschrieben werden konnte. Das ists,
was ich im Eingang den kritischen Geist Thackerays genannt habe, und je
mehr man das englische Wesen studiert, desto mehr leuchtet es ein, daß bei der
Isolierung des englischen Lebens, bei dem niedrigen Stande der Bildung ein
solcher Geist zu einer geschichtlichen Notwendigkeit geworden ist. Hat England
bisher seine Macht unter den Nationen dem hartnäckigen Beharren auf seiner
allerdings großartigen Beschränktheit zu danken gehabt, so wird seine zukünftige
Größe und Kulturentwicklung von der Bereitwilligkeit abhängen, womit es mit
der Kulturentwicklung andrer Völker Schritt hält, und von der Beweglichkeit,
womit es die Ideen andrer Nationen in sich aufnimmt. An diesem großen
Werke zu arbeiten ist die Sache des Lehrers und Philosophen; aber ehe dieser


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[0386] Thackeray wir unter Thackeray dem Künstler zu verstehen haben, was eine solche Erscheinung vor allein in dem englischen Leben zu bedeuten hat. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß, wenn Hingebung an den Gegenstand, objektive und plastische Darstellung und vor allem Selbstlosigkeit in der Wiedergabe des Geschauten das Wesen der Kunst begründen, wir hier zum erstenmal einer künstlerischen Individualität gegenübertreten. Selbst die bedeutendsten Er¬ scheinungen der englischen Literatur leiden an dem Mangel künstlerischer Eigen¬ schaften. In Shakespeare wird die puritanische Übertreibung und die ungezügelte Derbheit nur teilweise durch den Glanz des Elisabethischen Zeitalters überstrahlt und gemildert; Miltons Dichtung, so sehr sie die Bekanntschaft mit den Klassikern geregelt und stellenweise die italienische Renaissance ein horniges Be¬ hagen darüber gebreitet hat, wächst doch häufig ins Maßlose, und das Groteske darin wird nicht immer dnrch die Stelle gerechtfertigt, die es in dem Ganzen einnimmt. Vollends tritt uns in der neuern englischen Romandichtung durchweg ein Mangel an Ausgeglichenheit des Geschmacks und ruhigem Fluß der Ent¬ wicklung störend in den Weg. Wir bewundern darin die Fülle der Einzelheiten, die Genauigkeit der Beobachtung, die Tiefe der Einbildung in demselben Maße, wie wir uns durch das Monströse und Übertriebne abgestoßen fühlen. In allen diesen Beziehungen ist Thackeray Meister. Die ganze Plastik, Wohlausgeglichenheit und Ruhe der Goethischen Kunst finden sich in seinen anmutig abgerundeten Bildern, seinen kleinen wie auf Goldgrund gemalten lyrischen Arabesken, in der Leichtigkeit und Beweglichkeit des sprachlichen Ausdrucks. An Kraft und Satt¬ heit der Farben, an ergreifenden Pathos hat ihn mancher übertroffen, keiner an Korrektheit der Zeichnung und Bestimmtheit des Umrisses. Die Gabe, ein Ding nach allen Seiten zu betrachten und es mit dem Mutwillen der Kunst, die man mit Recht als das höchste Spiel bezeichnet hat, in verschiednen Farben schillern zu lassen, sich in die verschiedensten Nuancen zu versetzen, ist ihm in eminenten Sinne eigen, und so wenig ist ihm die Kunst eine Parteisache, daß er in seinem Gedicht Ins (Nrorüols ok tds Drum, dem Gloiregefühl der Franzosen in zündender Weise Ausdruck gegeben hat — mit einer Wahrheit und Echtheit, daß man zweifeln möchte, ob der Fluch des alten Trommlers gegen „diese britischen Mörder" von einem Engländer geschrieben werden konnte. Das ists, was ich im Eingang den kritischen Geist Thackerays genannt habe, und je mehr man das englische Wesen studiert, desto mehr leuchtet es ein, daß bei der Isolierung des englischen Lebens, bei dem niedrigen Stande der Bildung ein solcher Geist zu einer geschichtlichen Notwendigkeit geworden ist. Hat England bisher seine Macht unter den Nationen dem hartnäckigen Beharren auf seiner allerdings großartigen Beschränktheit zu danken gehabt, so wird seine zukünftige Größe und Kulturentwicklung von der Bereitwilligkeit abhängen, womit es mit der Kulturentwicklung andrer Völker Schritt hält, und von der Beweglichkeit, womit es die Ideen andrer Nationen in sich aufnimmt. An diesem großen Werke zu arbeiten ist die Sache des Lehrers und Philosophen; aber ehe dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/386>, abgerufen am 22.07.2024.