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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinetasage

daran zu erinnern. Denn bei der Reichhaltigkeit der historischen Literatur von
heute wird der Kreis derer, die sich noch aus einem alten SpezialWerk, wie
Bartholds pommerscher Geschichte, unmittelbar unterrichten, verhältnismäßig
beschränkt sein. Gerade die Darstellung der Vinetafrage verdient aber auch
eine Beachtung weiterer Kreise, weil wir dabei die überraschende Entdeckung
machen, daß wir die Entstehung dieser Sage, sozusagen, an der Hand geschicht¬
licher Dokumente verfolgen und kontrollieren können -- ein Fall, der sich
sonst wohl nicht leicht finden wird. So gewinnt die Sache eine allgemeine
Bedeutung für die Sagenforschung.

Allerdings läuft dabei eine gewisse Einseitigkeit unter. Man darf die
Frage nicht ausschließlich vom Standpunkte des kritischen Urkundenforschers
betrachten. So einfach entwickelt sich eine Sage niemals, daß sie aus der
willkürlichen Ausschmückung geschichtlicher Vorgänge allein hervorwüchse. Viel¬
mehr bewegt sich diese ausschmückende und umgestaltende Tendenz in ganz be¬
stimmten Vorstellnngsbahnen, die ohne geschichtliche Unterlagen lediglich durch
die dichtende Volksphantasie geschaffen worden sind. Erst aus dieser Durch¬
dringung geschichtlicher Überlieferungen mit Gebilden der reinen, schöpferischen
Volksphantasie entsteht die echte Sage. Nur so wird man auch die Vineta¬
sage verstehn können.

Der grübelnde Verstand des schlichten, einfachen Menschen kann es nicht
fassen, daß auch das Elend und die UnVollkommenheit der Welt aus der Hand
eines gütige" Schöpfers hervorgegangen sein soll. Nur eine Möglichkeit scheint
die Erklärung zu geben: der Schöpfer hat alles gut geschaffen, aber Vorwitz,
Übermut und Ungehorsam der Menschenkinder haben das Unheil als Strafe
des Himmels herbeigeführt. Das ist die Vorstellung von dem Verlornen Para¬
diese, von dem dahingeschwundnen goldnen Zeitalter. Tief senkte sich diese
Vorstellung in die Seelen der kämpfenden und leidenden Menschheit unter den
verschiedensten Himmelsstrichen und in den verschiedensten Zeiten. Sie ver¬
breitete sich als beherrschendes Moment auf einen weitern Gedankenkreis, der
für das Übel dieser Welt und die zerstörenden Gewalten in der Natur eine
Erklärung und einen Trost suchte und beides in dem Walten einer höhern
Gerechtigkeit fand, die in der Vernichtung einstiger Herrlichkeit den Übermut
leichtfertig genossenen Glücks strafte. Wo sich der Mensch ohnmächtig den
Schrecknissen mächtiger Naturkräfte gegenüber sah, da schuf seine Phantasie
dichtend die Motive für den göttlichen Zorn und wob auf diesem Wege eine
sittliche Idee hinein, die nicht selten zu einer gewaltigen Tragödie erwuchs.
Es war gewiß ursprünglich nur ein kecker Scherz, der einer in Schnee und
Eis in schauriger Einsamkeit starrenden Bergmasse mitten im Berner Hoch¬
gebirge den Namen Blümelisalp schuf. Aber die dichtende Volksphantasie be¬
mächtigte sich des Wortes, das einen ihrer Lieblingsgedanken anregte, und
nun zauberte sie die Eiswüste in einen ehemaligen Blumengarten um, der
voll Glanz und Reichtum war, bis ein schwerer Frevel den Fluch des Himmels


Die vinetasage

daran zu erinnern. Denn bei der Reichhaltigkeit der historischen Literatur von
heute wird der Kreis derer, die sich noch aus einem alten SpezialWerk, wie
Bartholds pommerscher Geschichte, unmittelbar unterrichten, verhältnismäßig
beschränkt sein. Gerade die Darstellung der Vinetafrage verdient aber auch
eine Beachtung weiterer Kreise, weil wir dabei die überraschende Entdeckung
machen, daß wir die Entstehung dieser Sage, sozusagen, an der Hand geschicht¬
licher Dokumente verfolgen und kontrollieren können — ein Fall, der sich
sonst wohl nicht leicht finden wird. So gewinnt die Sache eine allgemeine
Bedeutung für die Sagenforschung.

Allerdings läuft dabei eine gewisse Einseitigkeit unter. Man darf die
Frage nicht ausschließlich vom Standpunkte des kritischen Urkundenforschers
betrachten. So einfach entwickelt sich eine Sage niemals, daß sie aus der
willkürlichen Ausschmückung geschichtlicher Vorgänge allein hervorwüchse. Viel¬
mehr bewegt sich diese ausschmückende und umgestaltende Tendenz in ganz be¬
stimmten Vorstellnngsbahnen, die ohne geschichtliche Unterlagen lediglich durch
die dichtende Volksphantasie geschaffen worden sind. Erst aus dieser Durch¬
dringung geschichtlicher Überlieferungen mit Gebilden der reinen, schöpferischen
Volksphantasie entsteht die echte Sage. Nur so wird man auch die Vineta¬
sage verstehn können.

Der grübelnde Verstand des schlichten, einfachen Menschen kann es nicht
fassen, daß auch das Elend und die UnVollkommenheit der Welt aus der Hand
eines gütige» Schöpfers hervorgegangen sein soll. Nur eine Möglichkeit scheint
die Erklärung zu geben: der Schöpfer hat alles gut geschaffen, aber Vorwitz,
Übermut und Ungehorsam der Menschenkinder haben das Unheil als Strafe
des Himmels herbeigeführt. Das ist die Vorstellung von dem Verlornen Para¬
diese, von dem dahingeschwundnen goldnen Zeitalter. Tief senkte sich diese
Vorstellung in die Seelen der kämpfenden und leidenden Menschheit unter den
verschiedensten Himmelsstrichen und in den verschiedensten Zeiten. Sie ver¬
breitete sich als beherrschendes Moment auf einen weitern Gedankenkreis, der
für das Übel dieser Welt und die zerstörenden Gewalten in der Natur eine
Erklärung und einen Trost suchte und beides in dem Walten einer höhern
Gerechtigkeit fand, die in der Vernichtung einstiger Herrlichkeit den Übermut
leichtfertig genossenen Glücks strafte. Wo sich der Mensch ohnmächtig den
Schrecknissen mächtiger Naturkräfte gegenüber sah, da schuf seine Phantasie
dichtend die Motive für den göttlichen Zorn und wob auf diesem Wege eine
sittliche Idee hinein, die nicht selten zu einer gewaltigen Tragödie erwuchs.
Es war gewiß ursprünglich nur ein kecker Scherz, der einer in Schnee und
Eis in schauriger Einsamkeit starrenden Bergmasse mitten im Berner Hoch¬
gebirge den Namen Blümelisalp schuf. Aber die dichtende Volksphantasie be¬
mächtigte sich des Wortes, das einen ihrer Lieblingsgedanken anregte, und
nun zauberte sie die Eiswüste in einen ehemaligen Blumengarten um, der
voll Glanz und Reichtum war, bis ein schwerer Frevel den Fluch des Himmels


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[0024] Die vinetasage daran zu erinnern. Denn bei der Reichhaltigkeit der historischen Literatur von heute wird der Kreis derer, die sich noch aus einem alten SpezialWerk, wie Bartholds pommerscher Geschichte, unmittelbar unterrichten, verhältnismäßig beschränkt sein. Gerade die Darstellung der Vinetafrage verdient aber auch eine Beachtung weiterer Kreise, weil wir dabei die überraschende Entdeckung machen, daß wir die Entstehung dieser Sage, sozusagen, an der Hand geschicht¬ licher Dokumente verfolgen und kontrollieren können — ein Fall, der sich sonst wohl nicht leicht finden wird. So gewinnt die Sache eine allgemeine Bedeutung für die Sagenforschung. Allerdings läuft dabei eine gewisse Einseitigkeit unter. Man darf die Frage nicht ausschließlich vom Standpunkte des kritischen Urkundenforschers betrachten. So einfach entwickelt sich eine Sage niemals, daß sie aus der willkürlichen Ausschmückung geschichtlicher Vorgänge allein hervorwüchse. Viel¬ mehr bewegt sich diese ausschmückende und umgestaltende Tendenz in ganz be¬ stimmten Vorstellnngsbahnen, die ohne geschichtliche Unterlagen lediglich durch die dichtende Volksphantasie geschaffen worden sind. Erst aus dieser Durch¬ dringung geschichtlicher Überlieferungen mit Gebilden der reinen, schöpferischen Volksphantasie entsteht die echte Sage. Nur so wird man auch die Vineta¬ sage verstehn können. Der grübelnde Verstand des schlichten, einfachen Menschen kann es nicht fassen, daß auch das Elend und die UnVollkommenheit der Welt aus der Hand eines gütige» Schöpfers hervorgegangen sein soll. Nur eine Möglichkeit scheint die Erklärung zu geben: der Schöpfer hat alles gut geschaffen, aber Vorwitz, Übermut und Ungehorsam der Menschenkinder haben das Unheil als Strafe des Himmels herbeigeführt. Das ist die Vorstellung von dem Verlornen Para¬ diese, von dem dahingeschwundnen goldnen Zeitalter. Tief senkte sich diese Vorstellung in die Seelen der kämpfenden und leidenden Menschheit unter den verschiedensten Himmelsstrichen und in den verschiedensten Zeiten. Sie ver¬ breitete sich als beherrschendes Moment auf einen weitern Gedankenkreis, der für das Übel dieser Welt und die zerstörenden Gewalten in der Natur eine Erklärung und einen Trost suchte und beides in dem Walten einer höhern Gerechtigkeit fand, die in der Vernichtung einstiger Herrlichkeit den Übermut leichtfertig genossenen Glücks strafte. Wo sich der Mensch ohnmächtig den Schrecknissen mächtiger Naturkräfte gegenüber sah, da schuf seine Phantasie dichtend die Motive für den göttlichen Zorn und wob auf diesem Wege eine sittliche Idee hinein, die nicht selten zu einer gewaltigen Tragödie erwuchs. Es war gewiß ursprünglich nur ein kecker Scherz, der einer in Schnee und Eis in schauriger Einsamkeit starrenden Bergmasse mitten im Berner Hoch¬ gebirge den Namen Blümelisalp schuf. Aber die dichtende Volksphantasie be¬ mächtigte sich des Wortes, das einen ihrer Lieblingsgedanken anregte, und nun zauberte sie die Eiswüste in einen ehemaligen Blumengarten um, der voll Glanz und Reichtum war, bis ein schwerer Frevel den Fluch des Himmels

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/24>, abgerufen am 24.08.2024.