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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Internationale Wirtschaftspolitik

zufloß, bezahlt wurden, so ist die Bezeichnung nicht unpassend. Die Namen
der folgenden Stufen bedürfen keiner Rechtfertigung oder Erklärung: Merkan¬
tilismus (sechzehntes, siebzehntes und die größere erste Hülste des achtzehnten
Jahrhunders; Kobatsch schreibt merkwürdigerweise: 15./16. Jahrhundert; eher
könnte man auch die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und noch
ein Stück vom neunzehnten dazu rechnen); Liberalismus als Reaktion dagegen
(seine ersten Theoretiker schreiben freilich in der Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts, aber seine Praxis beginnt erst viel später -- in England 1846 --,
und niemals ist er in allen Kulturstaaten zur unumschränkten Herrschaft ge¬
langt); Nationalismus oder nationaler Protektionismus als Reaktion gegen
den Freihandel (beginnend um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, schreibt
der Verfasser; eigentlich doch erst 1878); Kontinentalismus und (englischer)
Imperialismus als Erweiterung des Nationalismus, und endlich als Endziel
der Entwicklung, das zum Teil schon verwirklicht ist, der Internationalismus,
der sich zugleich als Reaktion gegen die vorhergehenden und zurzeit noch
herrschenden Systeme regt.

Sehr richtig bemerkt der Verfasser in Beziehung auf die Entwicklung der
Nationalwirtschaften (was dann mutatis inuwnäis auch für die Weltwirtschaft
gilt): "Wenn auch ein Staat, eine Nationalwirtschaft auf die höhere Stufe
emporrückt, so wird der Charakter der frühern Stufe nicht sofort, und völlig
vielleicht erst sehr spät, abgestreift; der Guß der neuen Form gelingt nicht
fehlerlos, es bleiben Gräte, die erst nachher abgefeilt werden müssen. Im
Industriestaat zum Beispiel werden noch lange agrarstaatliche Allüren bei¬
behalten; daraus erklären sich die innerpolitischen Gegensätze in Beziehung auf
den Außenhandel, und daher kommt es auch, daß, nachdem Industrie und
Handel schon lange die Führung im Wirtschaftsleben übernommen haben, die
Wirtschaftspolitik und oft auch die allgemeine Politik noch agrarischen
Einschlag zeigt." Abgesehn von dem unpassenden "Guß" jedoch, einem Bilde,
das aus der wirklich allein berechtigten biologischen Betrachtungsweise heraus¬
fällt, ist hierzu zweierlei zu bemerken. Der reine Industrie- und Handelsstaat
ist zwar in England als vorläufig letzte Stufe erreicht, aber diese letzte Stufe
als eine höhere oder höchste Stufe anzusehn, können wir uns aus bekannten
Gründen nicht entschließen. Die Engländer selbst sehn sie nicht dafür an und
mühen sich mit vergeblichen Experimenten ab, den untergegangnen Bauernstand
wiederherzustellen. Unser Ideal ist der Listsche Agrikultur-Jndustrie-Handels-
staat, und wir sprechen nicht von agmrstaatlichen Allüren in einem Staate, der
sich einer blühenden Industrie erfreut, sondern von dem berechtigten Interesse
der Landwirtschaft in ihm, das freilich häufige Konflikte zwischen ihr und der
Industrie erzeugen muß, sodaß diese Konflikte eine ebenso dauernde und un¬
vermeidliche Lebenserscheinung im vollkommnen Kulturstaate bleiben müssen wie
der Schnupfen im leiblichen Organismus der Menschen, die in der Zone der
veränderlichen Niederschlüge wohnen. Und zum andern: wenn der reine In¬
dustriestaat wirklich das Ende der Entwicklung aller Staaten wäre, so würden


Internationale Wirtschaftspolitik

zufloß, bezahlt wurden, so ist die Bezeichnung nicht unpassend. Die Namen
der folgenden Stufen bedürfen keiner Rechtfertigung oder Erklärung: Merkan¬
tilismus (sechzehntes, siebzehntes und die größere erste Hülste des achtzehnten
Jahrhunders; Kobatsch schreibt merkwürdigerweise: 15./16. Jahrhundert; eher
könnte man auch die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und noch
ein Stück vom neunzehnten dazu rechnen); Liberalismus als Reaktion dagegen
(seine ersten Theoretiker schreiben freilich in der Mitte des achtzehnten Jahr¬
hunderts, aber seine Praxis beginnt erst viel später — in England 1846 —,
und niemals ist er in allen Kulturstaaten zur unumschränkten Herrschaft ge¬
langt); Nationalismus oder nationaler Protektionismus als Reaktion gegen
den Freihandel (beginnend um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, schreibt
der Verfasser; eigentlich doch erst 1878); Kontinentalismus und (englischer)
Imperialismus als Erweiterung des Nationalismus, und endlich als Endziel
der Entwicklung, das zum Teil schon verwirklicht ist, der Internationalismus,
der sich zugleich als Reaktion gegen die vorhergehenden und zurzeit noch
herrschenden Systeme regt.

Sehr richtig bemerkt der Verfasser in Beziehung auf die Entwicklung der
Nationalwirtschaften (was dann mutatis inuwnäis auch für die Weltwirtschaft
gilt): „Wenn auch ein Staat, eine Nationalwirtschaft auf die höhere Stufe
emporrückt, so wird der Charakter der frühern Stufe nicht sofort, und völlig
vielleicht erst sehr spät, abgestreift; der Guß der neuen Form gelingt nicht
fehlerlos, es bleiben Gräte, die erst nachher abgefeilt werden müssen. Im
Industriestaat zum Beispiel werden noch lange agrarstaatliche Allüren bei¬
behalten; daraus erklären sich die innerpolitischen Gegensätze in Beziehung auf
den Außenhandel, und daher kommt es auch, daß, nachdem Industrie und
Handel schon lange die Führung im Wirtschaftsleben übernommen haben, die
Wirtschaftspolitik und oft auch die allgemeine Politik noch agrarischen
Einschlag zeigt." Abgesehn von dem unpassenden „Guß" jedoch, einem Bilde,
das aus der wirklich allein berechtigten biologischen Betrachtungsweise heraus¬
fällt, ist hierzu zweierlei zu bemerken. Der reine Industrie- und Handelsstaat
ist zwar in England als vorläufig letzte Stufe erreicht, aber diese letzte Stufe
als eine höhere oder höchste Stufe anzusehn, können wir uns aus bekannten
Gründen nicht entschließen. Die Engländer selbst sehn sie nicht dafür an und
mühen sich mit vergeblichen Experimenten ab, den untergegangnen Bauernstand
wiederherzustellen. Unser Ideal ist der Listsche Agrikultur-Jndustrie-Handels-
staat, und wir sprechen nicht von agmrstaatlichen Allüren in einem Staate, der
sich einer blühenden Industrie erfreut, sondern von dem berechtigten Interesse
der Landwirtschaft in ihm, das freilich häufige Konflikte zwischen ihr und der
Industrie erzeugen muß, sodaß diese Konflikte eine ebenso dauernde und un¬
vermeidliche Lebenserscheinung im vollkommnen Kulturstaate bleiben müssen wie
der Schnupfen im leiblichen Organismus der Menschen, die in der Zone der
veränderlichen Niederschlüge wohnen. Und zum andern: wenn der reine In¬
dustriestaat wirklich das Ende der Entwicklung aller Staaten wäre, so würden


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[0230] Internationale Wirtschaftspolitik zufloß, bezahlt wurden, so ist die Bezeichnung nicht unpassend. Die Namen der folgenden Stufen bedürfen keiner Rechtfertigung oder Erklärung: Merkan¬ tilismus (sechzehntes, siebzehntes und die größere erste Hülste des achtzehnten Jahrhunders; Kobatsch schreibt merkwürdigerweise: 15./16. Jahrhundert; eher könnte man auch die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und noch ein Stück vom neunzehnten dazu rechnen); Liberalismus als Reaktion dagegen (seine ersten Theoretiker schreiben freilich in der Mitte des achtzehnten Jahr¬ hunderts, aber seine Praxis beginnt erst viel später — in England 1846 —, und niemals ist er in allen Kulturstaaten zur unumschränkten Herrschaft ge¬ langt); Nationalismus oder nationaler Protektionismus als Reaktion gegen den Freihandel (beginnend um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, schreibt der Verfasser; eigentlich doch erst 1878); Kontinentalismus und (englischer) Imperialismus als Erweiterung des Nationalismus, und endlich als Endziel der Entwicklung, das zum Teil schon verwirklicht ist, der Internationalismus, der sich zugleich als Reaktion gegen die vorhergehenden und zurzeit noch herrschenden Systeme regt. Sehr richtig bemerkt der Verfasser in Beziehung auf die Entwicklung der Nationalwirtschaften (was dann mutatis inuwnäis auch für die Weltwirtschaft gilt): „Wenn auch ein Staat, eine Nationalwirtschaft auf die höhere Stufe emporrückt, so wird der Charakter der frühern Stufe nicht sofort, und völlig vielleicht erst sehr spät, abgestreift; der Guß der neuen Form gelingt nicht fehlerlos, es bleiben Gräte, die erst nachher abgefeilt werden müssen. Im Industriestaat zum Beispiel werden noch lange agrarstaatliche Allüren bei¬ behalten; daraus erklären sich die innerpolitischen Gegensätze in Beziehung auf den Außenhandel, und daher kommt es auch, daß, nachdem Industrie und Handel schon lange die Führung im Wirtschaftsleben übernommen haben, die Wirtschaftspolitik und oft auch die allgemeine Politik noch agrarischen Einschlag zeigt." Abgesehn von dem unpassenden „Guß" jedoch, einem Bilde, das aus der wirklich allein berechtigten biologischen Betrachtungsweise heraus¬ fällt, ist hierzu zweierlei zu bemerken. Der reine Industrie- und Handelsstaat ist zwar in England als vorläufig letzte Stufe erreicht, aber diese letzte Stufe als eine höhere oder höchste Stufe anzusehn, können wir uns aus bekannten Gründen nicht entschließen. Die Engländer selbst sehn sie nicht dafür an und mühen sich mit vergeblichen Experimenten ab, den untergegangnen Bauernstand wiederherzustellen. Unser Ideal ist der Listsche Agrikultur-Jndustrie-Handels- staat, und wir sprechen nicht von agmrstaatlichen Allüren in einem Staate, der sich einer blühenden Industrie erfreut, sondern von dem berechtigten Interesse der Landwirtschaft in ihm, das freilich häufige Konflikte zwischen ihr und der Industrie erzeugen muß, sodaß diese Konflikte eine ebenso dauernde und un¬ vermeidliche Lebenserscheinung im vollkommnen Kulturstaate bleiben müssen wie der Schnupfen im leiblichen Organismus der Menschen, die in der Zone der veränderlichen Niederschlüge wohnen. Und zum andern: wenn der reine In¬ dustriestaat wirklich das Ende der Entwicklung aller Staaten wäre, so würden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/230>, abgerufen am 22.07.2024.