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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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doch die apperzeptiven Prozesse noch zureichend erhalten, sodaß sich in diesen oft
stürmisch bewegten Assozintionen das Bewußtsein der eignen Persönlichkeit behaupten
kann. Diese Persönlichkeit selbst kann sich jedoch dabei zugleich, wie im Traume, als
eine veränderte fühlen, die, um so mehr, je höher die ungewöhnliche Erregung
gesteigert ist, zugleich als ein fremdes geistiges Wesen empfunden wird, während
trotzdem, abweichend von dem gewöhnlichen Traume, vermöge der energischen Aus¬
übung der apperzeptiven Funktionen, das Bewußtsein des eignen Ich und seine
Orientierung zur Umgebung erhalten bleibt. So kommt es zu der für viele Visionen
charakteristischen Vorstellung, daß sich ein fremder Geist des eignen Geistes bemächtigt
habe. Nun spricht und handelt der Visionär, sobald er sich von der über ihn ge¬
kommenen Erleuchtung hingerissen fühlt, so, als wenn er der Geist oder der Gott
selbst wäre, der von seiner Seele Besitz ergriffen hat, ohne daß dadurch doch sein
eignes Selbstbewußtsein getrübt zu sein braucht. Anders verhalt sich der Visionär,
dem nur die Halluzinationen des Traumes zur Verfügung stehn. Indem ihm die
Gebilde seiner Visionen in dem wachen Zustande, in dem er doch allein über sie
Rechenschaft geben kann, bereits als fremde gegenübertreten, schildert er sie nicht
als unmittelbare, sondern als früher erlebte Begebenheiten, als Worte, die ein
außerhalb stehender Geist oder Gott an ihn gerichtet, als Befehle, die er ihm
erteilt habe."

Die Vision wird zur Ekstase, zum "Entrücktsein", wenn die "Entrückung"
in die Ferne, das Hcrausgehobenscin aus der wirklichen Umgebung, besonders
stark hervortritt, und wenn sich die Steigerung des Seelenlebens dem Gefühl
mitteilt, Affekte erweckt. Die Veränderung des Gefühlslebens kann zwei ver-
schiedne Formen annehmen: sie kann als exaltierte und als apathische Ekstase
erscheinen, und beide Zustände können wechseln, wie das im Rausch und in
maniakalischen Krankheiten oft der Fall ist. Der Traum nimmt den Charakter
der Vision an, wenn die Interessen des wachen Lebens auf ihn einwirken
und ihn zugleich lebhafter und znsmumhängeuder gestalten, was u. a. zur
Folge hat, daß sich der Träumer nach dem Erwachen seiner deutlich erinnert,
während gewöhnliche Träume meist vergessen werden. Namentlich religiöse und
nationale Interessen sind es, die so lebhaft erregen, daß Traum- und Wach¬
visionen zustandekommen, woraus sich von selbst ergibt, daß die eigentliche
Vision nur auf höhern Kulturstufe" eintreten kann, weil primitive Menschen
solche Interessen noch nicht kennen, sodaß die Gesichte ihrer Rauschzustände
nur Halluzinationen genannt werden dürfen. "Namentlich bietet hier das
israelitische Prophetentnm ausgeprägte Beispiele, und es bietet sie vor allein
an deswillen in völkerpsycholvgisch besonders charakteristischen Formen, weil
wir hier fast Schritt für Schritt den Übergang der einen Form in die andre
!Traum- und Wachvisivnj verfolgen können, während dabei die allgemeinen
Veränderungen der nationalen und religiösen Anschauungen und ihre Rück¬
wirkungen auf die einzelnen, die an diesem Wandel beteiligt sind, in den
geschichtlichen Erlebnissen deutlich vor Augen liegen." Die Wachvision,
meint Wundt, sei "natürlich" die ursprünglichere; mancher wird das nicht so
natürlich finden. "Ihre regelmäßige Begleiterin ist die Ekstase. Nur der


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doch die apperzeptiven Prozesse noch zureichend erhalten, sodaß sich in diesen oft
stürmisch bewegten Assozintionen das Bewußtsein der eignen Persönlichkeit behaupten
kann. Diese Persönlichkeit selbst kann sich jedoch dabei zugleich, wie im Traume, als
eine veränderte fühlen, die, um so mehr, je höher die ungewöhnliche Erregung
gesteigert ist, zugleich als ein fremdes geistiges Wesen empfunden wird, während
trotzdem, abweichend von dem gewöhnlichen Traume, vermöge der energischen Aus¬
übung der apperzeptiven Funktionen, das Bewußtsein des eignen Ich und seine
Orientierung zur Umgebung erhalten bleibt. So kommt es zu der für viele Visionen
charakteristischen Vorstellung, daß sich ein fremder Geist des eignen Geistes bemächtigt
habe. Nun spricht und handelt der Visionär, sobald er sich von der über ihn ge¬
kommenen Erleuchtung hingerissen fühlt, so, als wenn er der Geist oder der Gott
selbst wäre, der von seiner Seele Besitz ergriffen hat, ohne daß dadurch doch sein
eignes Selbstbewußtsein getrübt zu sein braucht. Anders verhalt sich der Visionär,
dem nur die Halluzinationen des Traumes zur Verfügung stehn. Indem ihm die
Gebilde seiner Visionen in dem wachen Zustande, in dem er doch allein über sie
Rechenschaft geben kann, bereits als fremde gegenübertreten, schildert er sie nicht
als unmittelbare, sondern als früher erlebte Begebenheiten, als Worte, die ein
außerhalb stehender Geist oder Gott an ihn gerichtet, als Befehle, die er ihm
erteilt habe."

Die Vision wird zur Ekstase, zum „Entrücktsein", wenn die „Entrückung"
in die Ferne, das Hcrausgehobenscin aus der wirklichen Umgebung, besonders
stark hervortritt, und wenn sich die Steigerung des Seelenlebens dem Gefühl
mitteilt, Affekte erweckt. Die Veränderung des Gefühlslebens kann zwei ver-
schiedne Formen annehmen: sie kann als exaltierte und als apathische Ekstase
erscheinen, und beide Zustände können wechseln, wie das im Rausch und in
maniakalischen Krankheiten oft der Fall ist. Der Traum nimmt den Charakter
der Vision an, wenn die Interessen des wachen Lebens auf ihn einwirken
und ihn zugleich lebhafter und znsmumhängeuder gestalten, was u. a. zur
Folge hat, daß sich der Träumer nach dem Erwachen seiner deutlich erinnert,
während gewöhnliche Träume meist vergessen werden. Namentlich religiöse und
nationale Interessen sind es, die so lebhaft erregen, daß Traum- und Wach¬
visionen zustandekommen, woraus sich von selbst ergibt, daß die eigentliche
Vision nur auf höhern Kulturstufe» eintreten kann, weil primitive Menschen
solche Interessen noch nicht kennen, sodaß die Gesichte ihrer Rauschzustände
nur Halluzinationen genannt werden dürfen. „Namentlich bietet hier das
israelitische Prophetentnm ausgeprägte Beispiele, und es bietet sie vor allein
an deswillen in völkerpsycholvgisch besonders charakteristischen Formen, weil
wir hier fast Schritt für Schritt den Übergang der einen Form in die andre
!Traum- und Wachvisivnj verfolgen können, während dabei die allgemeinen
Veränderungen der nationalen und religiösen Anschauungen und ihre Rück¬
wirkungen auf die einzelnen, die an diesem Wandel beteiligt sind, in den
geschichtlichen Erlebnissen deutlich vor Augen liegen." Die Wachvision,
meint Wundt, sei „natürlich" die ursprünglichere; mancher wird das nicht so
natürlich finden. „Ihre regelmäßige Begleiterin ist die Ekstase. Nur der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/331>, abgerufen am 02.10.2024.