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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Sozialdemnkratische Agitation und Landbevölkerung

verfallen soll, der zivilisierten. Aber heute, wo die Lehre, daß der Mensch
"sich ausleben", seinen Naturtrieben rückhaltlos folgen solle, aus den Kreisen
unverantwortlicher PseudoPhilosophen immer weiter dringt und schon die ge¬
bildete Jugend angefressen hat, wo auch die Ehe nicht mehr für heilig gilt,
sondern durch "freiere" Formen ersetzt werden soll, wo der bisher festgehaltn?
rechtliche Unterschied der Geschlechter im Namen der Gleichberechtigung grund-
verschiedner Menschenwesen möglichst aufgehoben werden soll, da dürfen solche
Erscheinungen, wie sie bei jenem widerwärtigen Prozeß ans Tageslicht getreten
sind, eigentlich nicht befremden. Es ist ähnlich wie vor hundert Jahren. Auch
damals waren die alten sittlich-religiösen Grundlagen erschüttert, es herrschte die
Lehre vom Alleinrechte des Individuums, dessen Interessen zugunsten der All¬
gemeinheit zu beschränken für inhuman galt; die Neigung zu feineren oder
gröberen Lebensgenuß und sittliche Leichtfertigkeit beherrschten weite Kreise, ein
langer Friede hatte den Wohlstand mächtig gehoben und den Gedanken, der
jeden Staat tragen muß, die Pflicht zur Aufopferung des persönlichen Interesses
für das Ganze beinahe zerstört. Damals mußte eine furchtbare Katastrophe
kommen, um unser Volk zu den einfachsten sittlichen Grundlagen zurückzuführen,
und das war nur möglich, weil sein Kern noch gesund war. Heute genießen
wir beinahe ebensolange den Frieden wie damals und sind reich geworden.
Möge keine Katastrophe nötig sein, um unser Volk auf dem weitern Hinabgleiten
" nach der schiefen Ebene zu bewahren, auf die man es zu drängen sucht.




Hozialdemokratische Agitation und Landbevölkerung

eit dem günstigen Ausfall der letzten Neichstagswahlen wiegt
man sich in zahlreichen politischen Kreisen in ein Sicherheits¬
gefühl, das bedenklich erscheint. Man glaubt, die Hauptarbeit in
der Bekämpfung sozialdemokratischer Ideen sei getan, man könne
sich nun andern politischen Arbeitsgebieten zuwenden. Das ist
ein großer Irrtum und ein gefährlicher dazu. Die Sozialdemokratie hat seit
den Januartagen 1907 offenbar nach zwei Seiten ihre Taktik geändert, um ihre
alte Zugkraft für die Massen wieder zu gewinnen. Sie läßt ihren internationalen
Charakter in der praktischen Agitation zurücktreten, sie heuchelt Patriotismus
und Ncitionalgefühl; sie hat ferner ihre Organisations- und Agitationsarbeit
sorgfältig revidiert. Als neues Mittel ist aufgenommen worden, die sozial-
demokratische Werbearbeit aufs platte Land hinaufzutragen. Wer nur einen
Blick in die sozialdemokratische Tagespresse der letzten Monate geworfen hat,
dem wird aufgefallen sein, wie ungleich häufiger als früher man sich mit der
Landbevölkerung beschäftigt; namentlich ist die Gesindeordnung unter dem


Sozialdemnkratische Agitation und Landbevölkerung

verfallen soll, der zivilisierten. Aber heute, wo die Lehre, daß der Mensch
„sich ausleben", seinen Naturtrieben rückhaltlos folgen solle, aus den Kreisen
unverantwortlicher PseudoPhilosophen immer weiter dringt und schon die ge¬
bildete Jugend angefressen hat, wo auch die Ehe nicht mehr für heilig gilt,
sondern durch „freiere" Formen ersetzt werden soll, wo der bisher festgehaltn?
rechtliche Unterschied der Geschlechter im Namen der Gleichberechtigung grund-
verschiedner Menschenwesen möglichst aufgehoben werden soll, da dürfen solche
Erscheinungen, wie sie bei jenem widerwärtigen Prozeß ans Tageslicht getreten
sind, eigentlich nicht befremden. Es ist ähnlich wie vor hundert Jahren. Auch
damals waren die alten sittlich-religiösen Grundlagen erschüttert, es herrschte die
Lehre vom Alleinrechte des Individuums, dessen Interessen zugunsten der All¬
gemeinheit zu beschränken für inhuman galt; die Neigung zu feineren oder
gröberen Lebensgenuß und sittliche Leichtfertigkeit beherrschten weite Kreise, ein
langer Friede hatte den Wohlstand mächtig gehoben und den Gedanken, der
jeden Staat tragen muß, die Pflicht zur Aufopferung des persönlichen Interesses
für das Ganze beinahe zerstört. Damals mußte eine furchtbare Katastrophe
kommen, um unser Volk zu den einfachsten sittlichen Grundlagen zurückzuführen,
und das war nur möglich, weil sein Kern noch gesund war. Heute genießen
wir beinahe ebensolange den Frieden wie damals und sind reich geworden.
Möge keine Katastrophe nötig sein, um unser Volk auf dem weitern Hinabgleiten
» nach der schiefen Ebene zu bewahren, auf die man es zu drängen sucht.




Hozialdemokratische Agitation und Landbevölkerung

eit dem günstigen Ausfall der letzten Neichstagswahlen wiegt
man sich in zahlreichen politischen Kreisen in ein Sicherheits¬
gefühl, das bedenklich erscheint. Man glaubt, die Hauptarbeit in
der Bekämpfung sozialdemokratischer Ideen sei getan, man könne
sich nun andern politischen Arbeitsgebieten zuwenden. Das ist
ein großer Irrtum und ein gefährlicher dazu. Die Sozialdemokratie hat seit
den Januartagen 1907 offenbar nach zwei Seiten ihre Taktik geändert, um ihre
alte Zugkraft für die Massen wieder zu gewinnen. Sie läßt ihren internationalen
Charakter in der praktischen Agitation zurücktreten, sie heuchelt Patriotismus
und Ncitionalgefühl; sie hat ferner ihre Organisations- und Agitationsarbeit
sorgfältig revidiert. Als neues Mittel ist aufgenommen worden, die sozial-
demokratische Werbearbeit aufs platte Land hinaufzutragen. Wer nur einen
Blick in die sozialdemokratische Tagespresse der letzten Monate geworfen hat,
dem wird aufgefallen sein, wie ungleich häufiger als früher man sich mit der
Landbevölkerung beschäftigt; namentlich ist die Gesindeordnung unter dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/16>, abgerufen am 22.07.2024.