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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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glaube, daß man beim Verscheiden des Kranken das Fenster öffne, damit die
Seele hinaus könne. Mit diesem vermeintlichen Entweichen verbinden sich um
verschiedne, ja entgegengesetzte Gedankenreihen und dieser entsprechende Bräuche.
Einmal fürchtet man das Wiederkommen der Seele als Gespenst, als Rächerin
oder sonstiger Unheilstifterin. sucht ihr darum die Entfernung zu erleichtern
oder sie durch Begraben und Fesselung des Leichnams, auch durch Verschließe"
des Mundes und der andern Öffnungen einzusperren. (Das Schließen der
Augenist davon als Pietätsgefühl übrig geblieben: wir Heutigen wollen damit
den Verstorbnen als Schlafenden erscheinen lassen.) Andrerseits aber stellt man
sich vor, daß mit der entweichenden Seele auch die Kräfte des Sterbenden
entweichen, und daß der Lebende diese Kräfte auffangen und sich aneignen
könne. Damm wird ein Kind über den Mund des Sterbenden gehalten, oder
ein Verwandter beugt sich über ihn. (In neuen Seelenwanderungstheorien liest
man, daß die Seele des Sterbenden in einen Embryo fahre, der in demselben
Augenblick gezeugt wird, wie denn heutigentags alle Sorten alten Aberglaubens
in einer aus modernster Wissenschaft zubereiteten Sauce wieder aufgekocht
werden.) Aber nicht bloß in Menschen, auch in Tiere liebt die abscheidende
Seele zu fahren; sie verläßt manchmal den Leib erst in Gestalt des ersten der
Würmer, die bei der Verwesung entstehn, oder wählt die wurmförmige Schlange
oder eine Maus, eine Ratte als neue Verkörperung. Bessern Geschmack äußert
sie, wenn sie in Gestalt eines Vogels, der ja auch ihrem Wesen, der Flüchtig¬
keit, entspricht, den Sterbenden verläßt, und ans den Vogelhecken entwickeln sich
mit der Zeit allerlei Flügclwesen, uuter andern die christlichen Engel. "Für
den ursprünglichen Seelenmythus ist der Übergang der in einem Tier verkörperten
Seele auf das Kind eine assoziative Übertragung der Vorstellungen vom Tode
auf die Geburt, die überall stattfinden kann. Die spätere religiöse Legende
behält dagegen diese Übertragung nur noch bei, wo sie einen Heros oder Gott
über die Bedingungen des alltäglichen Geborenwerdens erheben will, und dies
geschieht wahrscheinlich unter der Mitwirkung jener Anschauung, die bei Geburt
wie Tod mit dem Begriff der körperlichen den der religiösen Befleckung ver¬
bindet. Der Gott soll rein geboren werden. So erhebt denn die Legende entweder
die Geburt selbst oder auf einer spätern Stufe den Akt der Empfängnis über
die Sphäre des natürlichen Geschehens, indem sie hierzu das uralte Motiv der
Seelenverkörperung in einem heiligen Tier oder in einem aus diesem hervvr-
gegangnen Doppelwesen verwendet.... So haben sich aus deu ursprünglichen
Tierverwandlnngen der Seele im hebräische" Mythus die Engel als Boten
Gottes entwickelt, und so hat wiederum diese Vorstellung die Grundlage der
Idee der Göttlichkeit Christi gebildet. Dieser Zusammenhang ist ebensowenig
ein wunderbarer wie ein willkürlicher oder künstlich erdachter, oder es sind doch
höchstens die letzten Ausgestaltungen der Legende im eigentlichen Sinne zu
dichterischen oder philosophischen Erfindungen geworden."


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glaube, daß man beim Verscheiden des Kranken das Fenster öffne, damit die
Seele hinaus könne. Mit diesem vermeintlichen Entweichen verbinden sich um
verschiedne, ja entgegengesetzte Gedankenreihen und dieser entsprechende Bräuche.
Einmal fürchtet man das Wiederkommen der Seele als Gespenst, als Rächerin
oder sonstiger Unheilstifterin. sucht ihr darum die Entfernung zu erleichtern
oder sie durch Begraben und Fesselung des Leichnams, auch durch Verschließe»
des Mundes und der andern Öffnungen einzusperren. (Das Schließen der
Augenist davon als Pietätsgefühl übrig geblieben: wir Heutigen wollen damit
den Verstorbnen als Schlafenden erscheinen lassen.) Andrerseits aber stellt man
sich vor, daß mit der entweichenden Seele auch die Kräfte des Sterbenden
entweichen, und daß der Lebende diese Kräfte auffangen und sich aneignen
könne. Damm wird ein Kind über den Mund des Sterbenden gehalten, oder
ein Verwandter beugt sich über ihn. (In neuen Seelenwanderungstheorien liest
man, daß die Seele des Sterbenden in einen Embryo fahre, der in demselben
Augenblick gezeugt wird, wie denn heutigentags alle Sorten alten Aberglaubens
in einer aus modernster Wissenschaft zubereiteten Sauce wieder aufgekocht
werden.) Aber nicht bloß in Menschen, auch in Tiere liebt die abscheidende
Seele zu fahren; sie verläßt manchmal den Leib erst in Gestalt des ersten der
Würmer, die bei der Verwesung entstehn, oder wählt die wurmförmige Schlange
oder eine Maus, eine Ratte als neue Verkörperung. Bessern Geschmack äußert
sie, wenn sie in Gestalt eines Vogels, der ja auch ihrem Wesen, der Flüchtig¬
keit, entspricht, den Sterbenden verläßt, und ans den Vogelhecken entwickeln sich
mit der Zeit allerlei Flügclwesen, uuter andern die christlichen Engel. „Für
den ursprünglichen Seelenmythus ist der Übergang der in einem Tier verkörperten
Seele auf das Kind eine assoziative Übertragung der Vorstellungen vom Tode
auf die Geburt, die überall stattfinden kann. Die spätere religiöse Legende
behält dagegen diese Übertragung nur noch bei, wo sie einen Heros oder Gott
über die Bedingungen des alltäglichen Geborenwerdens erheben will, und dies
geschieht wahrscheinlich unter der Mitwirkung jener Anschauung, die bei Geburt
wie Tod mit dem Begriff der körperlichen den der religiösen Befleckung ver¬
bindet. Der Gott soll rein geboren werden. So erhebt denn die Legende entweder
die Geburt selbst oder auf einer spätern Stufe den Akt der Empfängnis über
die Sphäre des natürlichen Geschehens, indem sie hierzu das uralte Motiv der
Seelenverkörperung in einem heiligen Tier oder in einem aus diesem hervvr-
gegangnen Doppelwesen verwendet.... So haben sich aus deu ursprünglichen
Tierverwandlnngen der Seele im hebräische» Mythus die Engel als Boten
Gottes entwickelt, und so hat wiederum diese Vorstellung die Grundlage der
Idee der Göttlichkeit Christi gebildet. Dieser Zusammenhang ist ebensowenig
ein wunderbarer wie ein willkürlicher oder künstlich erdachter, oder es sind doch
höchstens die letzten Ausgestaltungen der Legende im eigentlichen Sinne zu
dichterischen oder philosophischen Erfindungen geworden."


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[0329] Neues von Ulundt glaube, daß man beim Verscheiden des Kranken das Fenster öffne, damit die Seele hinaus könne. Mit diesem vermeintlichen Entweichen verbinden sich um verschiedne, ja entgegengesetzte Gedankenreihen und dieser entsprechende Bräuche. Einmal fürchtet man das Wiederkommen der Seele als Gespenst, als Rächerin oder sonstiger Unheilstifterin. sucht ihr darum die Entfernung zu erleichtern oder sie durch Begraben und Fesselung des Leichnams, auch durch Verschließe» des Mundes und der andern Öffnungen einzusperren. (Das Schließen der Augenist davon als Pietätsgefühl übrig geblieben: wir Heutigen wollen damit den Verstorbnen als Schlafenden erscheinen lassen.) Andrerseits aber stellt man sich vor, daß mit der entweichenden Seele auch die Kräfte des Sterbenden entweichen, und daß der Lebende diese Kräfte auffangen und sich aneignen könne. Damm wird ein Kind über den Mund des Sterbenden gehalten, oder ein Verwandter beugt sich über ihn. (In neuen Seelenwanderungstheorien liest man, daß die Seele des Sterbenden in einen Embryo fahre, der in demselben Augenblick gezeugt wird, wie denn heutigentags alle Sorten alten Aberglaubens in einer aus modernster Wissenschaft zubereiteten Sauce wieder aufgekocht werden.) Aber nicht bloß in Menschen, auch in Tiere liebt die abscheidende Seele zu fahren; sie verläßt manchmal den Leib erst in Gestalt des ersten der Würmer, die bei der Verwesung entstehn, oder wählt die wurmförmige Schlange oder eine Maus, eine Ratte als neue Verkörperung. Bessern Geschmack äußert sie, wenn sie in Gestalt eines Vogels, der ja auch ihrem Wesen, der Flüchtig¬ keit, entspricht, den Sterbenden verläßt, und ans den Vogelhecken entwickeln sich mit der Zeit allerlei Flügclwesen, uuter andern die christlichen Engel. „Für den ursprünglichen Seelenmythus ist der Übergang der in einem Tier verkörperten Seele auf das Kind eine assoziative Übertragung der Vorstellungen vom Tode auf die Geburt, die überall stattfinden kann. Die spätere religiöse Legende behält dagegen diese Übertragung nur noch bei, wo sie einen Heros oder Gott über die Bedingungen des alltäglichen Geborenwerdens erheben will, und dies geschieht wahrscheinlich unter der Mitwirkung jener Anschauung, die bei Geburt wie Tod mit dem Begriff der körperlichen den der religiösen Befleckung ver¬ bindet. Der Gott soll rein geboren werden. So erhebt denn die Legende entweder die Geburt selbst oder auf einer spätern Stufe den Akt der Empfängnis über die Sphäre des natürlichen Geschehens, indem sie hierzu das uralte Motiv der Seelenverkörperung in einem heiligen Tier oder in einem aus diesem hervvr- gegangnen Doppelwesen verwendet.... So haben sich aus deu ursprünglichen Tierverwandlnngen der Seele im hebräische» Mythus die Engel als Boten Gottes entwickelt, und so hat wiederum diese Vorstellung die Grundlage der Idee der Göttlichkeit Christi gebildet. Dieser Zusammenhang ist ebensowenig ein wunderbarer wie ein willkürlicher oder künstlich erdachter, oder es sind doch höchstens die letzten Ausgestaltungen der Legende im eigentlichen Sinne zu dichterischen oder philosophischen Erfindungen geworden."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/329>, abgerufen am 24.08.2024.