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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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religiöser Mystik erfüllte Philosophie in dem Körper nur noch einen lästigen
und erniedrigenden Kerker erblickt, der die ihrer Erlösung harrende Seele ge¬
fangen hält." Zugleich entwickelt sich die Vorstellung von einer verschiednen
Dignität der Seelen: am höchsten steigt im Ansehen der Seher, dem es ge¬
geben ist, mit Geistern zu verkehren. Und wer die Zukunft voraussieht, kann
leicht auf den Gedanken verfallen, er vermöge sie auch zu beherrschen, nach
seinem Willen zu gestalten, kann also leicht zum Zauberer werden. Greift
dann aber auf einer höhern Stufe der Intellekt unterscheidend und zügelnd
ein, so wird nur noch an den Seher, aber nicht mehr an den Zauberer ge¬
glaubt, weil diesen der Mißerfolg seiner Zauberkünste im Lichte der kritischen
Beobachtung zuschanden macht. Wird der Seher ein Wundertäter, so be¬
deutet das nicht ein Zurücksinken auf die Stufe des Zauberers, weil das
Wunder eiuer Einwirkung der Gottheit zugeschrieben wird. "Vor allem
aber ist die Vision vermöge jener Entrückung in die Ferne, die ihr als die
primäre Eigenschaft zukommt, eine Hauptquelle der Vorstellungen von: Leben
nach dem Tode und vom Totenreich, das als die Stätte dieses Lebens ge¬
dacht wird."

Zu den Seelen der Verstorbnen gesellen sich dann als Bewohner des
Geisterreichs noch andre Wesen, deren Erzeugungsstätte, wie die des Schatten¬
reichs, ebenfalls der Traum ist, und zwar der Angsttraum. Der aus
Hemmungen der Atmung und Beschleunigungen oder Hemmungen des Herz¬
schlags entstehende Angsttraum ist entweder ein Fratzentraum oder ein Alp¬
traum. In beiden Fällen scheint dem Träumender ein gespenstisches Wesen,
das im Alptraum riesige Dimensionen oder die Gestalt einer erdrückenden Last
annimmt, feindlich entgegenzutreten. Der aufgeklärte moderne Mensch inasoulini,
seit einiger Zeit wohl auch ksinivini Mnsris, erleidet die Angst sehr häufig
in der Form einer Schulprüfung oder einer Schulstunde mit dem Bewußtsein,
nicht präpariert zu sein. Dem Unaufgeklärten erwächst aus solchen Träumen
das Geschlecht der Elben, Kobolde, Erdmännlein, Vampire, Werwölfe und
das ganze Dümonenrcich. Zu ihrer Entstehung wirken die Krankheiten mit,
besonders plötzliche Krankheitsanfülle mit auffälligen Symptomen: Delirien,
Zuckungen und dergleichen. Hier ist es nicht der Leidende, der den Dämon
wahrnimmt, sondern seine Umgebung, die des feindlichen Wesens Wirken in
einem objektiven Befund zu schauen glaubt. Beides vereinigt ergibt die ver¬
meintliche Inkubation im Äskulaptempel, aus der die Heilkunde hervorgegangen
ist. Waren es ursprünglich nur zurückkehrende Seelen von Verstorbnen, vor
denen man sich fürchtete, so haben dann die erwähnten Träume und Krank¬
heiten und andre vermeintliche Erfahrungen wie Nebelgestalten nicht bloß über
Gräbern, sondern auch an andern Orten, Angstgefühle, die sich in der Finsternis,
der Wüste, auf See des Einsamen bemächtigen, die Luft, das Wasser und die
Erde mit Wesen bevölkert, die nicht mehr als Seelen Verstorbner, sondern
schlechthin als Geister gedacht werden, und von denen einzelne mit großer


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religiöser Mystik erfüllte Philosophie in dem Körper nur noch einen lästigen
und erniedrigenden Kerker erblickt, der die ihrer Erlösung harrende Seele ge¬
fangen hält." Zugleich entwickelt sich die Vorstellung von einer verschiednen
Dignität der Seelen: am höchsten steigt im Ansehen der Seher, dem es ge¬
geben ist, mit Geistern zu verkehren. Und wer die Zukunft voraussieht, kann
leicht auf den Gedanken verfallen, er vermöge sie auch zu beherrschen, nach
seinem Willen zu gestalten, kann also leicht zum Zauberer werden. Greift
dann aber auf einer höhern Stufe der Intellekt unterscheidend und zügelnd
ein, so wird nur noch an den Seher, aber nicht mehr an den Zauberer ge¬
glaubt, weil diesen der Mißerfolg seiner Zauberkünste im Lichte der kritischen
Beobachtung zuschanden macht. Wird der Seher ein Wundertäter, so be¬
deutet das nicht ein Zurücksinken auf die Stufe des Zauberers, weil das
Wunder eiuer Einwirkung der Gottheit zugeschrieben wird. „Vor allem
aber ist die Vision vermöge jener Entrückung in die Ferne, die ihr als die
primäre Eigenschaft zukommt, eine Hauptquelle der Vorstellungen von: Leben
nach dem Tode und vom Totenreich, das als die Stätte dieses Lebens ge¬
dacht wird."

Zu den Seelen der Verstorbnen gesellen sich dann als Bewohner des
Geisterreichs noch andre Wesen, deren Erzeugungsstätte, wie die des Schatten¬
reichs, ebenfalls der Traum ist, und zwar der Angsttraum. Der aus
Hemmungen der Atmung und Beschleunigungen oder Hemmungen des Herz¬
schlags entstehende Angsttraum ist entweder ein Fratzentraum oder ein Alp¬
traum. In beiden Fällen scheint dem Träumender ein gespenstisches Wesen,
das im Alptraum riesige Dimensionen oder die Gestalt einer erdrückenden Last
annimmt, feindlich entgegenzutreten. Der aufgeklärte moderne Mensch inasoulini,
seit einiger Zeit wohl auch ksinivini Mnsris, erleidet die Angst sehr häufig
in der Form einer Schulprüfung oder einer Schulstunde mit dem Bewußtsein,
nicht präpariert zu sein. Dem Unaufgeklärten erwächst aus solchen Träumen
das Geschlecht der Elben, Kobolde, Erdmännlein, Vampire, Werwölfe und
das ganze Dümonenrcich. Zu ihrer Entstehung wirken die Krankheiten mit,
besonders plötzliche Krankheitsanfülle mit auffälligen Symptomen: Delirien,
Zuckungen und dergleichen. Hier ist es nicht der Leidende, der den Dämon
wahrnimmt, sondern seine Umgebung, die des feindlichen Wesens Wirken in
einem objektiven Befund zu schauen glaubt. Beides vereinigt ergibt die ver¬
meintliche Inkubation im Äskulaptempel, aus der die Heilkunde hervorgegangen
ist. Waren es ursprünglich nur zurückkehrende Seelen von Verstorbnen, vor
denen man sich fürchtete, so haben dann die erwähnten Träume und Krank¬
heiten und andre vermeintliche Erfahrungen wie Nebelgestalten nicht bloß über
Gräbern, sondern auch an andern Orten, Angstgefühle, die sich in der Finsternis,
der Wüste, auf See des Einsamen bemächtigen, die Luft, das Wasser und die
Erde mit Wesen bevölkert, die nicht mehr als Seelen Verstorbner, sondern
schlechthin als Geister gedacht werden, und von denen einzelne mit großer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/334>, abgerufen am 22.07.2024.