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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Straßenereignis, der geringfügigste Umstand des alltäglichen Lebens gibt ihm
den Anknüpfungspunkt. Man könnte aus feinen Büchern ein Laienbrevier mit
moralischen Texten füllen. Es wird ein Kapitel aus Nowena und Rebekka
erzählt: "So war Herr Wilfrid von Ivanhoe wie manch einer, der das Ziel
seiner Wünsche erreicht hat, enttäuscht. Ach, meine Freunde, es ist nur zu oft
so im Leben. Manch ein Garten sieht, aus der Ferne betrachtet, frisch und
grün aus, während er, in der Nähe betrachtet, mit Unkraut überwachsen ist.
Nur die Hoffnung ist wirklich, die Wirklichkeit Schein und Trug." Ein Kapitel
in Vienn^ ?air ist zu kurz geraten. "Aber, lieber Leser, ruft Thackeray,
haben wir nicht alle in unserm Leben solche kleinen Kapitel!" usw. Dabei
versteht er es trotz des objektiven Tones, seine Persönlichkeit durch allerlei
Künste in den Vordergrund zu stellen. In den 8nov?axvrs zählt er alle
die Personen auf, bereu gesellschaftliche Vorurteile ihn berechtigen, sie mit dem
Epitheton Snob zu bezeichnen. "Mich selbst hat man für einen gehalten", setzt
er mit feinem Selbstspott hinzu. Im Eitelkeitsmarkt wird erzählt, wie der dicke
Job seiner Lustbarkeit in dem Vergnüguugsgarteu von Vauxhall die Krone
mifsetzt, indem er nach heißem Punsch verlangt. "Dieser Punsch ist die Ver¬
anlassung zur Entstehung unsers Romans. Er beeinflußte das Leben aller
handelnden Personen, obwohl die meisten keinen Tropfen davon getrunken
huben." Manchmal dehnt sich die Betrachtung zu einer längern, im Plaudertone
gehaltnen Episode aus, und dann ist es, als wäre eine Seite des Spektatvrs
lebendig geworden, und als sähe mau die Weltklugheit Addisons durch die
Brille lugen.

In diesem Wohlgefallen an nachdenklicher Selbsteinkehr, in dem Hang,
sich Persönlich und historisch in eine vergangne Zeit zu versetzen, ein Hang,
der bei Thackeray so weit geht, daß er in Esmond die Sprache des Zeit¬
alters der Königin Anna mit den unbedeutendsten Nuancen des Dialekts
nachahmt und sozusagen philologisch einer abgestorbnen Kultur neues Leben
einhauchte, liegt eine Abkehr von dem Gedränge der Welt, ihren Interessen und
Leidenschaften. Thackeray hat diesen Zug mit mehr als einem seiner Zeitgenossen
gemein. Das politische Getriebe, der Kampf uach Rechten, das Geschrei der
Demagogen, die phrasenreiche Philanthropie hatten manchen des politischen
Denkens entwöhnt, andre dem Indifferentismus in die Arme getrieben. Deu
Besten erschien England durch den fortwährenden Kampf um das materielle
Wohl, durch seine Gefangenhansstatistik und Wahllisten, seinen Fabrikcnkultns
und seine Volkszählungen in einem Zustand erschreckender Nüchternheit. Es
gab uur ein Mittel, sich dieser Ernüchterung zu erwehren, und das war -- die
Religion. Es gab nur ein Mittel, der Zerstörung der Ideale Einhalt zu tuu,
an die Stelle widerstrebender Interesse" eine leitende Idee, an die Stelle des
berechnenden Krämergeistes die Begeisterung zu setzen -- das war die Kunst.

Wer Thackeray nicht nur aus seinen weltberühmten Romanen, sondern
aus seinen ivenig bekannten Gedichten und kleinen Aufsätzen kennt, weiß, was-


Straßenereignis, der geringfügigste Umstand des alltäglichen Lebens gibt ihm
den Anknüpfungspunkt. Man könnte aus feinen Büchern ein Laienbrevier mit
moralischen Texten füllen. Es wird ein Kapitel aus Nowena und Rebekka
erzählt: „So war Herr Wilfrid von Ivanhoe wie manch einer, der das Ziel
seiner Wünsche erreicht hat, enttäuscht. Ach, meine Freunde, es ist nur zu oft
so im Leben. Manch ein Garten sieht, aus der Ferne betrachtet, frisch und
grün aus, während er, in der Nähe betrachtet, mit Unkraut überwachsen ist.
Nur die Hoffnung ist wirklich, die Wirklichkeit Schein und Trug." Ein Kapitel
in Vienn^ ?air ist zu kurz geraten. „Aber, lieber Leser, ruft Thackeray,
haben wir nicht alle in unserm Leben solche kleinen Kapitel!" usw. Dabei
versteht er es trotz des objektiven Tones, seine Persönlichkeit durch allerlei
Künste in den Vordergrund zu stellen. In den 8nov?axvrs zählt er alle
die Personen auf, bereu gesellschaftliche Vorurteile ihn berechtigen, sie mit dem
Epitheton Snob zu bezeichnen. „Mich selbst hat man für einen gehalten", setzt
er mit feinem Selbstspott hinzu. Im Eitelkeitsmarkt wird erzählt, wie der dicke
Job seiner Lustbarkeit in dem Vergnüguugsgarteu von Vauxhall die Krone
mifsetzt, indem er nach heißem Punsch verlangt. „Dieser Punsch ist die Ver¬
anlassung zur Entstehung unsers Romans. Er beeinflußte das Leben aller
handelnden Personen, obwohl die meisten keinen Tropfen davon getrunken
huben." Manchmal dehnt sich die Betrachtung zu einer längern, im Plaudertone
gehaltnen Episode aus, und dann ist es, als wäre eine Seite des Spektatvrs
lebendig geworden, und als sähe mau die Weltklugheit Addisons durch die
Brille lugen.

In diesem Wohlgefallen an nachdenklicher Selbsteinkehr, in dem Hang,
sich Persönlich und historisch in eine vergangne Zeit zu versetzen, ein Hang,
der bei Thackeray so weit geht, daß er in Esmond die Sprache des Zeit¬
alters der Königin Anna mit den unbedeutendsten Nuancen des Dialekts
nachahmt und sozusagen philologisch einer abgestorbnen Kultur neues Leben
einhauchte, liegt eine Abkehr von dem Gedränge der Welt, ihren Interessen und
Leidenschaften. Thackeray hat diesen Zug mit mehr als einem seiner Zeitgenossen
gemein. Das politische Getriebe, der Kampf uach Rechten, das Geschrei der
Demagogen, die phrasenreiche Philanthropie hatten manchen des politischen
Denkens entwöhnt, andre dem Indifferentismus in die Arme getrieben. Deu
Besten erschien England durch den fortwährenden Kampf um das materielle
Wohl, durch seine Gefangenhansstatistik und Wahllisten, seinen Fabrikcnkultns
und seine Volkszählungen in einem Zustand erschreckender Nüchternheit. Es
gab uur ein Mittel, sich dieser Ernüchterung zu erwehren, und das war — die
Religion. Es gab nur ein Mittel, der Zerstörung der Ideale Einhalt zu tuu,
an die Stelle widerstrebender Interesse» eine leitende Idee, an die Stelle des
berechnenden Krämergeistes die Begeisterung zu setzen — das war die Kunst.

Wer Thackeray nicht nur aus seinen weltberühmten Romanen, sondern
aus seinen ivenig bekannten Gedichten und kleinen Aufsätzen kennt, weiß, was-


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[0385] Straßenereignis, der geringfügigste Umstand des alltäglichen Lebens gibt ihm den Anknüpfungspunkt. Man könnte aus feinen Büchern ein Laienbrevier mit moralischen Texten füllen. Es wird ein Kapitel aus Nowena und Rebekka erzählt: „So war Herr Wilfrid von Ivanhoe wie manch einer, der das Ziel seiner Wünsche erreicht hat, enttäuscht. Ach, meine Freunde, es ist nur zu oft so im Leben. Manch ein Garten sieht, aus der Ferne betrachtet, frisch und grün aus, während er, in der Nähe betrachtet, mit Unkraut überwachsen ist. Nur die Hoffnung ist wirklich, die Wirklichkeit Schein und Trug." Ein Kapitel in Vienn^ ?air ist zu kurz geraten. „Aber, lieber Leser, ruft Thackeray, haben wir nicht alle in unserm Leben solche kleinen Kapitel!" usw. Dabei versteht er es trotz des objektiven Tones, seine Persönlichkeit durch allerlei Künste in den Vordergrund zu stellen. In den 8nov?axvrs zählt er alle die Personen auf, bereu gesellschaftliche Vorurteile ihn berechtigen, sie mit dem Epitheton Snob zu bezeichnen. „Mich selbst hat man für einen gehalten", setzt er mit feinem Selbstspott hinzu. Im Eitelkeitsmarkt wird erzählt, wie der dicke Job seiner Lustbarkeit in dem Vergnüguugsgarteu von Vauxhall die Krone mifsetzt, indem er nach heißem Punsch verlangt. „Dieser Punsch ist die Ver¬ anlassung zur Entstehung unsers Romans. Er beeinflußte das Leben aller handelnden Personen, obwohl die meisten keinen Tropfen davon getrunken huben." Manchmal dehnt sich die Betrachtung zu einer längern, im Plaudertone gehaltnen Episode aus, und dann ist es, als wäre eine Seite des Spektatvrs lebendig geworden, und als sähe mau die Weltklugheit Addisons durch die Brille lugen. In diesem Wohlgefallen an nachdenklicher Selbsteinkehr, in dem Hang, sich Persönlich und historisch in eine vergangne Zeit zu versetzen, ein Hang, der bei Thackeray so weit geht, daß er in Esmond die Sprache des Zeit¬ alters der Königin Anna mit den unbedeutendsten Nuancen des Dialekts nachahmt und sozusagen philologisch einer abgestorbnen Kultur neues Leben einhauchte, liegt eine Abkehr von dem Gedränge der Welt, ihren Interessen und Leidenschaften. Thackeray hat diesen Zug mit mehr als einem seiner Zeitgenossen gemein. Das politische Getriebe, der Kampf uach Rechten, das Geschrei der Demagogen, die phrasenreiche Philanthropie hatten manchen des politischen Denkens entwöhnt, andre dem Indifferentismus in die Arme getrieben. Deu Besten erschien England durch den fortwährenden Kampf um das materielle Wohl, durch seine Gefangenhansstatistik und Wahllisten, seinen Fabrikcnkultns und seine Volkszählungen in einem Zustand erschreckender Nüchternheit. Es gab uur ein Mittel, sich dieser Ernüchterung zu erwehren, und das war — die Religion. Es gab nur ein Mittel, der Zerstörung der Ideale Einhalt zu tuu, an die Stelle widerstrebender Interesse» eine leitende Idee, an die Stelle des berechnenden Krämergeistes die Begeisterung zu setzen — das war die Kunst. Wer Thackeray nicht nur aus seinen weltberühmten Romanen, sondern aus seinen ivenig bekannten Gedichten und kleinen Aufsätzen kennt, weiß, was-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/385>, abgerufen am 22.07.2024.