Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die viiietasage

sogenannten Streckelsberges steht und auf das Meer hinausblickt, erkennt
in einiger Entfernung bei ruhiger See an der Färbung des Wassers und, bei
niedrigem Wasserstand, auch an gewissen Brandnngserscheinungen das Vor¬
handensein eines großen Riffs mit steinigem Grunde. Es ist das alte
"Damerower Riff", heute auch oft "Vinetariff" genannt, denn hier soll die
alte, berühmte Handelsstadt gestanden haben.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Überlieferung von der untergegangnen
Stadt, die ein uraltes Handelsemporium an der Ostsee gewesen sein sollte,
auch den Historiker beschäftigen mußte. Über die Frage, ob es wirklich ein
Vineta gegeben habe, sind zahlreiche und scharfsinnige Untersuchungen angestellt
worden, aber es ist wenig davon in weitere Kreise gedrungen. So kommt es
wohl, daß die meisten, die Auskunft über den geschichtlichen Untergrund der
anziehenden Sage suchen, recht unbefriedigende Antworten erhalten. Am be¬
quemsten machen es sich die Erklärer, die einfach behaupten, Vineta sei nichts
andres gewesen als die heutige Stadt Wollin, die zur Wendenzeit eine an¬
gesehene Handelsstadt war und später schnell ihre Bedeutung einbüßte; alles
andre sei sagenhafte Ausschmückung. Andern Erklürern schlug doch wohl das
Gewissen bei der Vorstellung, daß eine gar nicht am Meere gelegne Stadt
durch die Sage zu einem Seehandelsplatz umgestaltet und im Meere versunken
sein sollte, obwohl sie noch heute als freundliches, kleines Provinzstädtchen
ganz vergnügt und wohlbehalten auf festem Grunde steht. Sie fanden die
Lösung darin, daß es zwei wendische Handelsstädte gegeben habe, Julin und
Vineta. Die eine sei das heutige Wollin, die andre sei eben verschwunden,
und es sei schon möglich, daß sie den Meereswogen zum Opfer gefallen sei.
Rechte Klarheit schaffen diese Deutungen nicht, und merkwürdigerweise scheinen
sie auch auf andre Erklärungsversuche abgefärbt zu haben, die sich auf die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen genauer stützen, denn auch in
diesen finden sich auffallende Unklarheiten und Verwechslungen.

Und doch gibt es eine wissenschaftliche Arbeit, die das Rätsel von Vineta,
soweit seine geschichtlichen Grundlagen in Betracht kommen, so gut wie ein¬
wandfrei löst. Dabei ist diese Arbeit schon etwa siebzig Jahre alt. Ich meine
die ausgezeichnete Darstellung des Greifswalder Historikers Friedrich Wilhelm
Barthold in seiner Geschichte von Pommern und Rügen. Wenn Barthold
damals nicht recht durchdrang, so ist es wohl erklärlich. Die nüchterne, kritische
Schärfe des Forschers erweckte in jener der Romantik geneigten Zeit den
leidenschaftlichen Widerspruch derer, die an den überlieferten Vorstellungen mit
ganzem Herzen hingen und sich den vermeintlichen historischen Kern der hei¬
mischen Sagenwelt nicht rauben lassen wollten. Durch den künstlichen Nebel,
der durch den damaligen Streit um die Frage wiederum über das Vineta-
problem ausgebreitet worden ist, sind dann auch die folgenden Generationen
etwas beirrt worden. Die Untersuchungen Bartholds sind aber so sehr im
Geiste der modernen Geschichtsforschung gehalten, daß es sich wohl verlohnt,


Die viiietasage

sogenannten Streckelsberges steht und auf das Meer hinausblickt, erkennt
in einiger Entfernung bei ruhiger See an der Färbung des Wassers und, bei
niedrigem Wasserstand, auch an gewissen Brandnngserscheinungen das Vor¬
handensein eines großen Riffs mit steinigem Grunde. Es ist das alte
„Damerower Riff", heute auch oft „Vinetariff" genannt, denn hier soll die
alte, berühmte Handelsstadt gestanden haben.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Überlieferung von der untergegangnen
Stadt, die ein uraltes Handelsemporium an der Ostsee gewesen sein sollte,
auch den Historiker beschäftigen mußte. Über die Frage, ob es wirklich ein
Vineta gegeben habe, sind zahlreiche und scharfsinnige Untersuchungen angestellt
worden, aber es ist wenig davon in weitere Kreise gedrungen. So kommt es
wohl, daß die meisten, die Auskunft über den geschichtlichen Untergrund der
anziehenden Sage suchen, recht unbefriedigende Antworten erhalten. Am be¬
quemsten machen es sich die Erklärer, die einfach behaupten, Vineta sei nichts
andres gewesen als die heutige Stadt Wollin, die zur Wendenzeit eine an¬
gesehene Handelsstadt war und später schnell ihre Bedeutung einbüßte; alles
andre sei sagenhafte Ausschmückung. Andern Erklürern schlug doch wohl das
Gewissen bei der Vorstellung, daß eine gar nicht am Meere gelegne Stadt
durch die Sage zu einem Seehandelsplatz umgestaltet und im Meere versunken
sein sollte, obwohl sie noch heute als freundliches, kleines Provinzstädtchen
ganz vergnügt und wohlbehalten auf festem Grunde steht. Sie fanden die
Lösung darin, daß es zwei wendische Handelsstädte gegeben habe, Julin und
Vineta. Die eine sei das heutige Wollin, die andre sei eben verschwunden,
und es sei schon möglich, daß sie den Meereswogen zum Opfer gefallen sei.
Rechte Klarheit schaffen diese Deutungen nicht, und merkwürdigerweise scheinen
sie auch auf andre Erklärungsversuche abgefärbt zu haben, die sich auf die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen genauer stützen, denn auch in
diesen finden sich auffallende Unklarheiten und Verwechslungen.

Und doch gibt es eine wissenschaftliche Arbeit, die das Rätsel von Vineta,
soweit seine geschichtlichen Grundlagen in Betracht kommen, so gut wie ein¬
wandfrei löst. Dabei ist diese Arbeit schon etwa siebzig Jahre alt. Ich meine
die ausgezeichnete Darstellung des Greifswalder Historikers Friedrich Wilhelm
Barthold in seiner Geschichte von Pommern und Rügen. Wenn Barthold
damals nicht recht durchdrang, so ist es wohl erklärlich. Die nüchterne, kritische
Schärfe des Forschers erweckte in jener der Romantik geneigten Zeit den
leidenschaftlichen Widerspruch derer, die an den überlieferten Vorstellungen mit
ganzem Herzen hingen und sich den vermeintlichen historischen Kern der hei¬
mischen Sagenwelt nicht rauben lassen wollten. Durch den künstlichen Nebel,
der durch den damaligen Streit um die Frage wiederum über das Vineta-
problem ausgebreitet worden ist, sind dann auch die folgenden Generationen
etwas beirrt worden. Die Untersuchungen Bartholds sind aber so sehr im
Geiste der modernen Geschichtsforschung gehalten, daß es sich wohl verlohnt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0023" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311104"/>
            <fw type="header" place="top"> Die viiietasage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_45" prev="#ID_44"> sogenannten Streckelsberges steht und auf das Meer hinausblickt, erkennt<lb/>
in einiger Entfernung bei ruhiger See an der Färbung des Wassers und, bei<lb/>
niedrigem Wasserstand, auch an gewissen Brandnngserscheinungen das Vor¬<lb/>
handensein eines großen Riffs mit steinigem Grunde. Es ist das alte<lb/>
&#x201E;Damerower Riff", heute auch oft &#x201E;Vinetariff" genannt, denn hier soll die<lb/>
alte, berühmte Handelsstadt gestanden haben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_46"> Es konnte nicht ausbleiben, daß die Überlieferung von der untergegangnen<lb/>
Stadt, die ein uraltes Handelsemporium an der Ostsee gewesen sein sollte,<lb/>
auch den Historiker beschäftigen mußte.  Über die Frage, ob es wirklich ein<lb/>
Vineta gegeben habe, sind zahlreiche und scharfsinnige Untersuchungen angestellt<lb/>
worden, aber es ist wenig davon in weitere Kreise gedrungen. So kommt es<lb/>
wohl, daß die meisten, die Auskunft über den geschichtlichen Untergrund der<lb/>
anziehenden Sage suchen, recht unbefriedigende Antworten erhalten.  Am be¬<lb/>
quemsten machen es sich die Erklärer, die einfach behaupten, Vineta sei nichts<lb/>
andres gewesen als die heutige Stadt Wollin, die zur Wendenzeit eine an¬<lb/>
gesehene Handelsstadt war und später schnell ihre Bedeutung einbüßte; alles<lb/>
andre sei sagenhafte Ausschmückung. Andern Erklürern schlug doch wohl das<lb/>
Gewissen bei der Vorstellung, daß eine gar nicht am Meere gelegne Stadt<lb/>
durch die Sage zu einem Seehandelsplatz umgestaltet und im Meere versunken<lb/>
sein sollte, obwohl sie noch heute als freundliches, kleines Provinzstädtchen<lb/>
ganz vergnügt und wohlbehalten auf festem Grunde steht.  Sie fanden die<lb/>
Lösung darin, daß es zwei wendische Handelsstädte gegeben habe, Julin und<lb/>
Vineta.  Die eine sei das heutige Wollin, die andre sei eben verschwunden,<lb/>
und es sei schon möglich, daß sie den Meereswogen zum Opfer gefallen sei.<lb/>
Rechte Klarheit schaffen diese Deutungen nicht, und merkwürdigerweise scheinen<lb/>
sie auch auf andre Erklärungsversuche abgefärbt zu haben, die sich auf die<lb/>
Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen genauer stützen, denn auch in<lb/>
diesen finden sich auffallende Unklarheiten und Verwechslungen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_47" next="#ID_48"> Und doch gibt es eine wissenschaftliche Arbeit, die das Rätsel von Vineta,<lb/>
soweit seine geschichtlichen Grundlagen in Betracht kommen, so gut wie ein¬<lb/>
wandfrei löst. Dabei ist diese Arbeit schon etwa siebzig Jahre alt. Ich meine<lb/>
die ausgezeichnete Darstellung des Greifswalder Historikers Friedrich Wilhelm<lb/>
Barthold in seiner Geschichte von Pommern und Rügen.  Wenn Barthold<lb/>
damals nicht recht durchdrang, so ist es wohl erklärlich. Die nüchterne, kritische<lb/>
Schärfe des Forschers erweckte in jener der Romantik geneigten Zeit den<lb/>
leidenschaftlichen Widerspruch derer, die an den überlieferten Vorstellungen mit<lb/>
ganzem Herzen hingen und sich den vermeintlichen historischen Kern der hei¬<lb/>
mischen Sagenwelt nicht rauben lassen wollten. Durch den künstlichen Nebel,<lb/>
der durch den damaligen Streit um die Frage wiederum über das Vineta-<lb/>
problem ausgebreitet worden ist, sind dann auch die folgenden Generationen<lb/>
etwas beirrt worden.  Die Untersuchungen Bartholds sind aber so sehr im<lb/>
Geiste der modernen Geschichtsforschung gehalten, daß es sich wohl verlohnt,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0023] Die viiietasage sogenannten Streckelsberges steht und auf das Meer hinausblickt, erkennt in einiger Entfernung bei ruhiger See an der Färbung des Wassers und, bei niedrigem Wasserstand, auch an gewissen Brandnngserscheinungen das Vor¬ handensein eines großen Riffs mit steinigem Grunde. Es ist das alte „Damerower Riff", heute auch oft „Vinetariff" genannt, denn hier soll die alte, berühmte Handelsstadt gestanden haben. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Überlieferung von der untergegangnen Stadt, die ein uraltes Handelsemporium an der Ostsee gewesen sein sollte, auch den Historiker beschäftigen mußte. Über die Frage, ob es wirklich ein Vineta gegeben habe, sind zahlreiche und scharfsinnige Untersuchungen angestellt worden, aber es ist wenig davon in weitere Kreise gedrungen. So kommt es wohl, daß die meisten, die Auskunft über den geschichtlichen Untergrund der anziehenden Sage suchen, recht unbefriedigende Antworten erhalten. Am be¬ quemsten machen es sich die Erklärer, die einfach behaupten, Vineta sei nichts andres gewesen als die heutige Stadt Wollin, die zur Wendenzeit eine an¬ gesehene Handelsstadt war und später schnell ihre Bedeutung einbüßte; alles andre sei sagenhafte Ausschmückung. Andern Erklürern schlug doch wohl das Gewissen bei der Vorstellung, daß eine gar nicht am Meere gelegne Stadt durch die Sage zu einem Seehandelsplatz umgestaltet und im Meere versunken sein sollte, obwohl sie noch heute als freundliches, kleines Provinzstädtchen ganz vergnügt und wohlbehalten auf festem Grunde steht. Sie fanden die Lösung darin, daß es zwei wendische Handelsstädte gegeben habe, Julin und Vineta. Die eine sei das heutige Wollin, die andre sei eben verschwunden, und es sei schon möglich, daß sie den Meereswogen zum Opfer gefallen sei. Rechte Klarheit schaffen diese Deutungen nicht, und merkwürdigerweise scheinen sie auch auf andre Erklärungsversuche abgefärbt zu haben, die sich auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen genauer stützen, denn auch in diesen finden sich auffallende Unklarheiten und Verwechslungen. Und doch gibt es eine wissenschaftliche Arbeit, die das Rätsel von Vineta, soweit seine geschichtlichen Grundlagen in Betracht kommen, so gut wie ein¬ wandfrei löst. Dabei ist diese Arbeit schon etwa siebzig Jahre alt. Ich meine die ausgezeichnete Darstellung des Greifswalder Historikers Friedrich Wilhelm Barthold in seiner Geschichte von Pommern und Rügen. Wenn Barthold damals nicht recht durchdrang, so ist es wohl erklärlich. Die nüchterne, kritische Schärfe des Forschers erweckte in jener der Romantik geneigten Zeit den leidenschaftlichen Widerspruch derer, die an den überlieferten Vorstellungen mit ganzem Herzen hingen und sich den vermeintlichen historischen Kern der hei¬ mischen Sagenwelt nicht rauben lassen wollten. Durch den künstlichen Nebel, der durch den damaligen Streit um die Frage wiederum über das Vineta- problem ausgebreitet worden ist, sind dann auch die folgenden Generationen etwas beirrt worden. Die Untersuchungen Bartholds sind aber so sehr im Geiste der modernen Geschichtsforschung gehalten, daß es sich wohl verlohnt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/23
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/23>, abgerufen am 22.07.2024.