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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Wachvisionär ist der echte Prophet, der von dem Geiste, den er in sich wohnen
glaubt, unwiderstehlich hingerissen wird, sodaß er sich in dem wachen Handeln
und Reden seines visionären Zustandes selbst als ein andrer fühlt, als der
er im gewöhnlichen Leben ist. Im letzten Grunde bildet freilich diese Vor¬
stellung des Propheten, von einem fremden, höhern Geiste erfüllt zu sein,
selbst einen Bestandteil der Illusionen die als solche zu den wesentlichen
Elementen des visionären Zustandes gehören. Doch je mehr der Prophet
dabei unter dem Antrieb wirklicher Erlebnisse und der Gemütsbewegungen, die
diese in ihm hervorrufen, handelt, um so mehr treten zugleich seine Visionen
in lebendige Beziehungen zu der ihn umgebenden Wirklichkeit und können so
hinwiederum als treibende Kräfte auf diese einwirken. Darum ist es aller¬
dings irrig, wenn man, wozu gerade infolge der geschichtlichen Bedeutung des
Prophetentums die Neigung besteht, die Wachvision an sich als einen höhern
Seelenzustand, als eine Steigerung der höhern Seelentätigkeiten ansieht. Denn
man kann zwar zugeben, daß die historisch wirksame Gestalt des Propheten
nur möglich ist, wenn gewaltige religiöse und sittliche Triebfedern die Regungen
auslösen, die die Reihe der visionären und ekstatischen Zustände mit sich
führen. Aber der Prophet selbst entsteht doch erst da, wo diese aus den
Eindrücken der Zeit und Umgebung stammenden seelischen Erregungen zugleich
zu sinnlichen Erregungen, also zu Halluzinntionen und Illusionen werden.
Nicht minder unzulänglich wäre es dagegen, wenn man nun umgekehrt das
Wesen der Prophetie bloß in die Halluzination und Sinnestäuschung ver¬
legen wollte. Der echte Prophet kann vielmehr eben nur da auftreten, wo
gewaltige, die Gemüter ergreifende religiöse Bewegungen und nationale Er¬
eignisse in geistig hervorragenden Persönlichkeiten zu jener abnormen Gesaint¬
erregung des seelischen Lebens führen, die dann allerdings als eine Begleit¬
erscheinung zugleich eine Steigerung der Sinnesfunktionen mit sich führt, aus
der die Wachvision hervorgeht." Wie der gemeine Rauschzustand des be¬
gabten Primitiven zum Gewerbe des Medizinmanns wird, so ist in Israel
das Prophetentum zu einem Beruf geworden. Der Prophet von Beruf
konnte nun nicht immer in Ekstase leben, und er hat deshalb den Stoff für
seine Predigten oft seinen Träumen entnehmen müssen. Wundt glaubt deutlich
zu erkennen, daß die Bilder der ältern Propheten, des Hosea und Jeremia
besonders, Wachvisionen gewesen sind, die des nachexilischen Sacharja dagegen
Träumen entstammen. "Diese sind dann offenbar erst nachträglich im wachen
Zustande von dem Propheten nicht ohne einen erheblichen Anteil von Ver¬
standesarbeit in seine Predigt verwebt worden." Nur die Wachvision ist von
der Ekstase begleitet, denn nur sie ist unmittelbares Produkt der seelischen
Erregung: gesteigerte dichterische Produktion, echtes Prophetentum. Wenn
dagegen der Prophet aus seinen von religiöser und nationaler Erregung
beeinflußten Träumen die auswählt, die bei gehöriger Deutung -- die Deutung


Neues von Nlundt

Wachvisionär ist der echte Prophet, der von dem Geiste, den er in sich wohnen
glaubt, unwiderstehlich hingerissen wird, sodaß er sich in dem wachen Handeln
und Reden seines visionären Zustandes selbst als ein andrer fühlt, als der
er im gewöhnlichen Leben ist. Im letzten Grunde bildet freilich diese Vor¬
stellung des Propheten, von einem fremden, höhern Geiste erfüllt zu sein,
selbst einen Bestandteil der Illusionen die als solche zu den wesentlichen
Elementen des visionären Zustandes gehören. Doch je mehr der Prophet
dabei unter dem Antrieb wirklicher Erlebnisse und der Gemütsbewegungen, die
diese in ihm hervorrufen, handelt, um so mehr treten zugleich seine Visionen
in lebendige Beziehungen zu der ihn umgebenden Wirklichkeit und können so
hinwiederum als treibende Kräfte auf diese einwirken. Darum ist es aller¬
dings irrig, wenn man, wozu gerade infolge der geschichtlichen Bedeutung des
Prophetentums die Neigung besteht, die Wachvision an sich als einen höhern
Seelenzustand, als eine Steigerung der höhern Seelentätigkeiten ansieht. Denn
man kann zwar zugeben, daß die historisch wirksame Gestalt des Propheten
nur möglich ist, wenn gewaltige religiöse und sittliche Triebfedern die Regungen
auslösen, die die Reihe der visionären und ekstatischen Zustände mit sich
führen. Aber der Prophet selbst entsteht doch erst da, wo diese aus den
Eindrücken der Zeit und Umgebung stammenden seelischen Erregungen zugleich
zu sinnlichen Erregungen, also zu Halluzinntionen und Illusionen werden.
Nicht minder unzulänglich wäre es dagegen, wenn man nun umgekehrt das
Wesen der Prophetie bloß in die Halluzination und Sinnestäuschung ver¬
legen wollte. Der echte Prophet kann vielmehr eben nur da auftreten, wo
gewaltige, die Gemüter ergreifende religiöse Bewegungen und nationale Er¬
eignisse in geistig hervorragenden Persönlichkeiten zu jener abnormen Gesaint¬
erregung des seelischen Lebens führen, die dann allerdings als eine Begleit¬
erscheinung zugleich eine Steigerung der Sinnesfunktionen mit sich führt, aus
der die Wachvision hervorgeht." Wie der gemeine Rauschzustand des be¬
gabten Primitiven zum Gewerbe des Medizinmanns wird, so ist in Israel
das Prophetentum zu einem Beruf geworden. Der Prophet von Beruf
konnte nun nicht immer in Ekstase leben, und er hat deshalb den Stoff für
seine Predigten oft seinen Träumen entnehmen müssen. Wundt glaubt deutlich
zu erkennen, daß die Bilder der ältern Propheten, des Hosea und Jeremia
besonders, Wachvisionen gewesen sind, die des nachexilischen Sacharja dagegen
Träumen entstammen. „Diese sind dann offenbar erst nachträglich im wachen
Zustande von dem Propheten nicht ohne einen erheblichen Anteil von Ver¬
standesarbeit in seine Predigt verwebt worden." Nur die Wachvision ist von
der Ekstase begleitet, denn nur sie ist unmittelbares Produkt der seelischen
Erregung: gesteigerte dichterische Produktion, echtes Prophetentum. Wenn
dagegen der Prophet aus seinen von religiöser und nationaler Erregung
beeinflußten Träumen die auswählt, die bei gehöriger Deutung — die Deutung


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[0332] Neues von Nlundt Wachvisionär ist der echte Prophet, der von dem Geiste, den er in sich wohnen glaubt, unwiderstehlich hingerissen wird, sodaß er sich in dem wachen Handeln und Reden seines visionären Zustandes selbst als ein andrer fühlt, als der er im gewöhnlichen Leben ist. Im letzten Grunde bildet freilich diese Vor¬ stellung des Propheten, von einem fremden, höhern Geiste erfüllt zu sein, selbst einen Bestandteil der Illusionen die als solche zu den wesentlichen Elementen des visionären Zustandes gehören. Doch je mehr der Prophet dabei unter dem Antrieb wirklicher Erlebnisse und der Gemütsbewegungen, die diese in ihm hervorrufen, handelt, um so mehr treten zugleich seine Visionen in lebendige Beziehungen zu der ihn umgebenden Wirklichkeit und können so hinwiederum als treibende Kräfte auf diese einwirken. Darum ist es aller¬ dings irrig, wenn man, wozu gerade infolge der geschichtlichen Bedeutung des Prophetentums die Neigung besteht, die Wachvision an sich als einen höhern Seelenzustand, als eine Steigerung der höhern Seelentätigkeiten ansieht. Denn man kann zwar zugeben, daß die historisch wirksame Gestalt des Propheten nur möglich ist, wenn gewaltige religiöse und sittliche Triebfedern die Regungen auslösen, die die Reihe der visionären und ekstatischen Zustände mit sich führen. Aber der Prophet selbst entsteht doch erst da, wo diese aus den Eindrücken der Zeit und Umgebung stammenden seelischen Erregungen zugleich zu sinnlichen Erregungen, also zu Halluzinntionen und Illusionen werden. Nicht minder unzulänglich wäre es dagegen, wenn man nun umgekehrt das Wesen der Prophetie bloß in die Halluzination und Sinnestäuschung ver¬ legen wollte. Der echte Prophet kann vielmehr eben nur da auftreten, wo gewaltige, die Gemüter ergreifende religiöse Bewegungen und nationale Er¬ eignisse in geistig hervorragenden Persönlichkeiten zu jener abnormen Gesaint¬ erregung des seelischen Lebens führen, die dann allerdings als eine Begleit¬ erscheinung zugleich eine Steigerung der Sinnesfunktionen mit sich führt, aus der die Wachvision hervorgeht." Wie der gemeine Rauschzustand des be¬ gabten Primitiven zum Gewerbe des Medizinmanns wird, so ist in Israel das Prophetentum zu einem Beruf geworden. Der Prophet von Beruf konnte nun nicht immer in Ekstase leben, und er hat deshalb den Stoff für seine Predigten oft seinen Träumen entnehmen müssen. Wundt glaubt deutlich zu erkennen, daß die Bilder der ältern Propheten, des Hosea und Jeremia besonders, Wachvisionen gewesen sind, die des nachexilischen Sacharja dagegen Träumen entstammen. „Diese sind dann offenbar erst nachträglich im wachen Zustande von dem Propheten nicht ohne einen erheblichen Anteil von Ver¬ standesarbeit in seine Predigt verwebt worden." Nur die Wachvision ist von der Ekstase begleitet, denn nur sie ist unmittelbares Produkt der seelischen Erregung: gesteigerte dichterische Produktion, echtes Prophetentum. Wenn dagegen der Prophet aus seinen von religiöser und nationaler Erregung beeinflußten Träumen die auswählt, die bei gehöriger Deutung — die Deutung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/332>, abgerufen am 22.07.2024.