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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Sehn Jahre deutscher Flottenentwicklung

und der Verantwortlicher Leitung Lauheit, dem Reichstag Knauserei vorzu¬
werfen, fordert es die Gerechtigkeit, die unvergänglichen Verdienste des Flotten¬
vereins rückhaltlos anzuerkennen. Sie dürfen ihn freilich nicht vor Kritik und
Abwehr schützen, wie seine Wortführer wahrlich auch nicht zaghaft in scharfen
Vorwürfen gegen Maßnahmen sind, die ihnen unzulänglich oder verkehrt scheinen.
Niemand hat das Recht, ihnen dabei den guten Glauben und die ehrliche
Überzeugung abzusprechen: sie handeln, wie ihr patriotisches Gewissen sie treibt.
Aber dasselbe Recht machen auch die geltend, die eine anders geartete Meinung
aussprechen.

Es ist ein seltsamer, auf die Dauer unhaltbarer Zustand, daß zwischen den
berufnen amtlichen Stellen, die pflichtgemäß die höchste Leistungsfähigkeit unsrer
Flotte erstreben müssen, und den eifrigsten Flottenfreunden, die mit Leib und
Seele der Sache dienen wollen, ein Zwiespalt eingerissen ist. der die Marine¬
verwaltung und den Reichstag zwingt, vor blindem Übereifer zu warnen, der
aber zugleich manche Führer des Flottenvereins verleitet, in leidenschaftlichen
Angriffen das Ansehen der Marinebehörden und des Reichstags herabzuwürdigen
und das Vertrauen des Volks auf unsre Flotte zu schmälern. Schon seit einigen
Jahren häufen sich die Vorwürfe: Unsre Flotte ist viel zu klein, mindestens ein
drittes Doppelgeschwader, lieber noch ein viertes -- das heißt also mit Flagg¬
schiffen und Materialreserve 57 oder 76 Linienschiffe mit den entsprechenden
Aufklärungsschiffen -- ist nötig. Ganz unzulänglich ist die Zahl und Größe
unsrer Auslandschiffe. Es wird viel zu langsam gebaut, mehr Linienschiffe
-- bisher 3, künftig 4 -- auf Stapel gelegt und diese rascher vollendet. Was
bisher an Neubauten geliefert worden ist, hat kaum einen Wert, und die alten
Schiffe, die noch mitgeschleppt werden, sind "schwimmende Särge". Die deutsche
Flotte sinkt von Jahr zu Jahr im Vergleich zu andern Mariner tiefer herab;
jetzt steht sie an vierter, bald an fünfter Stelle, sie muß aber zum mindesten
an dritter Stelle stehn, besser noch nur von England überragt sein. Das sind
so die sachlichen Angriffe, die dann reichlich mit persönlichen Ausfällen gegen
die Lauheit und Verdrossenheit der zuständigen amtlichen Behörden und des
Reichstags verbrämt werden.

Ungewollt haben derartige Treibereien freilich auch eine gute Wirkung.
Es ist noch frisch in der Erinnerung, welche Besorgnisse und Verdächtigungen
die ersten Anläufe, unsre Kriegsflotte zu einem wirksamen Instrument der natio¬
nalen Macht, im Sinne unsrer Verteidigung, zu gestalten, im Auslande,
namentlich in England, aber auch bei Frankreich und den Vereinigten Staaten
geweckt haben. Ist diese Mißgunst, sind diese Besorgnisse geschwunden oder doch
gemildert, so hat neben der loyalen Friedenspolitik Deutschlands auch die ruhige,
maßvolle Entwicklung unsrer Marine daran ein Verdienst, und diese wäre nie¬
mals so ins helle Licht gesetzt worden als durch den Gegensatz zu den Forderungen
des Flottenvereins. Aber was will das besagen gegen die Verwirrung der Be-


Grenzboten I 1908 16
Sehn Jahre deutscher Flottenentwicklung

und der Verantwortlicher Leitung Lauheit, dem Reichstag Knauserei vorzu¬
werfen, fordert es die Gerechtigkeit, die unvergänglichen Verdienste des Flotten¬
vereins rückhaltlos anzuerkennen. Sie dürfen ihn freilich nicht vor Kritik und
Abwehr schützen, wie seine Wortführer wahrlich auch nicht zaghaft in scharfen
Vorwürfen gegen Maßnahmen sind, die ihnen unzulänglich oder verkehrt scheinen.
Niemand hat das Recht, ihnen dabei den guten Glauben und die ehrliche
Überzeugung abzusprechen: sie handeln, wie ihr patriotisches Gewissen sie treibt.
Aber dasselbe Recht machen auch die geltend, die eine anders geartete Meinung
aussprechen.

Es ist ein seltsamer, auf die Dauer unhaltbarer Zustand, daß zwischen den
berufnen amtlichen Stellen, die pflichtgemäß die höchste Leistungsfähigkeit unsrer
Flotte erstreben müssen, und den eifrigsten Flottenfreunden, die mit Leib und
Seele der Sache dienen wollen, ein Zwiespalt eingerissen ist. der die Marine¬
verwaltung und den Reichstag zwingt, vor blindem Übereifer zu warnen, der
aber zugleich manche Führer des Flottenvereins verleitet, in leidenschaftlichen
Angriffen das Ansehen der Marinebehörden und des Reichstags herabzuwürdigen
und das Vertrauen des Volks auf unsre Flotte zu schmälern. Schon seit einigen
Jahren häufen sich die Vorwürfe: Unsre Flotte ist viel zu klein, mindestens ein
drittes Doppelgeschwader, lieber noch ein viertes — das heißt also mit Flagg¬
schiffen und Materialreserve 57 oder 76 Linienschiffe mit den entsprechenden
Aufklärungsschiffen — ist nötig. Ganz unzulänglich ist die Zahl und Größe
unsrer Auslandschiffe. Es wird viel zu langsam gebaut, mehr Linienschiffe
— bisher 3, künftig 4 — auf Stapel gelegt und diese rascher vollendet. Was
bisher an Neubauten geliefert worden ist, hat kaum einen Wert, und die alten
Schiffe, die noch mitgeschleppt werden, sind „schwimmende Särge". Die deutsche
Flotte sinkt von Jahr zu Jahr im Vergleich zu andern Mariner tiefer herab;
jetzt steht sie an vierter, bald an fünfter Stelle, sie muß aber zum mindesten
an dritter Stelle stehn, besser noch nur von England überragt sein. Das sind
so die sachlichen Angriffe, die dann reichlich mit persönlichen Ausfällen gegen
die Lauheit und Verdrossenheit der zuständigen amtlichen Behörden und des
Reichstags verbrämt werden.

Ungewollt haben derartige Treibereien freilich auch eine gute Wirkung.
Es ist noch frisch in der Erinnerung, welche Besorgnisse und Verdächtigungen
die ersten Anläufe, unsre Kriegsflotte zu einem wirksamen Instrument der natio¬
nalen Macht, im Sinne unsrer Verteidigung, zu gestalten, im Auslande,
namentlich in England, aber auch bei Frankreich und den Vereinigten Staaten
geweckt haben. Ist diese Mißgunst, sind diese Besorgnisse geschwunden oder doch
gemildert, so hat neben der loyalen Friedenspolitik Deutschlands auch die ruhige,
maßvolle Entwicklung unsrer Marine daran ein Verdienst, und diese wäre nie¬
mals so ins helle Licht gesetzt worden als durch den Gegensatz zu den Forderungen
des Flottenvereins. Aber was will das besagen gegen die Verwirrung der Be-


Grenzboten I 1908 16
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[0121] Sehn Jahre deutscher Flottenentwicklung und der Verantwortlicher Leitung Lauheit, dem Reichstag Knauserei vorzu¬ werfen, fordert es die Gerechtigkeit, die unvergänglichen Verdienste des Flotten¬ vereins rückhaltlos anzuerkennen. Sie dürfen ihn freilich nicht vor Kritik und Abwehr schützen, wie seine Wortführer wahrlich auch nicht zaghaft in scharfen Vorwürfen gegen Maßnahmen sind, die ihnen unzulänglich oder verkehrt scheinen. Niemand hat das Recht, ihnen dabei den guten Glauben und die ehrliche Überzeugung abzusprechen: sie handeln, wie ihr patriotisches Gewissen sie treibt. Aber dasselbe Recht machen auch die geltend, die eine anders geartete Meinung aussprechen. Es ist ein seltsamer, auf die Dauer unhaltbarer Zustand, daß zwischen den berufnen amtlichen Stellen, die pflichtgemäß die höchste Leistungsfähigkeit unsrer Flotte erstreben müssen, und den eifrigsten Flottenfreunden, die mit Leib und Seele der Sache dienen wollen, ein Zwiespalt eingerissen ist. der die Marine¬ verwaltung und den Reichstag zwingt, vor blindem Übereifer zu warnen, der aber zugleich manche Führer des Flottenvereins verleitet, in leidenschaftlichen Angriffen das Ansehen der Marinebehörden und des Reichstags herabzuwürdigen und das Vertrauen des Volks auf unsre Flotte zu schmälern. Schon seit einigen Jahren häufen sich die Vorwürfe: Unsre Flotte ist viel zu klein, mindestens ein drittes Doppelgeschwader, lieber noch ein viertes — das heißt also mit Flagg¬ schiffen und Materialreserve 57 oder 76 Linienschiffe mit den entsprechenden Aufklärungsschiffen — ist nötig. Ganz unzulänglich ist die Zahl und Größe unsrer Auslandschiffe. Es wird viel zu langsam gebaut, mehr Linienschiffe — bisher 3, künftig 4 — auf Stapel gelegt und diese rascher vollendet. Was bisher an Neubauten geliefert worden ist, hat kaum einen Wert, und die alten Schiffe, die noch mitgeschleppt werden, sind „schwimmende Särge". Die deutsche Flotte sinkt von Jahr zu Jahr im Vergleich zu andern Mariner tiefer herab; jetzt steht sie an vierter, bald an fünfter Stelle, sie muß aber zum mindesten an dritter Stelle stehn, besser noch nur von England überragt sein. Das sind so die sachlichen Angriffe, die dann reichlich mit persönlichen Ausfällen gegen die Lauheit und Verdrossenheit der zuständigen amtlichen Behörden und des Reichstags verbrämt werden. Ungewollt haben derartige Treibereien freilich auch eine gute Wirkung. Es ist noch frisch in der Erinnerung, welche Besorgnisse und Verdächtigungen die ersten Anläufe, unsre Kriegsflotte zu einem wirksamen Instrument der natio¬ nalen Macht, im Sinne unsrer Verteidigung, zu gestalten, im Auslande, namentlich in England, aber auch bei Frankreich und den Vereinigten Staaten geweckt haben. Ist diese Mißgunst, sind diese Besorgnisse geschwunden oder doch gemildert, so hat neben der loyalen Friedenspolitik Deutschlands auch die ruhige, maßvolle Entwicklung unsrer Marine daran ein Verdienst, und diese wäre nie¬ mals so ins helle Licht gesetzt worden als durch den Gegensatz zu den Forderungen des Flottenvereins. Aber was will das besagen gegen die Verwirrung der Be- Grenzboten I 1908 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/121>, abgerufen am 24.07.2024.