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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Thackerciy

Pessimistischen Wertherismus, der die Übergangsperioden im Leben des Ein¬
zelnen wie ganzer Nationen kennzeichnet. Genial künstlerisch oder frivol an¬
gehauchte Lektüre, anekdotenhafte literarische Kleinigkeiten waren der aka¬
demischen ^snnössö cior6e, der jungen Anhänger des alten Regimes, geistige
Lieblingsnahrung. In Cambridge selbst wurde unter dem Titel "Der Snob"
eine Studentenzeitung herausgegeben, die mit einem starken satirischen Bei¬
geschmack die Zustände der höhern Gesellschaft Revue passieren ließ, und
an dieser Leistung soll sich Thackerays literarische Frühreife zuerst betätigt
haben.

Ohne einen der begehrenswerter akademischen Preise erreicht zu haben,
mit einem Schatz von klassischer Gelehrsamkeit, aber ohne bestimmte Aussichten
eines sichern Lebensberufs verläßt Thackeray, noch nicht zwanzig Jahre alt,
die Universität. Ein behagliches Auskommen setzt ihn in die Lage, als freier
Gentleman die unvermeidliche Reise eines gebildeten Engländers nach dem
Kontinent anzutreten, um seine Welt- und Lebenserfahrung über den be¬
schränkten Horizont des Insulaners hinaus auszudehnen. So finden wir ihn
im Kreise der Bohcmiens, mit unbestimmten Gedanken an eine Künstlerlauf¬
bahn in Paris und bald danach um Hofe Karl Augusts i" Weimar. Der
bedeutende Eindruck, den das kunstsinnige Leben in diesem Mittelpunkte deutschen
Geisteslebens auf ihn gemacht hat, ist trotz der humoristischen Gewandung, in
der er in einem Briefe an den englischen Goethebiographen Lewis von Weimar
und Goethe erzählt, deutlich zu erkennen. In Goethe, mit dem er nur einige-
male persönlich verkehrte, trat er in keinerlei nähere Beziehung, aber um so
mehr fühlte er sich ihm trotz der verschiednen Bildungsstufen beider -- auch
der achtzigjährige Goethe ist noch ein Bildungsfähiger -- geistig verwandt.
Die Vorliebe Goethes für den englischen Charakter, seine Bewunderung
Shakespeares, seine praktische Lebensführung und induktive erfahrungsmäßige
Denkweise waren ebenso viele Züge, die den steifen Altmeister von Weimar
der englischen Denkweise näher brachten, und wodurch der Austausch und die
gegenseitige Anregung zweier Bildungen möglich wurde, die -- eine der her¬
vorragendsten Erscheinungen in der Geschichte der beiden stammverwandten
Nationen -- in dem Verhältnis Goethes zu den Engländern zum Ausdruck
gelangt. So geschah es, daß der Schotte Carlyle, der erste und vornehmste
Goethekenner in England, mit einer bis jetzt noch immer unübertroffner Meister¬
schaft das Monumentalbild des deutschen Geisteshervs mit scharfgezeichneten
Zügen ausstattete und voll Lebensfülle seinen Landsleuten vorführte, und
daß Byron in seinem Manfred die Faustgedanken in sich wirken und garen
ließ, daß aber andrerseits Goethe in mannigfacher Weise die Erkenntlichkeit
für das bezeugte, was man von dem Stammesnachbar empfangen hatte.

In bezug auf Thackerays Anteil an dieser Bewegung muß gesagt werden,
daß er um diese Zeit seines Weimarer Aufenthalts das Wesen Goethes in
seiner Ganzheit nur unvollkommen begriff und die Verwandtschaft mit ihm


Grenzboten I 1908 38
Thackerciy

Pessimistischen Wertherismus, der die Übergangsperioden im Leben des Ein¬
zelnen wie ganzer Nationen kennzeichnet. Genial künstlerisch oder frivol an¬
gehauchte Lektüre, anekdotenhafte literarische Kleinigkeiten waren der aka¬
demischen ^snnössö cior6e, der jungen Anhänger des alten Regimes, geistige
Lieblingsnahrung. In Cambridge selbst wurde unter dem Titel „Der Snob"
eine Studentenzeitung herausgegeben, die mit einem starken satirischen Bei¬
geschmack die Zustände der höhern Gesellschaft Revue passieren ließ, und
an dieser Leistung soll sich Thackerays literarische Frühreife zuerst betätigt
haben.

Ohne einen der begehrenswerter akademischen Preise erreicht zu haben,
mit einem Schatz von klassischer Gelehrsamkeit, aber ohne bestimmte Aussichten
eines sichern Lebensberufs verläßt Thackeray, noch nicht zwanzig Jahre alt,
die Universität. Ein behagliches Auskommen setzt ihn in die Lage, als freier
Gentleman die unvermeidliche Reise eines gebildeten Engländers nach dem
Kontinent anzutreten, um seine Welt- und Lebenserfahrung über den be¬
schränkten Horizont des Insulaners hinaus auszudehnen. So finden wir ihn
im Kreise der Bohcmiens, mit unbestimmten Gedanken an eine Künstlerlauf¬
bahn in Paris und bald danach um Hofe Karl Augusts i» Weimar. Der
bedeutende Eindruck, den das kunstsinnige Leben in diesem Mittelpunkte deutschen
Geisteslebens auf ihn gemacht hat, ist trotz der humoristischen Gewandung, in
der er in einem Briefe an den englischen Goethebiographen Lewis von Weimar
und Goethe erzählt, deutlich zu erkennen. In Goethe, mit dem er nur einige-
male persönlich verkehrte, trat er in keinerlei nähere Beziehung, aber um so
mehr fühlte er sich ihm trotz der verschiednen Bildungsstufen beider — auch
der achtzigjährige Goethe ist noch ein Bildungsfähiger — geistig verwandt.
Die Vorliebe Goethes für den englischen Charakter, seine Bewunderung
Shakespeares, seine praktische Lebensführung und induktive erfahrungsmäßige
Denkweise waren ebenso viele Züge, die den steifen Altmeister von Weimar
der englischen Denkweise näher brachten, und wodurch der Austausch und die
gegenseitige Anregung zweier Bildungen möglich wurde, die — eine der her¬
vorragendsten Erscheinungen in der Geschichte der beiden stammverwandten
Nationen — in dem Verhältnis Goethes zu den Engländern zum Ausdruck
gelangt. So geschah es, daß der Schotte Carlyle, der erste und vornehmste
Goethekenner in England, mit einer bis jetzt noch immer unübertroffner Meister¬
schaft das Monumentalbild des deutschen Geisteshervs mit scharfgezeichneten
Zügen ausstattete und voll Lebensfülle seinen Landsleuten vorführte, und
daß Byron in seinem Manfred die Faustgedanken in sich wirken und garen
ließ, daß aber andrerseits Goethe in mannigfacher Weise die Erkenntlichkeit
für das bezeugte, was man von dem Stammesnachbar empfangen hatte.

In bezug auf Thackerays Anteil an dieser Bewegung muß gesagt werden,
daß er um diese Zeit seines Weimarer Aufenthalts das Wesen Goethes in
seiner Ganzheit nur unvollkommen begriff und die Verwandtschaft mit ihm


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[0293] Thackerciy Pessimistischen Wertherismus, der die Übergangsperioden im Leben des Ein¬ zelnen wie ganzer Nationen kennzeichnet. Genial künstlerisch oder frivol an¬ gehauchte Lektüre, anekdotenhafte literarische Kleinigkeiten waren der aka¬ demischen ^snnössö cior6e, der jungen Anhänger des alten Regimes, geistige Lieblingsnahrung. In Cambridge selbst wurde unter dem Titel „Der Snob" eine Studentenzeitung herausgegeben, die mit einem starken satirischen Bei¬ geschmack die Zustände der höhern Gesellschaft Revue passieren ließ, und an dieser Leistung soll sich Thackerays literarische Frühreife zuerst betätigt haben. Ohne einen der begehrenswerter akademischen Preise erreicht zu haben, mit einem Schatz von klassischer Gelehrsamkeit, aber ohne bestimmte Aussichten eines sichern Lebensberufs verläßt Thackeray, noch nicht zwanzig Jahre alt, die Universität. Ein behagliches Auskommen setzt ihn in die Lage, als freier Gentleman die unvermeidliche Reise eines gebildeten Engländers nach dem Kontinent anzutreten, um seine Welt- und Lebenserfahrung über den be¬ schränkten Horizont des Insulaners hinaus auszudehnen. So finden wir ihn im Kreise der Bohcmiens, mit unbestimmten Gedanken an eine Künstlerlauf¬ bahn in Paris und bald danach um Hofe Karl Augusts i» Weimar. Der bedeutende Eindruck, den das kunstsinnige Leben in diesem Mittelpunkte deutschen Geisteslebens auf ihn gemacht hat, ist trotz der humoristischen Gewandung, in der er in einem Briefe an den englischen Goethebiographen Lewis von Weimar und Goethe erzählt, deutlich zu erkennen. In Goethe, mit dem er nur einige- male persönlich verkehrte, trat er in keinerlei nähere Beziehung, aber um so mehr fühlte er sich ihm trotz der verschiednen Bildungsstufen beider — auch der achtzigjährige Goethe ist noch ein Bildungsfähiger — geistig verwandt. Die Vorliebe Goethes für den englischen Charakter, seine Bewunderung Shakespeares, seine praktische Lebensführung und induktive erfahrungsmäßige Denkweise waren ebenso viele Züge, die den steifen Altmeister von Weimar der englischen Denkweise näher brachten, und wodurch der Austausch und die gegenseitige Anregung zweier Bildungen möglich wurde, die — eine der her¬ vorragendsten Erscheinungen in der Geschichte der beiden stammverwandten Nationen — in dem Verhältnis Goethes zu den Engländern zum Ausdruck gelangt. So geschah es, daß der Schotte Carlyle, der erste und vornehmste Goethekenner in England, mit einer bis jetzt noch immer unübertroffner Meister¬ schaft das Monumentalbild des deutschen Geisteshervs mit scharfgezeichneten Zügen ausstattete und voll Lebensfülle seinen Landsleuten vorführte, und daß Byron in seinem Manfred die Faustgedanken in sich wirken und garen ließ, daß aber andrerseits Goethe in mannigfacher Weise die Erkenntlichkeit für das bezeugte, was man von dem Stammesnachbar empfangen hatte. In bezug auf Thackerays Anteil an dieser Bewegung muß gesagt werden, daß er um diese Zeit seines Weimarer Aufenthalts das Wesen Goethes in seiner Ganzheit nur unvollkommen begriff und die Verwandtschaft mit ihm Grenzboten I 1908 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/293>, abgerufen am 01.07.2024.